Laschet besucht Flüchtlingslager Moria Der "Aufschrei der Verzweifelten"
Für die Migranten der überfüllten Camps auf Lesbos stellt Armin Laschet ein Zeichen der Hoffnung dar. Sie wollen raus aus den elenden Lagern. Doch nur einige bekommen die ersehnte Hilfe aus Deutschland.
Zuerst sind es nur wenige Stimmen. Frauen aus Afrika rufen "Liberté Moria!" (Freiheit Moria). Dann versammeln sich auf der anderen Seite Dutzende Männer, Frauen, Kinder aus Afghanistan und ein Chor schwillt an. "Free Moria!" (Befreit Moria!) tönt es immer lauter, als Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet mit einer großen Delegation durch das überfüllte Flüchtlingscamp auf der griechischen Insel Lesbos geht.
Die Aufnahmen von vor Ort sehen Sie oben im Video oder hier.
Bewaffnete Polizeikräfte halten die rufenden Menschen zurück, die den ihnen unbekannten Politiker aus Europa auf ihre Lage aufmerksam machen wollen. Kurze Absprachen mit den Sicherheitskräften werden getroffen. Laschet verlässt das Camp. Ein eigentlich in Moria geplantes Gespräch mit Vertretern der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen wird in das ruhigere Camp Kara Tepe verlegt.
Dass ein deutscher Politiker Moria besucht, das mit knapp 14.000 Flüchtlingen hoffnungslos überfüllte größte Flüchtlingscamp Europas, hat sich schnell herumgesprochen. Es geht das Gerücht um, der "Prime Minister of Germany" sei gekommen. Für Laschet, der sich um den CDU-Bundesvorsitz bewirbt und als möglicher Kanzlerkandidat unter besonderer Beobachtung steht, ist der Besuch auf Lesbos eine wichtige Angelegenheit – das wird aus seinen Äußerungen deutlich.
"Erbärmliche" Zustände
Und so wagt er sich später im unauffälligen kleinen Tross auch in das besonders berüchtigte Satellitencamp, das sich um das Hauptlager gebildet hat. "The jungle" (Dschungel) nennen die Flüchtlinge diesen Teil aus Zelten und provisorische Hütten. "Erbärmlich" nennt er die Zustände.
Von einem "Aufschrei der Verzweifelten" spricht Laschet später. "Aber ich glaube, das Signal ist angekommen. Europa muss sich dieser Aufgabe annehmen." Die EU sucht seit Jahren vergeblich eine Lösung für eine gemeinsame Asylreform. Die Mitgliedsländer können sich nicht über einen Verteilungsschlüssel für die Flüchtlinge einigen. Im September will die EU-Kommission neue Vorschläge vorlegen. Deutschland hat im zweiten Halbjahr die EU-Ratspräsidentschaft inne.
Migranten drohen in Vergessenheit zu geraten
Durch die Corona-Krise drohen die Migranten auf Lesbos und anderen Inseln noch mehr in Vergessenheit zu geraten als es schon seit Jahren der Fall ist. Mehr als 27.000 Menschen kamen 2019 nach Lesbos, dieses Jahr waren es erst gut 3.400. Die Zahlen stehen auf einer Tafel im Büro der Lagerleitung von Moria. In der Pandemie kamen weniger Migranten über das Meer aus der Türkei, die nur zehn Kilometer von Lesbos entfernt liegt. Ihre Küste scheint von Lesbos ganz nah. Am Himmel über Lesbos donnern griechische Militärjets. Die Beziehungen zwischen Athen und Ankara sind belastet.
Aber die Migranten, die schon auf Lesbos sind, sind auch in Zeiten von Corona weiter da. Kann es so schwer sein, die Menschen aufs Festland zu bringen und zu verteilen? Es ist ein Dilemma. Die Inselbevölkerung möchte, dass die Lager aufgelöst werden. Der Tourismus auf der Insel mit den malerischen Dörfern ist zum Erliegen gekommen. "Close Moria!" (Schließt Moria) steht von weitem sichtbar in großen schwarzen Lettern an der Fassade einer verlassene Fabrik auf dem Weg zum Camp.
