Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Kolumne "Russendisko" Es ist eine Frage der Zeit
Das Ende von Wladimir Putins Herrschaft sehnen sich viele Menschen herbei. Es wird zwangsläufig kommen, sinniert Wladimir Kaminer bei einem Zoobesuch. Alles nur eine Frage der Zeit.
Gibt es russische Volksfeste in Deutschland? Aber sicher, die gab es schon immer, vor allem in den ländlichen Gegenden Nordrhein-Westfalens und Baden-Württembergs. Vor über zwanzig Jahren, als mein erstes Buch "Russendisko" herausgekommen war, tourte ich mit der gleichnamigen Veranstaltung durchs Land, wurde aber nie zu diesen russischen Volksfesten eingeladen. Logisch, ich legte guten russischen Punkrock auf, für Volksfeste untauglich.
Ich wurde jedoch oft mit den Volksfesten verwechselt. Etliche Veranstalter hatten mit dem Titel "Russendisko" Probleme. An manchen Orten mischte sich gar die Stadtverwaltung oder die Polizei ein. "Russendisko? Wieso ladet Ihr so was ein? Neulich hatten wir doch schon eine Russendisko im Parkhaus hinter den Garagen, Massenschlägerei, Brandschaden, zwei Verletzte …"
Zur Person
Wladimir Kaminer ist Schriftsteller und Kolumnist. Er wurde 1967 in Moskau geboren und lebt seit Jahrzehnten in Deutschland. Zu seinen bekanntesten Werken gehört "Russendisko". Sein aktuelles Buch "Mahlzeit! Geschichten von Europas Tischen" erschien am 28. August 2024.
In der Regel waren damit die schon erwähnten Volksfeste gemeint, mit lautem Russenpop, großer Grillanlage und einer Menge Alkohol. Manchmal wurden dazu auch irgendwelche Bands oder Popsänger eingeladen, die sich bereits in Russland bei den Volksfesten einen Namen gemacht hatten. Doch die Musik war nie das Highlight solcher Partys. Das Geheimnis des Erfolgs hat mir einmal ein Veranstalter in der Nähe von Göppingen so erklärt: "Wenn Du willst, dass die Menschen sich gut amüsieren, darf der Wodka-Shot nicht teurer als 1 Euro sein", sagte er.
Seit zweieinhalb Jahren gibt es ein Fest der anderen Art in Berlin, zu dem ich stets eingeladen werde. Mehr als tausend Menschen versammeln sich auf einer Wiese am Stadtrand hinter Steglitz, dort wo die eigentliche Stadt schon zu Ende ist und nur noch Schrebergartenkolonien und einige Golfplätze zu finden sind. Die Stimmung bei diesem Fest würde ich als fröhlich-melancholisch bezeichnen. Es sind vor allem Neuankömmlinge, vor dem Krieg und dem Regime geflüchtete Menschen.
Kein Vergleich!
Sie trinken keinen Wodka und sie singen nicht. Das achtstündige Programm begann letztes Jahr mit dem Vortrag eines Literaturwissenschaftlers: "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust und Verdrängung der Wirklichkeit als Heilmittel." Dieses Jahr war das angekündigte Highlight des Abends ein Gespräch zum Thema "Migration, die an die Macht kam".
Oft wird die heutige Migration, die der Menschen, die in Putins Reich nicht leben beziehungsweise nicht überleben können, mit der Auswanderung des Adels nach der bolschewistischen Revolution 1917 verglichen, die in der russischen Exilliteratur große Spuren hinterlassen hat. Es existiert eine ganze Bibliothek der Tagebücher und Romane, die das Leid der Ausgereisten beschreiben: Stabsoffiziere, die als Taxifahrer in Paris endeten, und die Töchter des russischen Adels, die aus Not einen Beruf erlernen mussten und als Näherinnen oder Gouvernanten ihr täglich Brot verdienten.
Doch der Vergleich hinkt, sagen die Migranten von heute. Putin ist kein Bolschewik, von ihm betriebener Demokratieabbau gleicht nicht einer Revolution. Solche historischen Vergleiche geben bloß das Wunschdenken derer wieder, die sie verbreiten. Man soll nicht vergessen, dass die Bolschewiken, die Sieger der Revolution von 1917, ebenfalls alle Migranten waren, bevor sie die Macht in ihrer Heimat ergriffen.
