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Was aus Europa werden kann – Lichtblicke im Sommer der Verantwortungslosigkeit


Meinung
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Was aus Europa werden kann
Lichtblicke im Sommer der Verantwortungslosigkeit

MeinungEine Kolumne von Gerhard Spörl

Aktualisiert am 09.07.2018Lesedauer: 5 Min.
Winfried Kretschmann: Er wurde vor kurzem 70 und bleibt wohl bis 2021 der erste grüne Ministerpräsident, den es je gab. Während viele Politiker momentan durch Populismus glänzen, ist er ein Lichtblick.Vergrößern des Bildes
Winfried Kretschmann: Er wurde vor kurzem 70 und bleibt wohl bis 2021 der erste grüne Ministerpräsident, den es je gab. Während viele Politiker momentan durch Populismus glänzen, ist er ein Lichtblick. (Quelle: Marijan Murat/dpa)

Da die CSU durchdreht, die Kanzlerin geschwächt ist und Flüchtlinge zum Spielball der Populisten werden, sind unaufgeregte Stimmen eine wahre Wonne. Sie sorgen souverän für Überblick in diesen wilden Tagen. Zwei Beispiele.

In diesem Sommer der Verantwortungslosigkeit sind mir zwei Menschen aufgefallen, die erhellend darüber reden, was um uns herum gerade passiert. Der eine Mensch ist Winfried Kretschmann und weidlich bekannt, der andere heißt Ivan Krãstev und verdient größere Beachtung.

Kretschmann ist vor kurzem 70 geworden und bleibt wohl bis 2021 der erste grüne Ministerpräsident, den es je gab. Von ihm habe ich am Donnerstag ein Interview in der FAZ gelesen, das mir Freude bereitete. Er argumentiert souverän und sagt vieles, wozu ich nur nicken kann. Zum Migrations-Kompromiss sagt er: "Erst mal ist das, was vorliegt, seriös noch nicht einschätzbar." Dann stellt er ein paar einfache Fragen, auf die das Lautsprecher-Trio Seehofer/Söder/Dobrindt keine Antworten hat: "Werden die Leute einfach nach Österreich oder in ihr EU-Ankunftsland zurückgeschickt? Sind die bereit, die zu nehmen?"

Da Deutschland mitten in Europa liegt, können theoretisch keine Flüchtlinge ankommen, die nicht anderswo schon einmal registriert worden sind. Theoretisch könnten sie daher in ein anderes Land zurückverwiesen werden, sobald sie an unserer Grenze auftauchen. Theoretisch ist es allerdings auch möglich, dass kein anderer Staat die Flüchtlinge auf der Durchreise registriert, so dass sie in Deutschland als Asylbewerber angenommen werden müssen. Deshalb ist nur eine europäische Regelung sinnvoll – eine europäische Rechtsordnung, wie Kretschmann sagt. Dafür braucht es Zeit, auch wenn die bayerische Landtagswahl die CSU jetzt schon paranoid macht.

Humanität hat Deutschland 2015 bewiesen

Das Interview ist eine Erholung vom Irrsinn der vergangenen Wochen, weil da jemand argumentiert, ohne sich permanent aufzupumpen wie ein gedopter Bodybuilder. Ein "Theater ohne Sinn und Verstand" nennt Kretschmann die CSU-Orgie, bei der die "Regeln des politischen Anstands gravierend verletzt worden" seien. Oder Angela Merkel, die er unterstützt, und über die er sagt: "Es ist ein generelles Problem, dass sie über das, was sie tut, zu wenig redet und ihre Politik zu wenig erklärt."

Dann stellt er ein paar Prinzipien für die Migration auf, die da heißen: "Humanität und Ordnung". Humanität hat Deutschland 2015 bewiesen. Ordnung heißt ein Einwanderungsgesetz für "Menschen, die wir für den Arbeitsmarkt brauchen". Zur Ordnung gehört natürlich auch die volle Härte des Rechtsstaates für Flüchtlinge, die "nun unser Land unsicher" machten.

Andere Politiker hätten auch reden können

In aufgeregten Zeiten wirken unaufgeregte Stimmen wie Labsal. Wer umsichtige und durchdachte Einschätzungen der herrschenden Verhältnisse abgibt, hat meine Verehrung. Kretschmann ist der Salomon unter den Handelnden in dieser wilden Zeit. Wie er hätten auch andere Politiker reden können, zum Beispiel Andrea Nahles oder Christian Lindner oder Robert Habeck oder Sarah Wagenknecht. Sie haben es aber nicht. Wolfgang Schäuble hat einige Anmerkungen aus Staatsraison gemacht, zum Beispiel über Horst Seehofers Provokationen gegenüber der Kanzlerin. Kretschmann hingegen argumentiert jetzt aus demokratischer Überzeugung, wie es dem Bundespräsidenten gut anstünde.

