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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Zehn Tote im Supermarkt Die wirre Hetzschrift des Massenmörders von Buffalo
Ein 18-Jähriger tötet in einem US-Supermarkt zehn Menschen. Die Hetzschrift des Attentäters offenbart ein tieferliegendes Problem: Seine Verschwörungsideologien sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Es gibt keine Zweifel mehr an den rassistischen und antisemitischen Motiven des Attentäters von Buffalo, der am vergangenen Wochenende zehn Menschen in einem Supermarkt im US-Bundesstaat New York ermordete.
Der 18-Jährige richtete seine Todesdrohungen ausdrücklich an alle "Nicht-Weißen", zu denen er Schwarze ebenso zählt wie Juden und Muslime. Das geht aus einem 180 Seiten langen Dokument hervor, das der Täter anlässlich seines Attentats im Internet hochgeladen hatte. t-online hat es sich genauer angesehen.
Die wirre Hassschrift belegt nicht nur, wie tief verankert Payton S. Gendrons Rassismus, Antisemitismus und Glaube an Verschwörungsideologien ist. Der Inhalt zeigt deutlich, woher der Teenager seine Ansichten nimmt und wer seine mörderischen Idole sind. Einige der Grundlagen seiner Menschenverachtung finden sich dabei im Mainstream eines großen Teils der amerikanischen Medien.
Gendron skizziert in seinem umfangreichen Pamphlet unter anderem einen angeblichen Rassenkrieg, den er sich geradezu herbeisehnt. "Geht, solange ihr es noch könnt", droht er an einer Stelle unverhohlen; solange der "Weiße Mann" lebe, könnten sich alle anderen nicht mehr sicher sein. Auf zahlreichen Seiten bildet Gendron Hunderte von Journalisten und Journalistinnen sowie Politikerinnen und Politiker ab, die er als jüdisch und damit als seine Feinde ausgemacht hat.
Seine Hassschrift belegt einmal mehr, wie solche oftmals als "einsame Wölfe" beschriebenen Einzeltäter sehr wohl nach dem gleichen Stereotyp handeln: Indem sie einander nachahmen, einander motivieren und geradezu anfeuern, handeln sie durchaus gemeinsam, wenngleich nicht immer als klar definierte und organisierte Gruppe.
Vorbilder in Deutschland und Neuseeland
Nach eigenen Angaben war für Payton S. Gendron etwa der rassistische Attentäter von Christchurch in Neuseeland ein Vorbild. Brenton Tarrant, der im Jahr 2019 bestialisch 51 Menschen in zwei Moscheen ermordete, sei derjenige gewesen, der ihn "am meisten radikalisiert" habe, behauptet der 18-Jährige. Seinetwegen habe er überhaupt angefangen, zu "recherchieren". "Ohne seinen Livestream hätte ich wahrscheinlich keine Ahnung von den wirklichen Problemen", mit denen der Westen angeblich konfrontiert sei, so Gendron. Tarrant hatte seinen Massenmord damals live im Internet übertragen.
Aber auch den Anschlag auf die Synagoge in Halle im Jahr 2019 verfolgte Gendron offenbar mit Interesse und kopierte das Vorgehen des dortigen Täters. Denn auch der deutsche Rechtsextremist Stephan Balliet hatte seine Morde per Livestream im Internet auf der Plattform Twitch übertragen. Gendron schreibt, dass dieser Livestream rund "35 Minuten dauerte". Das habe ihm gezeigt, dass man auf der Plattform genügend Zeit habe, "um alles Wichtige festzuhalten", damit andere es sehen, herunterladen und verbreiten könnten. Seine einzige Sorge: Sein geplanter Livestream könnte zu früh gemeldet und entfernt werden.
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Das Internet als Trittbrett
Wie wichtig der Faktor Livestreaming für den Täter von Buffalo war, zeigt ein weiterer menschenverachtender Satz aus seinem bewusst verbreiteten Dokument: "Den Anschlag live zu streamen, gibt mir eine gewisse Motivation, weil ich weiß, dass mich einige Leute anfeuern werden", schreibt Gendron.
Tatsächlich wurde der Livestream bei seiner Tat nicht rechtzeitig entfernt. Die grauenvollen Morde an unschuldigen Menschen vor und in dem Supermarkt von Buffalo waren alle zu sehen und sind noch immer im Internet zu finden.
Die Helmkamera des Täters zeigt die Waffe von Gendron, die er mit rassistischen Beschimpfungen gegen Schwarze bekritzelt hat. Eiskalt drückt er ab. Zuerst erschießt er eine Frau und drei weitere Menschen vor dem Laden. Dann betritt er den Supermarkt. Einige Menschen ducken sich in Todesangst auf den Boden. Es ist dem Täter egal. Auf 13 Menschen schießt er, darunter elf Schwarze. Zehn von ihnen bringt er um, bevor Polizisten ihn stoppen können. Sich zu ergeben hatte Gendron seiner Schrift zufolge ebenfalls minutiös eingeplant.
Stolz prahlt der 18-Jährige außerdem seitenlang mit seinen Waffen, seiner Schutzausrüstung und seinen Vorbereitungen. Selbst einen Besuch bei McDonald's kurz vor dem Massenmord erwähnt er. Um sein Gewehr noch wirkungsvoller zu machen, nutzte er laut eigenen Aussagen unter anderem einen Bohrer seines Vaters. Gendron verweist auf zahlreiche YouTube-Videos, mit deren Hilfe er sich "fortgebildet" habe.
Das Dokument ist nicht nur eine ideologische Hetzschrift. Es bietet auch eine Anleitung für von ihm erwünschte Nachahmer in seinem herbeifantasierten Krieg.
