Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Unterwegs beim "March for Life" Trumps christlich-fundamentalistische Fußtruppen
Seit fast 50 Jahren marschieren sie durch Washington. Doch in diesem Jahr könnten die Abtreibungsgegner des "March for Life" ihr Ziel erreichen. Zehntausende sind nach Washington gekommen.
Nur einige Hundert Meter vom Weißen Haus entfernt ermahnt ein Mann seine Zehntausenden Zuhörer: "Haltet euch an die Regeln des Commander-in-Chief!", ruft er von einer Bühne auf der National Mall in Washington den vielen aus dem ganzen Land angereisten Abtreibungsgegnern entgegen.
Doch Kirk Cameron meint mit dem Oberbefehlshaber über die US-Streitkräfte nicht den Präsidenten Joe Biden. Der einstige Hollywood-Kinderstar aus den 80er-Jahren ist noch immer Schauspieler. Er betätigt sich aber vor allem als christlicher Aktivist und versucht bei Temperaturen von minus 7 Grad Celsius der Menge des sogenannten Pro Life March einzuheizen.
"Der Commander-in-Chief hat seinen Platz im Himmel", ruft Cameron. Jubel bricht aus. Er verwendet weitere politische Begriffe und spricht von den "executive orders" und "mandates" des Himmels, davon, dass diese Gesetze über allen anderen Gesetzen stünden.
Früher spielte Kirk Cameron an Leonardo DiCaprios Seite in der TV-Serie "Unser lautes Heim". Heute ist er 51 Jahre alt. Er trägt Vollbart, eine groß karierte Flanelljacke und eine Mütze auf dem Kopf, auf der "proLife" zu lesen ist. Cameron hat sein Land nur kennengelernt als eines, in dem Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich erlaubt sind. Und zwar seit der Oberste Gerichtshof der USA im Jahr 1973 im Fall "Roe versus Wade" eine Grundsatzentscheidung gefällt hatte. Cameron hält das für falsch und mit ihm auch die Zehntausenden, meist evangelikal-christlichen Demonstranten, die seit 1974 immer zum Jahrestag der Gerichtsentscheidung am 22. Januar in die US-Hauptstadt reisen.
Fällt das grundsätzliche Recht auf Abtreibung?
Ausgerechnet in diesem Jahr, in dem nicht mehr Donald Trump im Weißen Haus sitzt, könnte die einstige Entscheidung vor dem Supreme Court kippen. Trump war der erste und einzige Präsident, der an einem "March for Life" im Wahljahr 2020 teilgenommen hatte – allerdings nicht ohne Kalkül. "Noch nie hatten ungeborene Kinder im Weißen Haus einen stärkeren Verteidiger", rief Trump damals. Heute verbreitet er, wie zuletzt auf seiner Wahlkampfveranstaltung in Arizona, dass die Demokraten dafür seien, sogar bereits geborene Babys noch zu töten. Dieses Mal ist er nicht nach Washington gekommen, ließ aber eine Grußbotschaft verbreiten: "Während ihr euch heute zum March for Life versammelt, bin ich im Geiste bei euch!"
2022 sitzen im Obersten Gerichtshof sechs konservative Richter und nur noch drei liberale. "Roe versus Wade" steht nach 50 Jahren mutmaßlich auf der Kippe. Die Richterinnen und Richter wollen neu darüber entscheiden, ob es den Bundesstaaten überlassen werden soll, wie restriktiv sie ihre Abtreibungsgesetze gestalten. Würde das Urteil fallen, verlören Frauen das grundsätzliche Recht, Schwangerschaften selbstbestimmt und auch noch zu späteren Zeitpunkten abzubrechen. Zumindest dann, wenn sie im falschen Bundesstaat leben. In zahlreichen republikanisch regierten Bundesstaaten würden umgehend schon lange vorbereitete sogenannte "Trigger Laws" und ähnliche Gesetze in Kraft treten.
Überwiegend weiße Menschen haben sich auf der National Mall versammelt und machen sich bereit, auf der Constitution Avenue zum Gerichtsgebäude des Supreme Court zu marschieren. Man gibt sich anti-diskriminierend. Auf einer riesigen Leinwand werden Statistiken zu Abtreibungen in den USA eingeblendet. Am meisten würden schwarze Babys abgetrieben, heißt es dort. Darum seien Abtreibungsgegner per se antirassistisch, da sie schwarze Leben schützen wollten.
Kein Wort über die Gründe der Abtreibungen. Im Gegenteil, Abtreibungen zu verbieten, stärke die Rechte von Frauen, ruft Jeanne Mancini, die Präsidentin des "March for Life" von der Bühne.
