Drohende Massenflucht In Idlib könnte die Flüchtlingskrise neu aufflammen
Der Türkei stünde ein neuer Flüchtlingsansturm bevor, sollte es zur großen Offensive auf Idlib in Syrien kommen. Ankara steht wegen der Millionen Syrer im Land ohnehin schon unter Druck. Als Notventil könnte Erdogan den Weg nach Europa nutzen.
Der türkische Regierung hat die "syrischen Brüder und Schwestern" lange mit offenen Armen empfangen, doch seit 2015 ist die Grenze zu dem Bürgerkriegsland dicht. Mit 3,5 Millionen Syrern im Land sieht Ankara die Belastungsgrenze erreicht, und in der Bevölkerung wächst der Unmut über die syrischen Gäste. Eine Offensive der syrischen Regierung auf die Rebellenhochburg Idlib im Nordwesten könnte jedoch erneut hunderttausende Menschen in die Flucht treiben, weshalb Ankara hektisch versucht, eine Lösung zu finden.
"Aus türkischer Sicht ist ein weiterer Zustrom von Flüchtlingen extrem problematisch", sagt der Syrienexperte Heiko Wimmen von der International Crisis Group. "Besonders weil bei einer Öffnung der Grenze kaum zu verhindern wäre, dass mit den Flüchtlingen tausende von Dschihadisten einsickern." Ein Großteil der syrischen Region Idlib wird schließlich von Hajat Tahrir al-Scham (HTS) kontrolliert, deren Kern frühere Al-Kaida-Kämpfer sind.
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Die türkische Regierung ist seit Wochen in intensiven Verhandlungen, um eine Offensive der syrischen Regierungstruppen noch abzuwenden. Ein Angriff auf Idlib könnte 800.000 Menschen zur Flucht zwingen, erste Familien flohen bereits. Da Idlib die letzte Rebellenbastion in Syrien ist, gibt es kein Gebiet, wohin die zehntausenden Kämpfer ausweichen könnten. Es wird daher mit besonders erbitterten Gefechten gerechnet.
"Hürriyet": Türkei droht Demütigung
Wie die türkische Zeitung "Hürriyet" berichtete, verstärkte die Türkei jüngst ihre Truppen in der Grenzprovinz Hatay, um auf einen Fluchtsandrang vorbereitet zu sein. Auch habe sie das Flüchtlingslager Atmeh auf der syrischen Seite der Grenze ausgebaut und weitere Soldaten zu den zwölf Beobachtungsposten am Rande von Idlib entsandt, die die dort geltende Waffenruhe überwachen. Insgesamt 1200 türkische Soldaten sollen dort nun stationiert sein.
Die Türkei drohe jedoch "auf demütigende Weise aus der Region verjagt zu werden", sollte Assad sich entschließen, Idlib zurückzuerobern, warnt die "Hürriyet"-Kolumnistin Barcin Yinanc. Die Gespräche der Präsidenten der Türkei, des Iran und Russlands am Freitag in Teheran würden nur noch über "das Maß der Demütigung" entscheiden. Ein Anstieg der Flüchtlingszahl in der Türkei sei "die geringste Sorge Russlands", warnt Yinanc.
Wimmen sieht jedoch noch eine Chance, die Offensive abzuwenden. Wenn die Türkei es schaffe, die Rebellen in Idlib zur Öffnung der Straßen zwischen Aleppo, Hama und Lattakia zu bewegen, ein Ende der Drohnenangriffe auf die russische Luftwaffenbasis Hmeimim zu erreichen und weitere Maßnahmen zur Isolierung der HTS-Dschihadisten zu ergreifen, gebe es eine Chance, dass Russland vorerst eine Offensive Assads nicht unterstütze.
Öffnet die Türkei ihre Grenze?
Der Syrienexperte Galip Dalay von Alsharq Forum sieht dagegen für die Türkei bestenfalls die Chance, Russland dazu zu bewegen, eine Offensive zu verzögern oder zu begrenzen. Doch selbst bei einem nur begrenzten Angriff dürften viele Zivilisten vertrieben werden. Neben der Türkei könnten für Flüchtlinge die Region Afrin und angrenzende Gebiete in Nordsyrien ein Ziel sein, die von der türkischen Armee und verbündeten Rebellen kontrolliert werden.
Eine begrenzte Fluchtbewegung nach Afrin wäre laut Dalay für die Türkei akzeptabel, doch eine große Zahl von Flüchtlingen würde die Region destabilisieren. Wenn es in Idlib zu einer humanitären Katastrophe komme, werde Ankara kaum umhin kommen, die Grenze zu öffnen, sagt er. Gilt die Türkei doch schon lange als die Schutzmacht der Rebellen in Idlib. Im Fall eines massiven Anstiegs der Flüchtlingszahl würde die Türkei sicher zusätzliche Unterstützung der Europäer fordern oder sogar die Grenzen öffnen.
"Auch andere europäische Länder könnten das Ziel dieser Zuwanderung sein", warnte bereits der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu beim Besuch seines deutschen Kollegen Heiko Maas am Mittwoch in der Türkei. Wimmen mahnt, dass im Fall eines großen Flüchtlingsandrangs ohne "schnelle und vorbehaltlose Hilfe" der Europäer die Türkei nicht mehr willens oder in der Lage sein könnte, die Flüchtlinge von der Weiterreise in die EU abzuhalten.
- AFP