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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nachruf auf Ruth Bader Ginsburg Ein Tod, der Amerika in einen Machtkampf stürzt
Mit dem Tod Ruth Bader Ginsburgs verliert das liberale Amerika seine Ikone. Die 87-jährige Richterin ahnte, was mit ihrem Ableben passieren würde: Trump hat nun die Chance, sein Land auf Jahrzehnte zu prägen.
Auf dem Papier war sie 27 Jahre lang Verfassungsrichterin, erst die zweite in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Schon das verleiht ihrem Leben eine historische Note.
Doch in Wahrheit war Ruth Bader Ginsburg viel, viel mehr. Sie war eine Ikone für das liberale Amerika, eine Heldin für die Feministinnen, die in Jahrzehnten so viel für die Gleichberechtigung erstritt wie sonst kaum jemand. Und sie war zuletzt die letzte Hoffnungsträgerin für alle, die nicht fassen konnten, in welche Richtung sich das Land unter Donald Trump entwickelt. Sie war so etwas wie das liberale Gewissen der Nation.
Und, als ob all das nicht genug wäre, wurde Bader Ginsburg auch noch wie ein Popstar gefeiert, mit Büchern, Dokumentationen, Wandmalereien und sogar einer Oper über sie. "Notorious RBG" nannten sie ihre Anhänger, die berüchtigte RBG, in Anspielung auf den Rapper Notorious B.I.G.
Sie wollte durchhalten bis nach der Wahl
Ruth Bader Ginsburg genoss diesen Ruhm, auch weil sie wusste, wie zerbrechlich alles war. Sie hatte seit Jahren immer wieder mit Krebs und Chemotherapien zu kämpfen, zuletzt auch noch mit Rippenbrüchen und Herzproblemen. Sie wollte unbedingt durchhalten bis zur US-Präsidentschaftswahl, daran ließ sie ihren Weggefährten keinen Zweifel. Doch am Ende reichte die Kraft nicht mehr.
Die Heldin des linken Amerikas verstarb am Freitagabend (Ortszeit) im Alter von 87 Jahren in Washington an Folgen des Bauchspeicheldrüsenkrebses, der sie mehrfach befallen hatte. Noch am Abend versammelten sich in der Hauptstadt Hunderte vor dem Supreme Court, legten Blumen nieder, sangen gemeinsam "Imagine" und "Amazing Grace".
Eine letzte Botschaft
Ihr Tod stürzt das politische Amerika in einen erbitterten Machtkampf. Sie selbst wusste das allzu genau und diktierte ihrer Enkelin nur Tage vor dem Tod noch eine letzte Nachricht für die Öffentlichkeit. "Mein inbrünstigster Wunsch ist es, dass ich nicht ersetzt werde, bis ein neuer Präsident gewählt wird." Die Botschaft richtet sich an das politische Washington und an Donald Trump.
Für Bader Ginsburg, 1933 in Brooklyn geboren, war der Kampf um Gleichberechtigung immer auch persönlich. Sie begann ihr Jurastudium in Harvard als eine von neun Frauen in einem Jahrgang von 552 Studenten. Sie schloss an der Columbia University als Klassenbeste ab, bekam in den New Yorker Kanzleien als Frau aber keinen Job. Später wurde sie die erste Vollzeit-Juraprofessorin Columbias und als Bürgerrechtsanwältin erstritt sie Sieg um Sieg für die Gleichberechtigung von Mann und Frau. Für das linksliberale Magazin "New Yorker" geht sie als die "große Gleichmacherin" in die Geschichte ein.
Sie stand Trumps Vorhaben im Weg
1993 berief Bill Clinton die damalige Berufungsrichterin an den mächtigen Supreme Court. Dort war sie seit gut zehn Jahren die Anführerin der liberalen, sich in der Minderheit befindlichen Richter. Je konservativer es am neunköpfigen Gericht zuging, desto deutlicher wurden Bader Ginsburgs Minderheitenvoten und desto mehr zementierte sich der Ruf der zierlichen Frau mit der sanften Stimme als resoluter Verteidigerin der Rechte von Frauen und Minderheiten.