Verstärkter Zustrom aus der Türkei möglich
Einen europäischen Verteilungsschlüssel aber gibt es nicht. Das EU-Türkei-Abkommen zur Rückführung unerlaubt Eingereister zurück in die Türkei gilt nur für Migranten auf den Inseln, nicht für Migranten auf dem Festland. Hinzu kommt die Befürchtung mancher Politiker in Griechenland: Würden die Lager geräumt und die Einwohner verteilt, könnte es wieder zu einem verstärkten Zustrom aus der Türkei kommen. Dann würde der "abschreckende Effekt" entfallen.
Die Aufnahme kranker Kinder und ihrer engsten Angehörigen auch in Deutschland ist ein erster Schritt. Fast 1.000 Menschen will Deutschland zunächst aufnehmen, Nordrhein-Westfalen nimmt 220. Die Aufnahme der besonders verletzlichen Kinder sei zwar "wunderbar", sagt Marco Sandrone, Projektkoordinator Lesbos der Organisation Ärzte ohne Grenzen im Gespräch mit Laschet. "Aber das sind lächerliche Zahlen." Tausende Flüchtlinge im "Dschungel" seien "völlig außerhalb des Systems". "Nur nicht nach Moria, besser sterben", hätten ihm Neuankömmlinge gesagt.
Angst vor dem Coronavirus
"Wir sehen keinen langfristigen Plan Europas", sagt Sandrone. Ärzte ohne Grenzen arbeite "normalerweise in Kriegsgebieten, aber nicht hier". Nach 23 Uhr gebe es keine Hilfe mehr für die 14.000 Menschen im Camp. Die medizinische Versorgung in Moria laste fast ausschließlich auf den Hilfsorganisationen. Die Angst, dass das Corona-Virus in das Lager eingeschleppt wird, ist bei den Ärzten groß. "Das hier ist die absolut falsche Richtung", sagt Sandrone.
Mit viel Geld wird versucht, die Menschen zur Rückkehr in ihre Heimat zu bewegen. Vor dem Container-Büro der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Moria sitzt eine sechsköpfige Familie aus Herat im Westen Afghanistans. Nun wedelt die IOM-Mitarbeiterin Zoe Leivaditou mit den unterschriebenen Anträgen. 2.000 Euro pro Person bekomme die Familie – auch das Baby, sagt sie. Das seien 12.000 Euro. Damit könne die Familie, die im September 2019 nach Moria gekommen sei, ein neues Leben am Hindukusch beginnen.
"Was passiert mit uns?"
Andere afghanische Flüchtlinge wollen nicht in die Heimat zurück. Sie wollen nach Deutschland – so erzählen es einige Jungen, die als unbegleitete Minderjährige nach Lesbos kamen und in einem abgetrennten Containerbereich von Moria leben. In Afghanistan herrschten Krieg und die Taliban, sagen Familienväter, die sich im Lager Kara Tepe an einem hübschen blau gestrichenen Zaun versammelt haben, um den Politiker aus Deutschland zu sehen.
"Was passiert mit uns? Was werden Sie für uns tun?", fragt ein alter Mann Laschet. Der Mann aus Afghanistan hofft auf Hilfe Laschets bei seinem Asylantrag. Da kann ihm der nordrhein-westfälische Regierungschef nicht helfen. Die Verfahren dauerten lange, aber sie kämen, sagt ihm Laschet. Immer mehr Migranten versammeln sich auch in Kara Tepe in der Hoffnung, dass der fremde Politiker aus Deutschland ihre Rufe hört. Als Armin Laschet das Camp verlässt, winken sie und spenden ihm Applaus.
- Nachrichtenagentur dpa