Viele Amerikaner driften ab
In den USA ist seit dem Wochenende die Debatte um schärfere Waffengesetze wieder voll entbrannt. Aber auch die Verantwortung von Social-Media-Plattformen steht einmal mehr zur Diskussion. New Yorks Gouverneurin Kathy Hochul griff angesichts der hochgeladenen und abrufbaren Hassschrift des Täters die Internetplattformen an. Die betreffenden Webseiten bezeichnete sie als "Instrumente des Bösen". Sie fordere die CEOs aller Social-Media-Plattformen auf, ihre Richtlinien zu überprüfen. "Sie sollen mir in die Augen sehen und mir sagen, dass alles getan wird, um sicherzustellen, dass solche Informationen nicht verbreitet werden", sagte Hochul dem Sender "CNN".
Hinzu kommen heftige Anschuldigungen, inwieweit die von dem Buffalo-Täter erwähnten rassistischen und antisemitischen Verschwörungsideologien längst in breiten Schichten der amerikanischen Bevölkerung angekommen sind. Und wer politisch und medial dafür verantwortlich ist. Das Lager der Demokraten beschuldigt weite Teile der Republikanischen Partei und deren Lieblingsmedien.
Mehr als 60 Mal erwähnt Gendron in seinem Dokument etwa die Begriffe "replacement", "replace" oder "replacers", ein ideologischer Kampfbegriff rechtsextremer Gruppierungen, der in deutschen Kreisen unter anderem als der "große Bevölkerungsaustausch" bekannt ist. Dahinter steckt eine durchweg antisemitische Verschwörungsideologie, die in den USA etwa in dem größten Fernsehsender "Fox News" verbreitet wird.
Zwar erwähnt der Täter in seinen seitenlangen Auslassungen an keiner Stelle den "Fox News"-Moderator Tucker Carlson. Doch auch dieser Mann, dem in den USA Millionen Menschen zusehen, verbreitet diese antisemitischen Lügen. Etwa als Carlson im vergangenen September den Kurs von Joe Biden mit folgenden Worten beschrieb: "In politischer Hinsicht wird diese Politik als 'großer Austausch' bezeichnet – der Austausch alter Amerikaner durch gehorsamere Menschen aus fernen Ländern."
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Gegen das angebliche Mastermind hinter diesem behaupteten "Bevölkerungsaustausch" hetzt Carlson ebenfalls regelmäßig. Weiße Amerikaner auszutauschen, sei demnach das Ziel des aus Ungarn stammenden, jüdischen US-Investors George Soros, der einst den Holocaust überlebte, weil sein Vater ihn vor den Nazis verstecken konnte.
Von Tucker Carlson konnte man in einem eigens für "Fox News" produzierten Film über Soros Ende Januar folgenden Satz hören: "George Soros ist ein milliardenschwerer Devisenhändler, der Jahrzehnte damit verbracht hat, einen demografischen Krieg gegen den Westen zu führen."
Der Attentäter von Buffalo erwähnt in seinem Dokument George Soros ebenfalls. Und er ruft zu dessen Mord auf. Soros, der Milliardär, sei für "die Angriffe auf den Westen verantwortlich", schreibt Gendron. Weil dieser Finanzinvestor "radikale Linke" unterstütze, zerstöre er eine "weiße Kultur" und plane eine neue Weltordnung. Es klingt fast eins zu eins nach Tucker Carlson, beziehungsweise nach dessen Erzählung.
Große Symbolik, aber wenig Konsequenzen
Der US-Präsident hat anlässlich des rassistischen Mordanschlags kurzerhand seine Reisepläne geändert. Im Weißen Haus weiß man um die Gefahren, die der Anschlag auch für die ganze Gesellschaft birgt. Bevor Joe Biden am Donnerstag zu seiner Asienreise aufbrechen wird, fliegen er und seine Frau Jill deshalb an diesem Dienstag nach Buffalo, um den Angehörigen ihr Beileid auszusprechen und um der Ermordeten zu gedenken.
Bei ihrer ersten Pressekonferenz am Montag las Bidens neue Sprecherin Karine Jean-Pierre bereits alle Namen der Opfer von Buffalo vor. Doch welche Konsequenzen wird die Biden-Regierung aus diesem erneuten Massaker ziehen? Jean-Pierre blieb vorerst nicht viel mehr als zu sagen, der Präsident verurteile "white supremacy", also eine rassistische Ideologie, die eine "Überlegenheit der Weißen" propagiert.
Unterdessen wurde bekannt, dass der 18-jährige Täter bereits im März von einem Sicherheitsdienstmitarbeiter dabei beobachtet worden war, wie er den Supermarkt in Buffalo auskundschaftete. Den Anschlag muss Gendron also seit Monaten geplant haben. In seinem Dokument findet sich ein Grundriss des Supermarktes, auf dem er seine Laufwege genau eingezeichnet hat.
In der Schule soll er bereits durch verstörende Aktionen aufgefallen sein. Nachdem er während der Pandemie, mit einem Schutzanzug bekleidet, seine Klassenkameraden erschreckt hatte, soll er für anderthalb Tage in ein Krankenhaus eingewiesen worden sein, um seine psychische Gesundheit zu untersuchen. Gendron hatte in seiner Schule damit gedroht, Menschen zu töten und anschließend sich selbst. Warum der Teenager dann nicht weiter beobachtet worden ist, ist derzeit noch unklar. Nach der Tat ist er festgenommen und wegen Mordes angeklagt worden.
- Eigene Recherchen
- 180 seitiges Dokument des Attentäters