Wahlkampfthema gegen die Demokraten
Zahlreiche republikanische Kongressabgeordnete sind gekommen und halten Reden. Einer von ihnen rechnet vor, dass seit 1973 rund 63 Millionen Kinder per Abtreibung "getötet" worden seien. "Das sind so viele Menschen wie die Bevölkerung Italiens!" Für republikanische Senatoren scheint es zu kalt zu sein, niemand ist persönlich anwesend. Aber viele von ihnen, darunter auch Mitt Romney, sprechen per Videobotschaft zu ihren Wählerinnen und Wählern.
Es geht an diesem Tag viel um das "Was wäre wenn ...?" Der Schauspieler Kirk Cameron erzählt etwa, dass seine Frau ein adoptiertes Kind gewesen sei, "nur einen Arzt vom Tod entfernt". Wäre sie abgetrieben worden, dann hätte er sie nicht heiraten können, dann hätten sie beide keine Kinder bekommen können. Das Thema behandelt er auch in seinem neuen Film "Lifemark", der im Herbst dieses Jahres erscheinen soll. Cameron lässt den Trailer auf der Kundgebung laufen. Es ist ein Film mit einer klaren Aussage: Treib nicht ab!
"Gleichberechtigung beginnt im Mutterleib" lautet das Motto des diesjährigen Marsches in Washington. Die Losung ist kein Zufall zu einer Zeit, in der die Demokraten regieren. Überhaupt versuchen die Abtreibungsgegner, sich die Parolen der Progressiven zu eigen zu machen und umzudeuten. Angelehnt an die "Black Lives Matter"-Bewegung ist auf vielen Schildern "Baby Lives Matter" zu lesen.
Frieden und Fundamentalismus
Eine Gruppe orthodoxer Christen summt mehrstimmig ein Gebet. Vor einem jungen katholischen Priester kniet ein Mann, der sich zwischendurch auf dem Rasen segnen lassen will. Kinder haben Star-Wars-Figuren auf Plakate gemalt, die mit ihren Lichtschwertern kleine Babys verteidigen. Erwachsene Männer tragen Umhänge im Stile von Kreuzrittern. Sie wähnen sich in einem "Heiligen Krieg" gegen jene, die nicht an die Bibel und damit an das Böse glauben.
Es mag friedlich wirken, doch es sind auch handfeste Neonazis anwesend. Eine Gruppe der sogenannten Patriot Front marschiert maskiert auf, mit verspiegelten Sonnenbrillen und rot-weiß-blauen Abwehrschilden. Umringt werden sie von einer Fahrradstreife der Polizei. Eine junge Frau wird festgenommen, weil sie die Gruppe konfrontieren will.
Ausgerechnet an diesem Tag wird ein Leak bekannt, das unter anderem ein Video von Mitgliedern der "Patriot Front" offenlegt, in dem zu sehen ist, wie sie den Hitlergruß zeigen und "Sieg fucking Heil" rufen. Die Gruppe strebt ein weißes Amerika aus europäischstämmigen Bürgern an. Argumentiert wird mit Herkunft und Blutlinien.
Afroamerikaner finden sich wenige bei der Demonstration. Einige von ihnen verkaufen wärmende Handschuhe oder Merchandise-Artikel, von denen sie glauben, dass sie gut bei diesen Leuten ankommen. Ein Mann hat auf einem Klapptisch T-Shirts mit dem "Baby Lives Matter"-Spruch ausgelegt. Ein anderer zieht mit einem Bollerwagen durch die Menge und ruft: "'Let's go Brandon'-Mützen für fünf Dollar, meine lieben Christen!" Dieser Ruf ist eine versteckte Beschimpfung gegen den amtierenden Präsidenten Joe Biden.
Jedes Leben zähle, auch das ungeborene, ist auf vielen Schildern der Anwesenden zu lesen. Außer das Leben von Demokraten, hat ein Mann auf seinem Plakat ergänzt. Mitten auf der Mall sitzt ein Obdachloser mit völlig verfilzten Haaren und nackten, ausgemergelten Beinen auf einem Gullydeckel. Von unten her strömt warme Luft nach oben zu ihm. Einigen Menschen, die vorbeilaufen, entfährt nur ein "Holy Shit". Dann laufen sie weiter. Es geht heute um eine größere Sache als sein Leben.
- Eigene Recherche vor Ort
- Gizmodo: Leaked Chats Reveal Evidence of Hate Crimes by U.S. Fascists