Machtpoker im US-Shutdown Trump entdeckt die Moral – für neun Minuten
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.In einer seltenen Rede an die Nation schlägt der US-Präsident einen neuen Ton an. Er kämpft um seine Grenzmauer – bietet aber keinen Ausweg aus dem Machtkampf mit den Demokraten, der die Regierung lähmt.
Wenn der amerikanische Präsident zur besten Sendezeit vom Schreibtisch im Oval Office zur Nation spricht, geht es meist ums große Ganze. John F. Kennedy eröffnete so seinem Volk im Oktober 1962, dass die Sowjets Atomraketen im nahen Kuba stationierten. George W. Bush versuchte so, am Abend des traumatischen 11. September 2001 Entschlossenheit zu verkörpern. Als jetzt Donald Trump zum ersten Mal zu dieser Maßnahme greift, geht es zumindest um etwas, was ihm persönlich sehr wichtig ist: seine Grenzmauer zu Mexiko.
Trump sprach – live von allen großen US-Fernsehsendern übertragen – von einer sich zuspitzenden "humanitären und Sicherheitskrise" an der Grenze, ja mehr noch, er attestierte eine "Krise des Herzens und der Seele". Er probierte einen für ihn ungewohnt sanften Ton, denn er braucht dringend mehr öffentliche Unterstützung für seinen Kurs.
Erbitterter Machtpoker
Der neunminütige Auftritt ist der vorläufige Höhepunkt im großen Machtpoker in Washington. Seit nunmehr 18 Tagen sind Teile der US-Regierung wegen des Streits lahmgelegt. Hunderttausende Beamte sind im Zwangsurlaub, bekommen vorerst kein Gehalt, ganze Behörden sind gelähmt. Republikaner und Demokraten können sich auf keinen Haushalt einigen, und dabei hakt es vor allem an Trumps Mauer. Trump fordert 5,7 Milliarden US-Dollar (rund fünf Milliarden Euro), um mit dem Bau zu beginnen – die Demokraten lehnen das kategorisch ab.
Mit seiner Rede an die Nation wollte Trump eines deutlich machen: Die Lage an der Grenze sei so dramatisch, dass es eine Grenzmauer brauche – und deshalb lohne sich der politische Kampf, auch wenn dadurch die Regierungsgeschäfte teilweise eingefroren sind. Deshalb nahm er in den neun Minuten so oft das Wort Krise in den Mund. Einen nationalen Notstand, mit dem er ohne das Parlament aktiv werden könnte, rief er allerdings nicht aus.
Trump entdeckt die Moral
Im Fernsehen bot sich ein ungewohntes Bild. Trump mit Krawatte in den US-Nationalfarben sprach mit gedämpfter Rhetorik und überhöhte sein Mauerprojekt zur "Wahl zwischen richtig und falsch" und sprach vom "Kreislauf des menschlichen Leids, den ich entschlossen bin zu beenden" – er argumentierte also moralisch. Eine Mauer symbolisiere nicht Hass für das Äußere, sondern Liebe für das Innere. Erneut betonte er Verbrechen, die illegale Einwanderer in den USA verübt haben.
Ob dieser vom Teleprompter abgelesene Ton sich allerdings auch in den kommenden Tweets und Verhandlungen niederschlagen wird, darf man bezweifeln.
Neue Argumente oder Angebote an die Demokraten brachte er nicht. Dabei steht für den Präsidenten viel auf dem Spiel: Die Stimmung im Land wird schlechter, je länger der Shutdown der US-Regierung andauert – an dem laut Umfragen eine Mehrheit ihm die Schuld gibt. Auch im Weißen Haus zweifelt manch einer daran, dass Trump diesen Poker gewinnen kann.
Vom Wahlkampfschlager zur Belastung
Der Auftritt verdeutlicht, wie sich die Bedeutung der Grenzmauer für Trump wandelt. Das Projekt war sein größter Wahlkampfschlager, wird nun aber immer mehr zur politischen Belastung. Ob er noch einen Weg findet, sein großes Wahlversprechen einzulösen?
Trump hatte schon in den zwei Jahren, in denen seine Republikaner den Kongress kontrollierten, dabei keinen Fortschritt erzielt. Daran, dass wie einst versprochen Mexiko dafür zahlen soll, glaubt niemand mehr. Trump setzt auf Abschreckung, etwa mit der Politik der Familientrennungen. Das hat die Lage für Migranten verschlechtert.
Demokraten lehnen den Grenzwall grundsätzlich als unamerikanisch ab. Sie zeigen bislang große Einigkeit in dieser Frage. Vor einem Jahr boten sie Trump einen Kompromiss an: Milliarden für Grenzsicherung, aber dafür Garantien für die "Dreamer" genannten Einwandererkinder und andere schutzbedürftige Geflüchtete. Trump biss nicht an.
Jetzt kontrolliert die Partei das Repräsentantenhaus und macht es Trump viel schwerer.
Der Gegenauftritt der Demokraten
Kaum hatte Trump seine Rede beendet, schalteten die Fernsehsender in den Kongress, wo die beiden führenden Demokraten Sendezeit freigeräumt bekamen. Ein ungewöhnlicher Vorgang, der verdeutlicht: Die Macht hat sich in Washington verschoben.
Die frischgewählte Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, und der Minderheitenführer im Senat, Chuck Schumer, quetschten sich Seite an Seite hinter ein Podium, blickten düster drein und warfen Trump vor, die Krise nur herbeizureden. Man sei beim Thema Grenzsicherheit gar nicht weit auseinander, sagten sie, wenn da nur diese Mauer nicht wäre. Die Lösung sei ganz einfach, so Schumer: "Trennen Sie den Shutdown von der Frage der Grenzsicherheit."
- Rede an die Nation: Trump sieht Sicherheitskrise an Grenze
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Für den Mittwochmittag hat Trump Pelosi und Schumer wieder ins Weiße Haus geladen. Nach den mit Spannung erwarteten Auftritten ist allerdings keine Bewegung und kein Kompromiss in Sicht – beide Seiten sind damit beschäftigt, ihre Verhandlungsposition zu stärken.
- Eigene Recherchen
- Weißes Haus: Trumps Rede im Original (engl.)