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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gefährliche Kommunikation Ein Risikofaktor namens Joe Biden
Versprecher, Korrekturen und schlechte Abstimmung – schon lange ist der US-Präsident für verbale Ausrutscher bekannt. In Zeiten des Ukraine-Krieges wird das zu einem Sicherheitsrisiko.
Politisch kann sich Joe Biden eigentlich glücklich schätzen. Das Ausmaß der Brutalität des russischen Angriffskrieges in der Ukraine eint in den Vereinigten Staaten selbst die notorische Front zwischen Republikanern und Demokraten.
Vor einigen Tagen sprang selbst der bekannte republikanische Biden-Gegner Kevin McCarthy dem Präsidenten bei. Der Trump treu ergebene Kongressabgeordnete Madison Cawthorn hatte den ukrainischen Präsidenten als "Schurken" bezeichnet – eine Haltung, die nicht wenige Republikaner aus parteitaktischen Gründen in den USA verbreiten.
"Madison liegt falsch", sagte McCarthy daraufhin. "Wenn es einen Schurken auf dieser Welt gibt, dann ist es Putin." Die Brutalität Putins gegenüber dem ukrainischen Volk sei "grauenhaft". All das sei "falsch". Putin sei der Aggressor. "Er ist derjenige, der diesen Krieg beenden muss. Er ist derjenige, gegen den sich alle zusammenschließen sollten."
Doch der US-Präsident nutzt diese politische Chance nicht. Im Gegenteil. Obwohl er es seit Wochen in bemerkenswerter Weise schafft, das westliche Bündnis zu vereinen, torpediert Joe Biden seinen eigenen Erfolg immer wieder. Der Grund ist seine unvorhersehbare und verwirrende Kommunikation, für die der US-Präsident nicht erst seit seiner Amtsübernahme bekannt ist.
Es ist eine Schwäche, die sich durch seine ganze politische Karriere zieht. In der aktuellen Situation aber wird sie zu einem echten Sicherheitsrisiko.
Eine kleine Invasion?
Angefangen hatte alles schon kurz bevor der Krieg in der Ukraine ausbrach. Joe Biden sprach in einer Pressekonferenz in Washington davon, dass die Reaktion der USA auf einen russischen Angriff durchaus unterschiedlich stark ausfallen könnte. Dann nämlich, wenn es nur zu einer "minor incursion" kommen würde, einer "kleinen Invasion".
Händeringend versuchten die Presseabteilung des Weißen Hauses und sein Außenminister Antony Blinken im Anschluss, den kommunikativen Druck auf Moskau trotzdem aufrechtzuhalten.
Bis heute rätseln selbst Experten, was Biden genau mit einer solchen "kleinen Invasion" der Russen in die Ukraine gemeint haben könnte. Und ob der US-Präsident mit dieser verharmlosenden Äußerung dem russischen Präsidenten Wladimir Putin womöglich signalisiert haben könnte: Mach ruhig. Wir halten die Beine still.
Regimewechsel oder moralische Empörung
Ausgerechnet bei seiner als historisch angekündigten Rede in Warschau am vergangenen Wochenende wich der US-Präsident dann mutmaßlich in einem spontanen Einfall vom akribisch ausgearbeiteten Redemanuskript ab.
Biden sagte: "Im Namen Gottes. Dieser Mann kann nicht an der Macht bleiben." Ein US-Präsident, der offen zum Sturz des russischen Präsidenten, dem Anführer einer Atommacht, aufruft, war sogleich die Lesart, die überall verbreitet wurde.
Wieder griff die Presseabteilung des Weißen Hauses wenige Minuten später hektisch ein und verstieg sich zu der bemerkenswerten Interpretation: Der Präsident habe damit gemeint, Putin dürfe nicht länger Macht auf Staaten in der direkten Nachbarschaft ausüben. Das beruhigte die Öffentlichkeit erwartungsgemäß nicht, sondern rief sogar hochrangige politische Distanzierungen selbst aus dem Nato-Bündnis hervor.
Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron etwa richtete sich gegen Bidens Äußerung, Putin sei ein "Schlächter". Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz sagte in der Talkshow "Anne Will", dass die Nato keinen Regimewechsel anstrebe. Obwohl wieder mal auch der US-Außenminister Antony Blinken versuchte, die Aussagen seines eigenen Präsidenten klarzustellen: Das Weiße Haus sah sich am Montag genötigt, den US-Präsidenten das Ganze selbst noch mal erklären zu lassen.
Biden betonte zwar, er habe keinen Regimewechsel gefordert. Er distanzierte sich aber trotzdem nicht wirklich von seinen Aussagen. "Ich habe damit moralische Empörung zum Ausdruck gebracht, die ich empfinde. Und dafür entschuldige ich mich nicht", sagte Biden. Egal, wie man zu den Aussagen des Präsidenten stehen mag, das Problem ist zunehmend, dass sein eigener Stab sich genötigt zu fühlen scheint, gegen ihn zu arbeiten.
US-Truppen in der Ukraine?
Das dauernde Vor und Zurück erreichte dieser Tage noch einen weiteren Höhepunkt. Als Joe Biden in Polen die dort stationierten Truppen besuchte, sprach er über den Mut der Ukrainer, der inspirierend sei. An die US-Soldaten gerichtet sagte er dann: "Ihr werdet es sehen, wenn ihr da seid." Sofort führte das zu Spekulationen, die USA oder die Nato würden bald doch in der Ukraine direkt eingreifen. Wieder musste Biden bestreiten, dies gemeint zu haben.
"Wir haben davon gesprochen, dass wir bei der Ausbildung der ukrainischen Truppen in Polen helfen", sagte der US-Präsident. Allein die Tatsache, dass die USA ukrainische Truppen in Polen trainieren sollen, um auf russische Soldaten zu schießen, ist dabei eine echte Neuigkeit, zumindest offiziell. Denn Bidens nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan hatte noch vor wenigen Tagen verneint, dass die USA derzeit ukrainische Truppen trainieren würde. Dass sich ukrainische Soldaten in Polen zu solchen US-geführten Trainingszwecken aufhalten sollen, wird derweil nirgends bestätigt.
Die mehrdeutige Sprache des US-Präsidenten bleibt, und sie wird damit zu einem Problem für Washington. Zumal die USA regelmäßig betonen, nicht Teil des Krieges werden zu wollen. Dass sie keine Flugzeuge und Panzer liefern wollen, weil Putin dies sonst laut Geheimdiensterkenntnissen als Kriegserklärung oder zumindest Einmischung deuten könnte. Was im schlimmsten Fall zu einer nuklearen Eskalation führen könnte.
Die USA wissen, dass jede Äußerung, jedes Zucken von Joe Biden im Kreml mit seismografischer Präzision beobachtet wird. Die Nervosität ist deshalb in Washington überall zu spüren. Wann kommt die nächste unbedachte Äußerung von Biden?
- Eigene Recherchen