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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Belarussische Oppositionsführerin "Ich weiß, das wird schmerzhaft für die Deutschen"
Swetlana Tichanowskaja ist die demokratische Hoffnung für Belarus, Europas letzter Diktatur. Im Interview spricht sie über ihren Freiheitskampf, die Ukraine und darüber, was Olaf Scholz jetzt tun muss.
Als Swetlana Tichanowskaja in der George Washington University ans Rednerpult tritt, hält sie ein Klemmbrett in den Händen. Auf dessen Vorderseite ist eine Rede über den belarussischen Kampf für Demokratie. Auf der Rückseite ein schwarzweißes Foto ihres in Belarus inhaftierten Ehemannes Sergei Tichanowski. Beides treibt die 39-Jährige an, obwohl es auch sie selbst in Lebensgefahr bringt. Sie will Freiheit für ihr Volk und Freiheit für ihren Mann und den Vater ihrer beiden Kinder.
Die Sicherheitsvorkehrungen für Tichanowskaja gleichen denen eines echten Staatsoberhauptes. In der US-Hauptstadt wird sie von Ministern und den ranghöchsten Politikern empfangen. Tatsächlich darf Swetlana Tichanowskaja aber nicht ihr eigenes Land regieren, obwohl viele davon ausgehen, dass sie die Präsidentschaftswahl im Jahr 2020 gewonnen hat. Stattdessen muss sie aus ihrem Exil in Litauen mitansehen, wie der Diktator Alexander Lukaschenko den russischen Präsidenten Wladimir Putin im Krieg gegen die Ukraine unterstützt.
Im Interview mit t-online spricht Tichanowskaja als selbst erklärte rechtmäßige Vertreterin des belarussischen Volkes über ihren Kampf für die Demokratie und für die Ukraine, über ihren Dank, aber auch über ihre Erwartungen an Deutschland.
t-online: Frau Tichanowskaja, Sie waren mehrere Tage zu Besuch in Washington. Was hat sie hierher in die US-Hauptstadt gebracht?
Swetlana Tichanowskaja: Tatsächlich bin ich wegen der Trauerfeier für die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright gekommen. Seit meinem letzten Besuch hier hatten wir eine sehr herzliche und freundschaftliche Beziehung aufgebaut. Ich bekam eine persönliche Einladung ihrer Familie, was mir zeigt, dass es ihr Wunsch war, dass ich dabei bin.
War Madeleine Albright für Sie ein Vorbild?
Sie war eine beeindruckende Kämpferin für die Freiheit und eine ausgesprochene Feindin von Diktatoren auf der ganzen Welt. Sie hat meinem Land Belarus und unserem Kampf für die Demokratie viel Beachtung geschenkt. Dieser Kampf dauert an.
Und sie kämpfen ihn seit 2020. Was konnten Sie in den USA erreichen?
Ich hatte viele Einladungen, die ich sehr gerne wahrgenommen habe. US-Außenminister Antony Blinken und seine Stellvertreterin Wendy Sherman habe ich ebenso treffen können wie die Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, den Minderheitsführer im Senat, Mitch McConnell, und den Vorsitzenden des Außenausschusses, Bob Menendez. Es war mir aber auch wichtig, die hier lebenden Exil-Belarussen und einige Thinktanks zu besuchen.
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Weltweit werben Sie für die Unterstützung der Demokratiebewegung in Belarus. Können Sie Erfolge vermelden?
Jene, die uns unterstützen, ermöglichen es uns, weiterzumachen. Auch deshalb war ich in Washington. Gemeinsam mit der US-Regierung und anderen Politikern haben wir besprochen, was jetzt getan werden muss.
Worum ging es dabei?
Lukaschenko hat darauf gebaut, dass Putin seinen Blitzkrieg gewinnt. Darum hat er ihn unterstützt und wäre auf der sicheren Seite gewesen. Das ging aber gründlich schief. Jetzt versucht Lukaschenko, sich aus der Verantwortung zu stehlen, aus Angst vor den Konsequenzen. Lukaschenko gehört aber ebenso wie Putin auf die Liste von Kriegsverbrechern. Er soll sich vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag verantworten müssen. Es ging bei meinen Treffen deshalb auch darum, dass die USA ihre Ermittlungsbemühungen ausweiten. Amerika und seine Verbündeten dürfen jetzt nicht lockerlassen. Wir brauchen gegen das belarussische Regime ebenso harte Sanktionen wie gegen Putins Russland. Sie müssen nur anders gestaltet werden.
Auf welche Weise?
