Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in Syrien Erdogan kündigt massiven Angriff auf Assad-Truppen an
Der Krieg in der Provinz Idlib hat eine humanitäre Katastrophe ausgelöst, die Türkei kündigt nun einen Angriff an. Was passiert gerade in Syrien? Die wichtigsten Fragen und Antworten.
Der syrische Bürgerkrieg eskaliert immer weiter, die Bemühungen um eine Entspannung in der Krisenprovinz Idlib fruchten bisher nicht. Während die Armee von Machthaber Baschar al-Assad mit der Unterstützung Russlands den Angriff auf die letzte verbliebene Rebellenhochburg fortsetzt, greift die Türkei immer stärker in den Konflikt ein. Ankara sieht sich als Schutzmacht der Rebellen in der Region und schreckt nicht mehr vor direkten Angriffen auf die syrische Armee zurück.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat auch deshalb den Angriff auf syrische Truppen in Idlib für Ende Februar angekündigt. Die Soldaten von Assad würden aus der Nachbarschaft der türkischen Beobachtungsposten in der Region vertrieben, sagte Erdogan. Er hoffe, dass die Frage der Nutzung des Luftraums über der Provinz im Nordwesten Syriens rasch geklärt werde. Die Lufthoheit in dem Gebiet hat die russische Luftwaffe. Sie unterstützt den Vormarsch der syrischen Regierungstruppen.
Die Opferzahlen steigen währenddessen auf allen Seiten, vor allem unter den Zivilisten. Hunderttausende fliehen vor den Kämpfen in Richtung syrisch-türkische Grenze. Während sich die USA unter US-Präsident Donald Trump kaum noch für Syrien interessieren, sehen die europäischen Länder vor allem die Gefahr vor einer neuen Flüchtlingskrise. Doch bislang reichten ihre Bemühungen nicht aus, um diese erneute Eskalation verhindern zu können.
Der Angriff auf Idlib könnte zum letzten Massaker im nun knapp neun Jahre andauernden syrischen Bürgerkrieg werden. In der Provinz entlädt sich das Gewirr der zahlreichen Fremdinteressen in dem Stellvertreterkrieg. Trotz der zunehmenden humanitären Katastrophe ist der aktuelle Konflikt nur schwer politisch und friedlich zu lösen. Eine Übersicht:
Wer kämpft in Idlib?
Die syrischen Rebellen haben nach knapp neun Jahren Bürgerkrieg den größten Teil ihrer früheren Gebiete verloren und sind stark von ihrem Verbündeten Türkei abhängig. Das letzte große Rebellengebiet ist die Region um die Stadt Idlib im Nordwesten Syriens. Daneben sind Regierungsgegner auch in einem kleineren Grenzgebiet weiter nördlich aktiv, in das die Türkei bei früheren Offensiven eingerückt war, um den IS und die kurdische YPG von dort zu vertreiben. Dominiert wird Idlib von der Al-Kaida-nahen Miliz Haiat Tahrir al-Scham (HTS), aber auch kleinere Gruppen gemäßigter Rebellen kämpfen dort.
Unter türkischer Führung gaben sich die Rebellen dort den Namen Syrische Nationale Armee. Die Türkei sieht in der YPG-Miliz einen Ableger der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK und damit eine Terrororganisation. Die Strukturen, die die Kurden in Nordsyrien entlang der Grenze aufgebaut hatten, waren der Regierung ein Dorn im Auge. Deshalb marschierte Ankara in Nordsyrien ein und errichtete mit Russland eine Sicherheitszone, in der die Regierung auch Millionen syrische Flüchtlinge unterbringen will, die derzeit in der Türkei leben. Einerseits möchte die Türkei kurdische Autonomie verhindern, andererseits ist Erdogan Gegner von Assad und möchte bei einer Nachkriegsordnung in Syrien mit am Verhandlungstisch sitzen.
Die Führung in Damaskus hat nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie das ganze Land wieder unter ihre Kontrolle bringen möchte. Deshalb war der Angriff der syrischen Armee auf Idlib, trotz des Abkommens zwischen Russland und der Türkei über einen Waffenstillstand dort, keine Überraschung. Machthaber Assad hat vor allem durch die Unterstützung aus Russland und dem Iran wieder die Kontrolle über den Großteil Syriens.