Lenin, Trotzki, Stalin, sie alle haben jahrelang in Zürich, Wien und Paris die bitter-süßen Croissants des Exils gegessen, während das Russische Reich wie von allein ins Verderben steuerte. Die russische Monarchie hatte sich im Grunde selbst erledigt. Auch Putins Regime wird über kurz oder lang über die eigenen Beine stolpern, so breitbeinig, wie es auftritt.
Zoo statt Wiese
Eine optimistische These, die gut geeignet ist, um die Stimmung auf der Russenwiese in Steglitz zu heben. Denn sonst gibt es nicht viel Gutes zu berichten. Der sinnlose Krieg tötet und verletzt seit beinahe drei Jahren immer mehr Menschen, die Sanktionen scheinen dem Land nichts auszumachen, die Zensur wird immer stärker, die Führung immer frecher, und dem Volk in seiner Mehrheit scheint das Geschehen vollkommen egal zu sein. Es möchte nicht nach oben schauen, solange keine Bomben auf die eigenen Dächer niederregnen.
Wie würde es wohl dieses Jahr auf der Wiese sein? Ich überlegte, später dorthin zu fahren. Am selben Tag war ich nämlich mit zwei alten Freunden im Magdeburger Zoo verabredet. Einmal im Jahr besuchen wir einen Zoo in Deutschland und schauen, ob es den Tieren dort gut geht. Wir waren schon in Berlin, in Rostock, in Eberswalde, in Leipzig und Dresden, nun stand Magdeburg auf dem Plan.
Meine Freunde können mit Tieren besser als mit Menschen, der eine war dreißig Jahre lang Elefantenpfleger in Cottbus, der andere hatte vor der Wende in einem Zoohandel in Hamburg gearbeitet und ebendiese Elefanten nach Ostdeutschland verkauft. Sie wissen alles über Elefantenleben in Deutschland. Wer in den Magdeburger Zoo hineinwill, muss zuerst an einer Grundschule vorbei. Sie ist so nahe an den Tieren, als wäre sie in den Zoo integriert.
Das neue Schuljahr hatte gerade begonnen, der Schulhof während der Pause konnte jedem Affengehege Paroli bieten, die Schüler waren deutlich lauter und lustiger als ihre Verwandten in den Gehegen. Der Zoo glich einem Park, ideal zum Spazierengehen, um sich über die Widrigkeiten des Lebens zu unterhalten und ab und zu exotische Tiere zu treffen. Der Löwe schlief, die Elefanten wollten beim Essen nicht gestört werden. Besonders viele gehörnte, mir unbekannte Tierarten überraschten mit ihren prunkvollen Namen.
Google hilft
Mindestens die Hälfte der Gehörnten war mir vorher unbekannt gewesen. Ich googelte neugierig, um herauszufinden, wie ihre Namen auf Russisch klingen, und wunderte mich jedes Mal über groteske Unterschiede in beiden Sprachen bei der Benennung der Tierarten. Bereits Leo Tolstoi verglich deutsche Sprache mit den Eisenbahngleisen, die ineinander gesteckt sich bis an den Horizont ausbreiten.
Im Deutschen kann man bekannterweise alle möglichen Worte aneinanderreihen, sie werden dadurch länger und sind dann nicht unbedingt gleich im Duden zu finden, aber jeder versteht sofort, was gemeint ist. Also überlegte ich, vor dem Gehege mit Kammhasennasenantilopen stehend, wie wohl die Berufsbezeichnung für die Menschen klingt, die sich um diese Tiere kümmern. Kammhasennasenantilopenpfleger?
Und wie heißt dann ihre Ausbildungsstätte? Je länger ich mit den Freunden im Zoo spazierte, umso weniger hatte ich Lust, auf die Wiese zu den Russen zu fahren. Das Wetter war einfach zu gut und die Tiere so lustig drauf, die Pfleger so freundlich, und das Eis schmeckte gut.
"Migration, die an die Macht kam", muss das sein? Ich überlegte. Ist die Migration nicht die neue, bessere Form der gewaltlosen Revolution? Früher oder später werden die meisten von den Neuankömmlingen loslassen, sich an den neuen Ort gewöhnen, ihre alten Berufe ausüben oder neue spannende Berufe lernen und ein neues Leben auf unbekanntem Territorium beginnen. Möglicherweise als Kammhasennasenantilopenpfleger.