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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Machtpolitik mit Flüchtlingen Erdogan betreibt ein perfides Spiel und Deutschland hat Mitschuld
Nach der erneuten Eskalation in Syrien lässt Erdogan Flüchtlinge zur EU-Grenze bringen. Dieses inakzeptable Machtspiel offenbart das Scheitern der europäischen Flüchtlingspolitik.
Die Reaktion des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan auf den Tod von 33 türkischen Soldaten in Syrien ist zweigeteilt. Zum einen ist sie militärisch: Er lässt Stellungen syrischer Regierungssoldaten bombardieren, das ist die Logik des eskalierenden Krieges.
Zum anderen ist sie menschenverachtend und perfide: Die türkische Regierung lässt syrische Flüchtlinge in Richtung der griechischen EU-Grenze karren, am Samstag wird Erdogan den Flüchtlingspakt mit der EU für tot erklären. Die Bilder von Flüchtlingen im türkischen Fernsehen dokumentieren wieder einmal das Muskelspiel, mit dessen Hilfe der türkische Präsident schon oft Drohungen in Richtung Europa schickte. Es ist der nächste Versuch des türkischen Präsidenten, die europäischen Staaten zu erpressen.
Das war ein katastrophaler Fehler
Die syrischen Flüchtlinge sind Erdogans Druckmittel gegen seine europäischen Nato-Partner, um Unterstützung im Syrien-Krieg einzufordern. Diese perfide Machtpolitik geschieht auf dem Rücken der Menschen, die aufgrund des Bürgerkrieges in ihrer Heimat eigentlich Hilfe und Mitgefühl verdienen. Doch Empathie und mehr Unterstützung bleiben ihnen verwehrt, sie werden als Spielball der Macht missbraucht.
Die Schuld an diesem Drama trägt Erdogan nicht alleine. Die Europäische Union und vor allem Deutschland haben den türkischen Präsidenten zum Torwächter der Flüchtlingsrouten gemacht. Das war ein katastrophaler Fehler. Es rächt sich nun, dass die Europäer in den vergangenen Jahren versuchten, sich bei der Flüchtlingspolitik aus der Verantwortung herauszukaufen. Somit trägt auch die Bundesregierung eine Mitschuld an dieser menschlichen Schande, denn vor allem Deutschland verteidigte immer die Notwendigkeit des Flüchtlingsdeals mit der Türkei.
EU-Staaten in schwacher Position
Trotz der gegenwärtigen Tragödie darf nicht vergessen werden, dass die Türkei und vor allem die türkische Bevölkerung seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs im Jahr 2011 viel geleistet haben. Die Gesellschaft hat 3,7 Millionen Menschen aus Syrien aufgenommen, das verdient Anerkennung und Respekt. Doch in den vergangenen Jahren hat sich die Einstellung vieler Türken gegenüber den Flüchtlingen verändert, diese werden vermehrt als Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt und um Wohnraum wahrgenommen. Viele Bürger leiden unter der Lira-Krise, was vor allem in Erdogans erratischer Wirtschaftspolitik und seinem autoritärem Politikstil wurzelt.
Die öffentliche Meinung kippte – also ist Erdogan auf eine restriktivere Politik gegenüber den Flüchtlingen umgeschwenkt, damit seine Beliebtheitswerte nicht noch weiter einbrechen. Der türkische Präsident verpasste außerdem kaum eine Gelegenheit, der EU zu drohen, die Grenzen wieder zu öffnen.
Die europäischen Staaten sind angesichts dieser Entwicklung in eine immer schwächere Position geraten. Man bezahlte der Türkei viel Geld und hielt auch still, als die türkische Armee in Nordsyrien einmarschierte. Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei wurde zum zentralen Steuerungselement der europäischen Flüchtlingspolitik, die EU machte sich von den Launen eines Despoten abhängig und erpressbar. Europa ist eine Geisel der Angst, viele Regierungen sind getrieben von der Furcht vor einem weiteren Erstarken des Rechtspopulismus.
Angst spielt Erdogan in die Karten
Diese Angst spielt vor allem einem die Karten: Präsident Erdogan. Er versucht, durch Erpressung mit den Kriegsflüchtlingen Zugeständnisse der EU-Staaten zu erzwingen. Die Türkei sieht sich in Syrien als Opfer, weil sie knapp eine Million Flüchtlinge in Idlib beschützt – aber gleichzeitig von den Nato-Partnern im Stich gelassen wird.
Zum Teil stimmt das sogar. Die EU-Staaten haben sich in Syrien nach anfänglichen Waffenlieferungen an die syrischen Rebellen zurückgezogen und engagieren sich nicht mehr. Auch die USA ließen am Ende dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad freie Hand. Die Türkei steht auf der anderen Seite alleine da, verfolgt aber in Syrien auch eigene Interessen als Regionalmacht und unterstützt dafür auch radikale Islamisten.
Doch das Kriegsglück wendete sich gegen die syrischen Rebellen und auch gegen die Türkei. Erdogan hat sich in Syrien mittlerweile in eine Sackgasse manövriert, mit jedem weiteren getöteten türkischen Soldaten wird der Gesichtsverlust bei einem Rückzug größer, vor allem in der eigenen Bevölkerung. Die Türkei will neue Verhandlungen mit Assad und Russland, braucht dafür aber zunächst ein Kräftegleichgewicht, das nur mit Hilfe des Westens erreicht werden kann. Dafür benutzt Erdogan nun erneut die Flüchtlinge als Druckmittel.
Das dürfen die EU-Staaten nicht dulden. Der Flüchlingspakt mit der Türkei ist nun offenbar tot. Gut so! Die europäischen Staaten müssen dem türkischen Präsidenten mittelfristig den Schlüssel für die Fluchtrouten wegnehmen und die Verantwortung für ihre eigene Flüchtlingspolitik zurückgewinnen. Das erfordert Kraft, Kompromisse und einen langfristigen Plan. Denn klar ist vor allem eines: Europa darf nicht erpressbar sein – besonders nicht von einem Despoten.
- Eigene Recherche