Russland ist im Bürgerkrieg ein zentraler Akteur. Moskau unterstützt nicht nur die Regierung militärisch, sondern pflegt auch Kontakte zu den Kurden und verhandelt mit der Türkei und dem Iran über die politische Zukunft des Bürgerkriegslandes. Dabei ist das Assad-Regime von Russland abhängig, der Kreml investierte viel, schickt Söldner und fliegt zahlreiche Luftangriffe auf Rebellen. Auch deswegen ist Russland nicht bereit, die Kontrolle über das Land zu teilen. Der Vorwand für den Angriff auf Idlib stand in Moskau von vornherein fest: der Kampf gegen den islamistischen Terrorismus.
Warum ist die Lage in Idlib gefährlich?
Idlib ist die letzte verbliebene Rebellenhochburg im Land, hier sammeln sich vor allem zahlreiche Kämpfer islamistischer Milizen. Als die Rebellen die Städte Aleppo und Ost-Ghuta an die syrische Armee verloren hatten, durften sie mit Bussen die Gebiete verlassen. Sie sammelten sich in Idlib.
Neben Kämpfern suchten auch Tausende Zivilisten Zuflucht in Idlib, denn in der Provinz blieb es jahrelang friedlich, es wurde kaum gekämpft. Nach dem Beginn des Angriffs der syrischen Armee und Russlands auf Idlib sind nach Angaben der Vereinten Nationen (UN) knapp eine Million Menschen auf der Flucht, UN und Welthungerhilfe sprechen schon jetzt von einer neuen Flüchtlingskrise.
Der Unterschied zu den Kämpfen zuvor ist, dass Rebellen und Zivilisten in Idlib mit dem Rücken zur Wand stehen. Die Assad-Gegner fürchten, mit Gefängnis und Repressionen bestraft zu werden, wenn sie aufgeben, eine Flucht ist nicht mehr möglich. Deshalb ist es für viele Rebellen die letzte Schlacht, es droht ein Blutbad.
Seit Beginn des Aufstandes gegen Assad im März 2011 sind schätzungsweise 400.000 Menschen in Syrien getötet worden.
Warum ist die humanitäre Situation katastrophal?
Es gibt auch für Flüchtlinge kaum einen Ausweg. Die türkisch-syrische Grenze ist dicht, die türkische Regierung will nicht noch mehr Flüchtlinge im Land haben, weil man in den Jahren zuvor geschätzt 3,7 Millionen Menschen aus Syrien aufgenommen hatte. Deshalb gibt es für Zivilisten in Nordsyrien kein Vor und kein Zurück. Viele Zivilisten fürchten sich vor dem Assad-Regime und speziell vor Repressionen und Folter durch den syrischen Geheimdienst. Luftangriffe, vor allem durch Russland und die syrische Armee, treffen oft Zivilisten. Das Regime und seine Verbündeten möchten den Krieg nun möglichst schnell beenden, dafür scheint jedes Mittel recht.
Deshalb sitzen Hunderttausende in Zeltstädten in Nordsyrien nahe der türkischen Grenze fest. "Die Kämpfe schreiten jetzt in Gebiete mit der höchsten Konzentration von Menschen – einschließlich der Vertriebenen – voran und drohen, humanitäre Lebensadern zu kappen", sagt UN-Generalsekretär António Guterres. Das Risiko einer "unkontrollierbaren Eskalation" mit unvorhersehbaren Folgen durch das von Russland unterstützte Vorrücken der syrischen Armee steige.
Die bislang angenommene Zahl von knapp 800.000 neuen Flüchtlingen, die in der Region versorgt werden müssten, werde deutlich überschritten, sagt Guterres. "Wir überarbeiten unsere Pläne und appellieren dringend an die Spender, weitere 500 Millionen US-Dollar zur Deckung der Bedürfnisse der neu Vertriebenen bereitzustellen." Insgesamt seien 2,8 Millionen Menschen im Nordwesten Syriens auf humanitäre Unterstützung angewiesen.
Wie sind die Kräfteverhältnisse im Kampf um Idlib?
