Raketenangriffe und Vergeltungsschläge Eskalation in Nahost – Gewaltausbruch mit Ansage?
Binnen eines Monats hat sich Israels Konflikt mit den Palästinensern wieder gefährlich hochgeschaukelt. Die Gewalt schwappt auch auf arabische Ortschaften in Israel über – der Beginn einer neuen Intifada?
Der neue Ausbruch der Gewalt zwischen Israel und den Palästinensern ist der heftigste seit Jahren. Hunderte Raketen werden aus dem Gazastreifen auf israelische Städte abgeschossen, Zivilisten fliehen panisch in Schutzräume, es gibt Tote. Israels Luftwaffe bombardiert Ziele in dem Palästinensergebiet am Mittelmeer, dabei kommen mehr als zwei Dutzend Menschen ums Leben. Auf dem Tempelberg in Jerusalem gibt es schwere Zusammenstöße muslimischer Gläubiger mit der israelischen Polizei. In zahlreichen arabischen Ortschaften in Israel kommt es zu Ausschreitungen wie seit langem nicht mehr.
Während in israelischen Grenzorten fast ohne Pause die Warnsirenen heulen, kündigt Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine Verschärfung von Vergeltungsangriffen an. "Wir sind mitten im Kampf", sagt er nach einer Lagebesprechung mit seinen Militärs. Die Gewalt hat sich scheinbar plötzlich entladen – die Spannungen zwischen beiden Seiten brodeln allerdings schon seit einem Monat. Was sind die Auslöser dieser neuen gefährlichen Eskalation?
Polizei riegelte beliebten Treffpunkt ab
Als Ausgangspunkt gilt der Beginn des muslimischen Fastenmonats Ramadan am 12. April. Palästinenser in Jerusalem reagierten zornig drauf, dass die israelische Polizei Sperrzäune am Damaskustor aufstellte. Dies hinderte sie daran, sich auf Treppenstufen des Vorplatzes zu setzen, der im Ramadan als beliebtester Treffpunkt gilt. Viele junge Palästinenser im arabisch geprägten Ostteil der Stadt sehen darin eine Demütigung.
Die Palästinenser werfen der Polizei auch vor, auf dem Tempelberg (Al-Haram al-Scharif) gewaltsam gegen Muslime vorzugehen. Die Anlage mit dem Felsendom und der Al-Aksa-Moschee ist die drittheiligste Stätte im Islam. Sie ist aber auch Juden heilig, weil dort früher zwei jüdische Tempel standen. Nach israelischer Darstellung haben Palästinenser die Krawalle lange vorbereitet und in der Moschee auch Steine gehortet. Für Zunder sorgt allerdings auch die drohende Zwangsräumung palästinensischer Familien im Viertel Scheich Dscharrah in Ost-Jerusalem. Rechte jüdische Gruppen erheben dort Anspruch auf Grundbesitz.
Unter arabischen Einwohnern bestehe große Sorge, "dass Israel sie enteignen und dazu zwingen will, die Stadt zu verlassen", sagt der palästinensische Politikwissenschaftler Dschihad Harb. "Es herrscht ein Gefühl der großen Verzweiflung – nicht nur in Jerusalem, sondern in den gesamten besetzten Gebieten. Es gibt keine Perspektive, keine Friedensverhandlungen, keine politische Lösung." Der Traum eines unabhängigen Palästinenserstaates sei immer weiter in die Ferne gerückt, während Israel seine Siedlungen ausbaue.
Lage kocht seit längerem hoch
Angeheizt wurden die Spannungen von Videos, die Angriffe junger Araber auf strengreligiöse Juden in Jerusalem zeigten. Dies rief wiederum ultrarechte jüdische Gruppen auf den Plan. Im Westjordanland mehrten sich wieder Anschläge und tödliche Vorfälle. Weiterer Grund für den Frust unter jungen Palästinensern: die Absage der für den 22. Mai geplanten Parlamentswahl. Es wären die ersten seit 15 Jahren gewesen.
Was hat es mit dem Nahostkonflikt auf sich? Juden als auch Araber erheben auf Grund ihrer Geschichte Anspruch auf das Land Palästina. Nach dem Zweiten Weltkrieg beschloss die UN die Teilung des Landes in zwei Staaten. Daraufhin brach ein Kampf zwischen Israel und Palästinensern aus, der bis heute anhält.
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas nannte als Grund, dass Israel Wahlen in Ost-Jerusalem nicht zulasse. Manche sehen darin jedoch eine Ausrede, mit der der 85-Jährige eine Niederlage seiner zersplitterten Fatah-Bewegung verhindern will. Die islamistische Hamas im Gazastreifen, die sich Erfolgschancen ausgerechnet hatte, machte allerdings Israel verantwortlich.
Spielt die Gewalt Abbas in die Hände?
"Die Leute dachten, sie könnten das gegenwärtige Regime auswechseln und die Kontrolle durch einige Wenige beenden – aber dies wird nun nicht passieren", sagt Harb. "All diese Faktoren gemeinsam haben zu der Explosion geführt." Der israelische Experte Kobi Michael meint, für Abbas sei die neue Gewalt eine "goldene Gelegenheit", um von eigenem Versagen in der Frage der Wahlen und öffentlicher Kritik abzulenken. Die Hamas nutze die Lage hingegen, um sich als "Retter Jerusalems" aufzuspielen.
Für Israel fällt die neue Gewalt in eine Zeit starker interner Instabilität. Netanjahu ist gerade zum dritten Mal binnen zwei Jahren beim Versuch gescheitert, eine Regierung zu bilden. Der 71-Jährige, gegen den ein Korruptionsprozess läuft, kämpft ums politische Überleben. Harb meint, Netanjahu versuche mit einem harten Vorgehen, seine Position vor allem im rechten Lager zu stärken. Seinen politischen Gegnern, die nun eine andere Koalition schmieden wollen, könnte die Eskalation einen Strich durch die Rechnung machen. Die Verhandlungen mit einer kleinen arabischen Partei, deren Unterstützung sie brauchen, liegen jetzt auf Eis.
Ausländische Vermittlung im Hintergrund
Nun wird schon das Schreckgespenst eines dritten Palästinenseraufstands Intifada an die Wand gemalt. Mehrere deeskalierende Maßnahmen der israelischen Regierung zeigten bislang kaum Wirkung. Die Vorfälle in Jerusalem hätten "die Palästinenser im Westjordanland, im Gazastreifen und innerhalb Israels zusammengeschweißt", sagt Harb.
Wie kann man die Lage wieder beruhigen? Nach Medienberichten bemühen sich ägyptische Unterhändler hinter den Kulissen um eine neue Waffenruhe zwischen Israel und der Hamas. In den vergangenen Jahren war das mehrmals gelungen. Man hofft auf eine Beruhigung zum großen Fest Eid al-Fitr zum Abschluss des muslimischen Fastenmonats am Mittwoch oder Donnerstag. Am Sonntag beginnt in Israel außerdem der jüdische Feiertag Schavuot.
Michael sieht jedoch auch die Gefahr, dass sich die Lage hochschaukelt. "Ich denke, es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass wir uns in einer sehr breiten Operation wiederfinden." Diese könnte dem zweimonatigen Gaza-Krieg 2014 ähneln. Dafür, dass Israel sich auf einen längeren Einsatz im Gazastreifen vorbereitet, spricht die Tatsache, dass die Militäroperation schon einen eigenen Namen hat: "Wächter der Mauern".
- Nachrichtenagentur dpa