Zum Beispiel müssen kleine Privatunternehmen in Belarus weiter in der Lage sein können, ihre Geschäfte zu machen. Anders als in Russland gibt es in Belarus außerdem nicht so viele Oligarchen. Macht und Geld liegen in der Hand der Familie Lukaschenko. Deren Vermögen soll sich unseren Experten zufolge vielfach in der Golfregion befinden. Belarus hat kein Erdgas. Aber alle staatlichen Unternehmen und Banken wirtschaften am Ende in die Tasche des Regimes. Darum müssen Europa und die USA alles daran setzen, die Schlupflöcher zu schließen, die Lukaschenkos Regime sehr gut kennt und nach wie vor nutzt. Länder wie Kasachstan oder Aserbaidschan spielen eine wichtige Rolle beim Umgehen der bereits existierenden Sanktionen. Auch die Finanzhilfen des Internationalen Währungsfonds für Belarus dürfen nicht mehr in die Taschen von Lukaschenko wandern.
Viele westliche Staats- und Regierungschefs waren in den vergangenen Wochen bereits in Kiew, um ihre Unterstützung zu zeigen. Planen Sie auch eine solche Reise?
Vor dem Krieg war die ukrainische Regierung in Sorge, dass ein Besuch von mir zu unnötigen Spannungen mit Lukaschenko führen könnte. Das wollte man unbedingt vermeiden. Inzwischen sind es die Bedenken von Litauen, die für meine Sicherheit in Vilnius sorgen, weshalb ich derzeit nicht nach Kiew reise. Aber natürlich würde ich das gerne machen. Mein Team und ich befinden uns im regelmäßigen Austausch mit der ukrainischen Regierung und Präsident Wolodymyr Selenskyj und wir planen nun, ein Büro in Kiew zu eröffnen.
Von der ehemaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurden Sie einst empfangen. Werden Sie nun auch Bundeskanzler Olaf Scholz treffen?
Ich habe ihn bereits zweimal getroffen, bevor er Kanzler wurde. Und ich würde Olaf Scholz gerne wieder treffen.
Was erwarten Sie von ihm?
Es ist wichtig, dass Deutschland eine führende Stimme in Europa ist. Alle europäischen Staaten warten darauf, dass Deutschland führt. Die Belarussen wissen, dass Deutschland über Jahre wirtschaftliche und politische Beziehungen zu Russland aufgebaut und gepflegt hat. Ich denke, es wäre eine richtige Entscheidung, kein russisches Erdgas mehr zu kaufen und die Ukraine zu unterstützen.
Eine nach wie vor umstrittene Entscheidung, zumindest kurzfristig.
Ich weiß, dass dies schmerzhaft für die deutsche Bevölkerung sein wird. Aber ich denke, dass die Deutschen sehr gut verstehen, warum das getan wird. Es ist wichtig, dass in Deutschland verstanden wird, dass das kein russisch-ukrainischer Krieg ist. Es ist ein Krieg zwischen den Demokratien und den Autokratien, der auf dem Territorium der Ukraine stattfindet. Die Ukrainer kämpfen für die Würde aller demokratischen Staaten.
Swetlana Tichanowskaja ist eine belarussische Bürgerrechtlerin. Sie war im Jahr 2020 Präsidentschaftskandidatin. Im Zuge der niedergeschlagenen pro-demokratischen Massenproteste floh die 39-Jährige ins Exil, in die litauische Hauptstadt Vilnius. Von dort aus versucht die zweifache Mutter und selbst erklärte Anführerin von Belarus, das Lukaschenko-Regime zu beseitigen und die Tausenden inhaftierten politischen Gefangenen zu befreien, darunter auch ihr Ehemann. Am 26. Mai wird ihr der Karlspreis in Aachen verliehen.
Sind Sie mit der deutschen Unterstützung für Ihr Anliegen in Belarus zufrieden?
Natürlich danke ich der Bundesregierung für die fortwährende Unterstützung unserer demokratischen Bewegung. Deutschland hat Lukaschenko nicht als Präsidenten anerkannt. Deutschland hat sich den Sanktionen gegen das Regime angeschlossen und die Zivilgesellschaft unterstützt.
Wie gut würden Sie Ihre Kontakte zu deutschen Politikern beschreiben?
Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, zu Annalena Baerbock und zu Claudia Roth.
Gibt es etwas Besonderes, das Sie und Annalena Baerbock als Frauen und Mütter von zwei Kindern verbindet?
Letztendlich weiß ich nicht, worauf gute Beziehungen wirklich basieren. Aber ja, wir sind Frauen. Ich erinnere mich, dass ich Annalena kennengelernt habe, als sie noch Vorsitzende der Grünen war. Wir kamen mit unserem Schmerz, dem Schmerz unserer Frauen und unserer Gefangenen. Sie ist eine Frau. Sie versteht, wie wir uns fühlen. Sie wurde von den Frauen inspiriert, die die Proteste angeführt haben. Und sie ist inspiriert von unserem Kampf. Aber natürlich habe ich auch gute Beziehungen zu Männern, die keine Kinder haben.
Werden Sie bei Ihren Treffen eigentlich als Exil-Präsidentin oder Oppositionsführerin angesprochen?
Ich denke, es kommt überhaupt nicht darauf an, wie mich die Menschen nennen. Einige sagen Oppositionsführerin, einige sprechen von mir als der gewählten Präsidentin von Belarus, andere sehen mich als demokratische Anführerin. Lukaschenko hält sich für den größten Präsidenten, der alle Wahlen gewonnen hat, was aber nicht heißt, dass er das Vertrauen der Menschen genießt.