Russland und das syrische Regime schienen militärisch die Oberhand in Idlib zu haben, ihre Truppen verzeichneten schnelle Geländegewinne in der Provinz. Moskau hoffte sicherlich, dass die Türkei nicht gewillt ist, militärisch noch mehr in Syrien zu investieren, doch offenbar hat man sich im Kreml bei dieser Einschätzung geirrt.
Anfänglich waren die syrischen Rebellen und auch die Türkei durch die Offensive der Assad-Truppen überrumpelt, doch die türkische Armee schickte Truppen und Material in die Region. Erdogans Drohungen folgten Taten, nun fliegt die Türkei Luftangriffe auf die syrische Armee – ein Szenario, was noch vor kurzer Zeit völlig undenkbar war und eine neue Eskalationsstufe markiert. Und je mehr türkische Soldaten durch Angriffe der syrischen Armee sterben – bislang waren es im Februar neun – desto weniger wird die türkische Seite bereit sein, zurückzuweichen.
Das scheint auch Russland zu verstehen und gibt sich zunehmend verschnupft. Die Türkei würde Terroristen schützen, heißt es aus dem Kreml.
Zuletzt wird das Kräftegleichgewicht durch das zunehmende Engagement der Türkei ausgeglichener und das könnte die Kämpfe in die Länge ziehen. Zuletzt verzeichneten die Rebellen sogar wieder Geländegewinne: Unterstützt vom türkischen Militär hätten Aufständische den Ort Nairab eingenommen, erklärten Vertreter der türkischen Seite und der Rebellen. Es ist das erste Gebiet, das die Kämpfer von den vorrückenden syrischen Regierungstruppen zurückeroberten. In türkischen Sicherheitskreisen hieß es, nach der Einnahme von Nairab sei das nächste Ziel der Ort Sarakeb. Dort trifft Syriens Nord-Süd-Autobahn, die die Großstädte Damaskus und Aleppo verbindet, auf eine Straße nach Westen ans Mittelmeer.
Wie kann der Konflikt gelöst werden?
Der Konflikt kann eigentlich nur politisch gelöst werden. Diese Floskel geistert gerne durch die internationale Politik, ist aber in Syrien völlig zutreffend. Denn selbst wenn das Assad-Regime Idlib erobern sollte, drohen seine Gegner in den Untergrund abzutauchen, mit jeder Bombe, die in Idlib fällt, drohen sich mehr Menschen zu radikalisieren. Der Aufstieg des IS im Irak sollte dabei ein mahnendes Beispiel sein.
Angesichts der humanitären Katastrophe haben 14 Außenminister europäischer Staaten einen dringenden Appell an die Konfliktparteien gerichtet, den t-online.de exklusiv veröffentlichte. Die Unterzeichner, zu denen auch Bundesaußenminister Heiko Maas zählt, rufen in dem Schreiben das syrische Regime und dessen Unterstützer dazu auf, die Offensive gegen die Rebellenhochburg Idlib zu beenden und den im Herbst 2018 vereinbarten Waffenstillstand einzuhalten.
Trotzdem zeichnet sich diplomatisch bisher keine Lösung ab. Der für kommende Woche anvisierte Syrien-Gipfel mit Deutschland, Frankreich, Russland und der Türkei sei noch nicht sicher, sagte Erdogan. Bundeskanzlerin Angela Merkel, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Russlands Staatschef Wladimir Putin seien sich untereinander noch nicht vollständig einig.
Als Termin für das Treffen ist der 5. März im Gespräch. Möglicherweise werde er sich dann mit Putin treffen, sagte Erdogan. Bei dem Treffen sollte es eigentlich um Wege gehen, wie der Konflikt in Provinz Idlib entschärft werden kann. Die Gespräche auf höchster internationaler Ebene sollten schnell stattfinden, denn je länger die bewaffneten Kämpfe in der Region dauern, desto schwieriger wird eine Deeskalation. Und die Gewalt in Idlib hat inzwischen ein solches Ausmaß angenommen, dass nicht nur die Vereinten Nationen vor einem Blutbad warnen.
- Eigene Recherche
- Mit Material von Reuters, AFP und dpa