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Zum journalistischen Leitbild von t-online.US-Anruf nach Raketeneinschlag Russlands Top-General ging nicht ran
Eine Rakete schlägt auf Nato-Gebiet ein – und einer der höchsten US-Militärs versucht vergebens, seinen russischen Kollegen zu erreichen: Wie gefährlich ist das?
Es klingt wie die Story eines mittelmäßigen Katastrophenfilms: Am späten Nachmittag gibt es eine Explosion im polnisch-ukrainischen Grenzgebiet. In den darauffolgenden Stunden kristallisiert sich immer deutlicher heraus, dass hier eine Rakete aus Putins Krieg gegen die Ukraine eingeschlagen ist. Doch der US-Generalstabschef bekommt seinen russischen Kollegen einfach nicht ans Telefon. Er will reden, damit sie nicht bald aufeinander schießen müssen.
Doch was klingt wie ein Film, ist gar keiner. Es ist in dieser Woche zur Realität geworden.
Die Nachrichten am Dienstagabend europäischer Zeit sind ohnehin besorgniserregend. Hat Russland das Nato-Land Polen mit Raketen beschossen? Es wäre eine dramatische Eskalation, das Übergreifen des Kriegs auf den Westen: der Bündnisfall. Es ist das Szenario, vor dem alle seit Monaten warnen. Doch war es wirklich eine Rakete aus Russland?
Miteinander sprechen, statt nur übereinander
Informationen zu bekommen, ist das Gebot der Stunde an diesem Dienstagabend europäischer Zeit – und sechs Stunden zeitversetzt am Washingtoner Nachmittag. Das Allied Air Command, das vom pfälzischen Ramstein aus die Nato-Luftstreitkräfte führt, liefert unter Hochdruck Daten aus der Luftaufklärung. Die Geheimdienste tragen Informationen zusammen.
Doch miteinander sprechen kann in solchen Krisen besser sein, als nur übereinander zu sprechen. Also sagt US-Generalstabschef Mark Milley an der US-Ostküste seinem Stab, dass er mit dem russischen General Waleri Gerassimow telefonieren wolle, seinem Amtskollegen in Moskau. Dort geht es auf Mitternacht zu.
Während Milleys Leute ihn erfolgreich mit seinem ukrainischen Amtskollegen verbinden, mit dem polnischen Generalstabschef und weiteren hohen europäischen Militärs, tut sich in Moskau: nichts. Sie hätten "keinen Erfolg gehabt, mich in Verbindung zu bringen", erzählte Milley selbst am Mittwoch.
Es klang besorgniserregend, selbst wenn diesmal die Eskalation glücklicherweise trotzdem ausblieb. Doch wie entscheidend wäre Milleys Telefonat mit Russland gewesen?
Die Nummern hat man ausgetauscht
US-Generalstabschef Mark Milley ruft nicht jeden Tag in Moskau an, doch die Nummern sind bekannt: Am 19. Mai hatten die beiden mächtigen Männer sich am Ohr, erstmals seit Kriegsbeginn haben sie gesprochen. Öffentlich gemacht hatte das damals das russische Verteidigungsministerium. Die Initiative war von Washington ausgegangen, und etwas überraschend hatten die Russen zugestimmt.
Doch die Telefonleitung zwischen Milley und Gerassimov ist wohl nicht die wichtigste im aktuellen Konflikt um die Ukraine. Die US-Streitkräfte haben mehrere Nummern von russischen Militärs, die sie anrufen können, wenn sich die Lage in der Ukraine zuspitzt. Mittlerweile.
Bis zum 28. Februar, dem Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine, gab es solche direkten Verbindungen nicht mehr. Das gab an dem Tag John Kirby, Sprecher des US-Militärs, selbst zu: "Ich würde sagen, dass es derzeit keinen Konfliktlösungsmechanismus gibt." Eine Situation, die beide Seiten als Problem erkannten: Tags darauf, am 1. März, wurden Telefonnummern ausgetauscht. Russland habe sich gemeldet.
Kontakte laufen über Deutschland
Die Kontakte zu den Russen liegen in Deutschland. In den Patch Barracks, früher die Kurmärker Kaserne, im Stuttgarter Stadtteil Vaihingen hat das U.S. European Command seinen Sitz. Die US-Militärs dort und eine nicht bekannte russische Stelle sind autorisiert, miteinander zu sprechen, wenn es brenzlige Situationen gibt und sich vielleicht fatale Missverständnisse ausräumen lassen. "Es ist wirklich wichtig, dass wir keinen Unfall oder eine Fehleinschätzung riskieren", sagte ein US-Beamter dem US-Magazin "The Hill" zur Einrichtung dieser direkten Kanäle.