Ivan Krãstev ist ein bulgarischer Intellektueller, der mir schon mehrmals aufgefallen ist. Offiziell ist er Politologe, aber mehr noch ist er ein Wanderer zwischen Sofia, Wien und Berlin, ein liberaler Denker und Gründer von Thinktanks. Er ist 1965 geboren, er kennt die alte Zeit und versteht die neue.

Drei verschiedene Europas

Krãstev hat in Hamburg vor der Körber-Stiftung eine Rede gehalten, elegant und bedacht. Er unterscheidet drei verschiedene Europas: das erste entstand aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs, das zweite ist das Produkt von 1968, womit er den Aufbruch in Prag wie Berlin oder Paris meint. Das dritte Europa entstand 1989, nach dem Zusammenbruch der bipolaren Welt. Alle drei sind dabei zu scheitern.

Das erste Europa scheitert, weil die Kriegsgeneration ausstirbt und Frieden heute für selbstverständlich erachtet wird, auch wenn die Welt unfriedlich geworden ist. Das zweite Europa liberalisierte die Gesellschaften, richtete das Augenmerk auf die Rechte von Minderheiten und hat zahllose Erfolge errungen, weshalb diese großzügige Etappe nun vorbei ist.

Das Fremde ist der Feind

Das dritte Nach-1989-Europa ist das interessanteste. Krãstev sagt, in Osteuropa habe zunächst der "Nachahmungsimperativ" geherrscht: Polen, Tschechien, Ungarn etc. hätten wie der Westen sein wollen, demokratisch und wirtschaftlich, eingebunden in Nato und EU. Dann aber hätten viele junge Leute ihr Land verlassen und ein Leben im Westen gesucht – zu viele. Bulgarien verlor fast ein Fünftel seiner Bevölkerung, Lettland oder Ungarn noch mehr: "Tatsächlich verließen infolge der Finanzkrise 2008/09 mehr Osteuropäer ihr Land in Richtung Westeuropa, als Flüchtlinge infolge des Syrienkriegs dort ankamen."

Wer Krãstev liest, bekommt eine Idee davon, weshalb in Polen/Ungarn/Tschechien eine Kombination aus Renationalisierung und Autokratisierung vorherrscht, nämlich als Versuch, das eigene Land für etwas Besonderes und Gefährdetes auszugeben und so zusammenzuhalten. Was von außen kommt, das ist die Logik, muss unter allen Umständen weggehalten werden, sei es George Soros, der Demokratie-Finanzier, seien es die Flüchtlinge. Das Fremde ist der Feind. So versuchen die Autokraten ihre Länder mit schwindender Bevölkerung ideologisch zu bewahren.

Angenehm an Krãstev ist, wie er Illusionslosigkeit mit Hoffnung verbindet. Das Scheitern der drei europäischen Ideen bedeutet für ihn nicht weniger als den Eintritt in ein viertes Europa, das die Konsequenzen aus den drei vorangegangen Geschichtsetappen zieht.

Amerika nicht immer Schutzmacht für Europa

Heute zeichnet sich ab, dass Amerika nicht auf Dauer die Schutzmacht für unseren Kontinent sein will. Deshalb sollte Europa in seine militärischen Fähigkeiten investieren und sich selber Sicherheitsgarantien geben, die in der unfriedlichen Welt und im Wettkampf zwischen Amerika und China notwendig sind. Das ist die neue Wendung nach außen, schwierig genug.

In der Wendung nach innen schlägt Krãstev Vertrauen in die Stärke der Institutionen vor: "Es bedeutet, das die liberalen Demokratien Europas, denen in es in den 1970er- und 1980er-Jahren gelang, die extreme Linke zu deradikalisieren und einige ihrer legitimen Forderungen in den Mainstream zu integrieren, mit der extremen Rechten genauso verfahren sollten."

Souveränität und Klugheit bewahren

Ich gebe zu, dass mir Kretschmann und Krãstev deshalb imponieren, weil ich ihre Schlussfolgerungen teile. Wäre natürlich schön, wenn sie auch andere überzeugen könnten: Sie zum Beispiel, liebe Leser, und gerne auch einige Damen und Herren an den Schalthebeln in Berlin, denen die Übersicht abhanden gekommen ist.

Von den beiden Helden dieser Kolumne lässt sich lernen, wie leicht sich Klugheit und Souveränität bewahren lassen, wenn man nur will. Das ist viel im Sommer der Verantwortungslosigkeit.

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