Sie hingegen wurden zu einem Vorbild für Demokratiebewegungen auf der ganzen Welt.
Ich weiß, dass die Menschen im Jahr 2020 für mich gestimmt haben. Das ist jetzt meine Aufgabe und ich tue ich alles dafür, um die politischen Gefangenen in unserem Land zu befreien, die Repressionen zu stoppen und unser Land in Neuwahlen zu führen.
Seit damals ist viel passiert. Ihr Ehemann sitzt noch immer im Gefängnis. Sie leben im Exil in Litauen. In Ihrem Nachbarland, der Ukraine, tobt ein furchtbarer Krieg.
Lukaschenko hat unser Land betrogen. Diese Tatsache hat dazu geführt, dass er Belarus in diesem schlimmen Krieg selbst zu einem Aggressor gegen die Ukraine gemacht hat. Wir müssen jetzt nicht mehr nur für unsere Freiheit und Demokratie kämpfen, sondern auch für unseren guten Ruf.
Fürchten Sie, dass in der Ukraine nicht nur die Wut auf die russische Bevölkerung wächst, sondern auch auf das belarussische Volk?
Es ist wichtig, die Zahlen zu kennen. Etwa 85 bis 90 Prozent der Belarussen sind gegen die Beteiligung unserer Armee an diesem Krieg. Wir waren geschockt, als Lukaschenko unseren Boden russischen Truppen und deren Ausrüstung zur Verfügung gestellt hat. Von unserem Land wurden Raketen auf die Ukraine geschossen. Butscha wurde von unserem Land aus bombardiert.
Wie sah Ihre Reaktion darauf aus?
Als der Krieg ausbrach, haben wir sofort damit begonnen, der Ukraine, Polen und Litauen zu erklären, dass wir Belarussen gegen diesen Krieg sind. Viele von uns kämpfen an der Seite der Ukrainer gegen die russischen Soldaten. Wir haben Bildmaterial von russischen Truppenbewegungen auf unserem Boden umgehend an die ukrainische Armee gesendet. Das ist eine enorme, quasi geheimdienstliche Unterstützung. Belarussische Flüchtlinge, die seit einiger Zeit in Polen sind, helfen nun ukrainischen Flüchtlingen.
Aber Sie würden gerne noch viel mehr tun.
Ja, nur können wir derzeit kaum etwas gegen Putin ausrichten, weil unser Volk selbst unterdrückt wird und die Menschen fürchten, in den Gulags zu landen. Viele Hunderttausend Menschen hatten 2020 den Mut, gegen unser Regime aufzustehen. Viele von ihnen sitzen heute noch immer im Gefängnis und werden gefoltert.
Wie regelmäßig können Sie mit Ihrem Mann Sergei sprechen?
Unser Anwalt vor Ort darf ihn einmal pro Woche besuchen. Über ihn können wir uns kurze Nachrichten schicken. Das ist alles. Unsere Kinder schreiben aber Briefe an ihn. Kinderbriefe werden durchgestellt und er kann ihnen zurückschreiben. Sobald es in diesen Briefen aber auch nur kurz um mich geht, werden sie abgefangen.
Auch Sie wurden bereits mit dem Tod bedroht. Woher nehmen Sie die Kraft, trotz aller Gefahren weiterzumachen?
Natürlich fühle ich mich manchmal schwach. Natürlich bin ich auch müde. Natürlich fühle ich mich auch abscheulich und denke: Ich kann das alles nicht mehr. Aber so wie mir geht es vielen anderen Belarussen. Wir denken dann aber an unsere Familien und Freunde, die zu Tausenden als politische Gefangene hinter Gittern sitzen. Das gibt uns Kraft. Zu wissen, dass wir nicht das Recht haben, sie zu verraten. Meine Kinder fragen mich ständig, wann ihr Vater nach Hause kommt. Mein Mann kann aber morgens nicht aufstehen und sich einfach eine gute Tasse Kaffee machen. Diese Tatsache wird mir jeden Morgen vor Augen geführt.
Glauben Sie, dass in Russland eine große Demokratiebewegung wie die Ihre in Belarus entstehen kann?
Nach 28 Jahren Diktatur befanden wir uns in Belarus wie in einem Koma. Wir hatten Angst davor, auch nur ein Wort gegen das Regime zu richten. Als wir auf die Straße gingen, war es so, als seien wir plötzlich aufgewacht. Wir waren von uns selbst überrascht. Alexej Nawalny dachte damals, als er den Aufstand sah, dass etwas Ähnliches in Russland möglich sein könnte. Und tatsächlich haben wir doch auch jetzt viele Proteste in Russland gesehen. Sie waren klein, aber sie waren da. Und sie waren ein Signal für die russische Regierung.
- Treffen und Gespräch in Washington
- Anschließendes Interview per Videotelefonat