Schon deshalb ist es unwahrscheinlich, dass die USA am Dienstag komplett blind waren für die russische Sicht. Denn das Militär ist nicht auf das Gespräch zwischen den Generalstabschefs angewiesen. Ob es am Dienstagabend tatsächlich Kontakte zwischen den USA und Russland über den Stuttgarter Draht gab, hat das Europa-Kommando der US-Army auf Anfrage von t-online bisher nicht beantwortet.
In den Jahren zuvor hatte es wegen des Konflikts um die Krim und die Ostukraine schon einmal einen direkten militärischen Draht zwischen den USA und Russland gegeben. Doch der war irgendwann abgerissen. Ende April 2015 war die Verbindung nach einer Initiative des heutigen Bundespräsidenten und damaligen Außenministers Frank-Walter Steinmeier (SPD) eingerichtet worden, wie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" damals berichtete.
"Sowohl der Oberbefehlshaber für Europa als auch der Vorsitzende des Nato-Militärausschusses haben die Erlaubnis, sich mit ihren russischen Kollegen in Verbindung zu setzen", hieß es damals. Es war dem Bericht zufolge das erste Mal seit Ende des Kalten Krieges, dass ein solches "rotes Telefon" eingerichtet wurde.
Das sprichwörtliche "rote Telefon" gab es nie
Wobei es das sprichwörtliche "rote Telefon" für Telefonate zwischen Washington und Moskau eigentlich nie gab: Die Kommunikation im Kalten Krieg zwischen den Staatsspitzen lief nicht per Telefonat zwischen den Staatsspitzen, sondern über eine ständige Fernschreiberverbindung. Die USA schickten ihre Botschaften auf Englisch, die Russen schrieben Russisch, dann musste übersetzt werden. Die schriftliche Form sollte weitere Missverständnisse vermeiden, die bei einem Telefonat entstehen können.
Diese direkte Verbindung, eine dann auch später versehentlich mehrfach durchtrennte Leitung, wurde als Lehre aus der Kubakrise im Oktober 1962 eingerichtet. Da hatte die Welt am Rande eines Atomkriegs gestanden. Los ging es am 30. August mit der chiffriert versendeten Nachricht "THE QUICK BROWN FOX JUMPED OVER THE LAZY DOG'S BACK 1234567890", in der alle Buchstaben des englischen Alphabets sowie alle Ziffern enthalten sind. Die Russen antworteten mit einer poetischen Beschreibung eines Sonnenuntergangs in Moskau.
Allzu oft genutzt wurde das "rote Telefon" aber offenbar nicht: Der erste offizielle Einsatz war 1963 die Meldung nach Russland über den tödlichen Anschlag auf John F. Kennedy.
1967 war dann aber Robert McNamara, damaliger US-Verteidigungsminister, überrascht von einer Nachricht eines diensthabenden Generals: Der Sechs-Tage-Krieg in Israel war in der Nacht ausgebrochen, und um 8 Uhr morgens hatte der sowjetische Ministerpräsident Alexei Kossygin über die Fernbindung mitteilen lassen, dass er Präsident Lyndon B. Johnson sprechen wolle. McNamara sagte damals, er habe gar nicht gewusst, dass die Leitungen des Fernschreibers unter seinem Büro endeten.
Die Verbindung wurde demnach während des Krieges mehrmals verwendet. Später wurde sie durch ein Fax ersetzt. Zum 50. Geburtstag der Verbindung präsentierten die USA ein Räumchen, in dem auf dem obersten Fach eines Regals vor einem Wappenteller mit der Inschrift Washington-Moscow Communications Link ein russisches und ein amerikanisches Fähnchen stecken.
Im Fach darunter stehen vier Computerbildschirme. Fernschreiber und Fax haben ausgedient. Das rote Telefon ist jetzt eine E-Mail-Verbindung.
- time.com: U.S., Russia Open Hotline to Prevent Accidental Clash in Europe
- welt.de: Gegen 22 Uhr ruft Stoltenberg in Warschau an, um eine Vereinbarung zu treffen
- thehill.com: Milley tried to speak with Russian counterpart on Tuesday but was ‘unsuccessful’
- faz.net: Nato richtet direkten Draht zum russischen Militär ein
- cryptomuseum.com: Washington-Moscow Hotline