Skepsis nach Syrien-Waffenruhe Das Sterben wird weitergehen
Fast eine Million Menschen sind im Nordwesten Syriens auf der Flucht. Eine Waffenruhe soll die humanitäre Katastrophe dort beenden. Doch so bald dürfte das Leiden der Menschen nicht vorbei sein.
Seit der Nacht zum Freitag sollen die Waffen in der umkämpften syrischen Rebellenregion um die Stadt Idlib schweigen. Wieder einmal. So jedenfalls haben es Kremlchef Wladimir Putin und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan als Schutzmächte der Kriegsparteien am Donnerstag vereinbart. Türkische Zeitungen zeigen am Freitag Bilder der beiden, die sich lächelnd die Hände schütteln.
Doch nicht nur die syrischen Rebellen sind skeptisch. "Die Waffenruhe wird nicht halten", glaubt der Sprecher der oppositionellen Syrischen Nationalarmee, Jussif Hammud. Und tatsächlich hatten sich Russen und Türken schon früher auf Waffenruhen für das umkämpfte Gebiet geeinigt – die jedoch alle wieder gebrochen wurden, meist eher früher als später.
1. Die Ausgangslage im syrischen Bürgerkrieg:
Idlib im Nordwesten Syriens ist nach fast neun Jahren Bürgerkrieg das letzte große Rebellengebiet des Landes. Bereits im vergangenen Jahr hatten die Anhänger des syrischen Machthabers Baschar al-Assad eine Offensive begonnen - getreu nach Assads Ansage, das ganze Land wieder unter Kontrolle bringen zu wollen. Auch eine im Januar zunächst von Russland verkündete Waffenruhe hielt nicht. Stattdessen rückten Assads Truppen immer weiter vor und konnten strategisch wichtige Gebiete einnehmen.
Syriens Armee wäre allein kaum noch in der Lage, eine Offensive zu starten. An ihrer Seite kämpfen aber ausländische Milizen, die vom Iran unterstützt werden. Dazu gehört unter anderem die schiitische Hisbollah-Miliz aus dem Libanon. Das Rebellengebiet wird von der Al-Kaida-nahen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS) dominiert. Dort kämpfen aber auch moderatere Gruppen, die mit der Türkei verbündet sind. Auch die Türkei selbst hat in der Region Truppen im Einsatz.
2. Die Vereinbarung zwischen Erdogan und Putin:
Dem Abkommen zufolge gilt seit Mitternacht (Ortszeit) eine Waffenruhe. Zudem einigten die Türkei und Russland sich auf einen zwölf Kilometer breiten "Sicherheitskorridor" entlang der strategisch bedeutenden Schnellstraße M4. Diese verbindet die Regierungshochburg an der Mittelmeerküste im Westen mit der Region um die nordsyrische Großstadt Aleppo, die ebenfalls von Assads Anhängern kontrolliert wird. Russen und Türken wollen dort vom 15. März an gemeinsam patrouillieren.
3. Die Folgen der Waffenruhe:
Viele Details sind noch unklar, sie sollen in den nächsten Tagen zwischen den Verteidigungsministerien der Türkei und Russlands ausgehandelt werden. Doch ein "Sicherheitskorridor" entlang der M4 würde das bisherige Rebellengebiet in zwei Teile aufspalten und die Straße für russische Truppen frei machen. Konsequenterweise müssten sich die Rebellen dann eigentlich aus dem Teil südlich der M4 zurückziehen und damit eine erheblichen Teil ihres bisherigen Gebiets aufgeben. Entlang der Straße liegen auch wichtige Städte, aus denen die Regierungsgegner ebenfalls abziehen müssten. All das würde den Truppen von Assad und Russland in die Hände spielen – sie verfolgen schon seit langem das Ziel, die Rebellen von der M4 zu vertreiben.
Erdogan hatte in den vergangenen Tagen gefordert, dass sich die Regierungstruppen aus zuletzt eroberten Gebieten wieder zurückziehen müssen. Auch von einer Schutzzone hatte er gesprochen. Von beidem ist keine Rede in dem neuen Abkommen. Auch eine von der türkischen Regierung geforderte Flugverbotszone sieht es nicht vor.
Es ist zudem kaum vorstellbar, dass sich die militant-islamistische HTS-Miliz kampflos aus Gebieten zurückzieht. Syrien und Russland wiederum haben immer wieder klar gemacht, dass sie weiter gegen "Terroristen" kämpfen werden. Daran waren schon frühere Waffenruhen gescheitert. Das schmälert die Aussichten auf einen Erfolg der neuen.
Unklar ist auch, was aus den türkischen Beobachtungsposten wird, die von syrischen Regierungskräften eingeschlossen sind. Hier drohen neue Kämpfen zwischen dem türkischen und syrischen Militär. Dass die Türkei der Situation misstraut, war bereits am Donnerstagabend aus Erdogans Warnung herauszulesen, dass die Türkei sich das Recht vorbehalte, "auf alle möglichen Angriffe des syrischen Regimes mit all seiner Kraft und auf dem gesamten Feld zu antworten".
Allerdings hat sich die Lage in einem wichtigen Punkt geändert: Die Türkei hat ihre Armee in der Region verstärkt und den Truppen der syrischen Regierung in den vergangenen Tagen schwere Verluste zugefügt. Assads Anhänger treffen auf stärkeren Widerstand als früher. Zugleich sind aber auch viele türkische Soldaten gestorben.
Letztlich liegen die Schlüssel für einen Erfolg der Waffenruhe in Moskau. Sollte Russlands Luftwaffe ihre Angriffe einstellen, könnten die geschwächten syrischen Regierungstruppen ihre Offensive kaum fortsetzen. Doch die Moskauer Zeitung "Nesawissimaja Gaseta" glaubt, dass Putin Assad auch in Zukunft dabei helfen wird, die Kontrolle über das ganze Territorium des Landes wiederzuerlangen."
4. Die humanitäre Katastrophe:
Fast eine Million Menschen sind in der Region seit Anfang Dezember vor Luftangriffen, Kämpfen und den heranrückenden Regierungstruppen in Richtung der türkischen Grenze geflohen. Helfer sind nicht mehr in der Lage, die Notleidenden mit dem Nötigsten zu versorgen - es sind zu viele Vertriebene in kurzer Zeit. Es fehlt an Nahrung, Unterkünften, Heizmaterial und medizinischer Versorgung. Der kalte und nasse Winter verschärft die Lage. Die Gebiete, in die sie fliehen können, werden immer kleiner.
Ein Ende ihres Leidens ist vorerst nicht abzusehen. Immerhin verbucht es die Türkei als Erfolg, dass die unmittelbare Gefahr weiterer Fluchtbewegungen in Richtung ihrer Grenze abgewendet ist, sollten die Waffen schweigen. Die Menschen könnten aber nur dann in ihre Orte zurückkehren, wenn die Waffenruhe tatsächlich dauerhaft hält.
Huda Chaiti, Frauenaktivistin aus Idlib, zeigt sich nicht zuletzt deshalb skeptisch. Sie habe schon früher Waffenruhen scheitern sehen, sagt sie am Freitag. Aber immerhin: "Ich bin heute Morgen ohne das Geräusch von Kampfflugzeugen aufgewacht. Das ist gut."
- Nachrichtenagentur dpa