All das stand den persönlichen Beziehungen nicht im Weg. Am besten verstand sich die Linksliberale ausgerechnet mit dem erzkonservativen Richterkollegen Antonin Scalia, der 2016 verstarb.
Den vier linken Richtern gelang es unter Bader Ginsburg manchmal den Vorsitzenden Richter, John Roberts, auf ihre Seite zu ziehen. So stoppten sie mehrere Vorhaben Donald Trumps. Jetzt könnten die Verhältnisse am Supreme Court kippen.
Trump kann die Machtverhältnisse auf Jahrzehnte verschieben
Donald Trump, der bereits zwei konservative Verfassungsrichter ernennen konnte, hat nun die historisch einzigartige Chance, einen dritten Supreme Court Justice zu berufen – und damit die Machtverhältnisse am Verfassungsgericht auf Jahrzehnte zu verschieben. Er könnte eine dauerhafte konservative Mehrheit installieren. Linke Kritiker befürchten, dass dann das Recht auf Abtreibungen ebenso gefährdet ist wie die staatliche Krankenversicherung Obamacare.
Diese Aussicht wirkt auf Trump und seinen Wahlkampf elektrisierend. Denn die Personalien am obersten Gericht sind vielen der religiösen und konservativen Wähler extrem wichtig. Schon in der vergangenen Woche hatte Trump zu Wahlkampfzwecken eine Liste mit zwanzig Namen präsentiert, die er in einer zweiten Amtszeit für einen Sitz am Supreme Court in Erwägung ziehen würde.
Interessieren Sie sich für die US-Wahl? Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt über seine Arbeit im Weißen Haus und seine Eindrücke aus den USA unter Donald Trump einen Newsletter. die dann einmal pro Woche direkt in Ihrem Postfach landet.
Jetzt ist die theoretische Liste für die Zeit ab 2021 plötzlich konkret und aktuell. Die Republikaner könnten ungeachtet der anstehenden Wahlen noch in diesem Jahr einen Ersatz für Ginsburg ins Amt hieven. Wenn der Präsident einen Kandidaten vorschlägt, muss ihn der Senat mit einfacher Mehrheit bestätigen.
Ein Republikaner rückt ins Zentrum
Trumps Republikaner haben 53 der 100 Stimmen. Die entscheidende Rolle fällt dem Mehrheitsführer Mitch McConnell zu, der schon einmal bewiesen hat, wie er eine Personalie in einem Wahljahr instrumentalisieren kann.
Im Februar 2016 ernannte Barack Obama einen Nachfolger für den verstorbenen Ginsburg-Freund Scalia. Damals waren es noch neun Monate bis zur Präsidentschaftswahl, doch McConnell weigerte sich, die Personalie in einem Wahljahr auch nur zu diskutieren. Der Sitz blieb vakant, bis nach der Wahl Donald Trump einen konservativen Kandidaten ans Gericht brachte.
Der Tod Ginsburgs kommt nun noch viel kürzer, lediglich sechs Wochen, vor der Wahl am 3. November, an dem nicht nur ein Präsident, sondern auch ein Drittel des Senats neu gewählt wird. Doch jetzt, wo ein Parteifreund im Weißen Haus sitzt, agiert McConnell ganz anders. Er kündigte eine gute Stunde nach der Nachricht des Todes von Ginsburg an: Sollte Trump einen Kandidaten oder eine Kandidatin für das höchste Gericht präsentieren, werde er seine Kammer darüber abstimmen lassen.
Um das Verfahren wird eine politische Schlacht ausbrechen, die den Wahlkampf prägen könnte. Es geht um große und langfristige Macht über die Geschicke der Nation, vielleicht um mehr als bei der Wahl des Präsidenten. Der letzte Wunsch der Verstorbenen, mit einer Nachfolgeregelung zu warten, dürfte nicht viel zählen.
- Eigene Recherchen
- New Yorker: Ruth Bader Ginsburg, the Great Equalizer