t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePolitikAuslandKrisen & Konflikte

Ukraine-Krieg | Historiker zu Russland: "Blatt würde sich gegen Putin wenden"


Interview
Unsere Interview-Regel

Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.

Zum journalistischen Leitbild von t-online.

Historiker Timothy Snyder
"Wir überschätzen Russland völlig"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 01.08.2024Lesedauer: 7 Min.
Wladimir Putin: Russland wird überschätzt, sagt Historiker Timothy Snyder.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russland wird überschätzt, sagt Historiker Timothy Snyder. (Quelle: Pavel Bednyakov/reuters)
News folgen

Viele halten Russland für mächtig. Doch dieser Eindruck täuscht gewaltig, sagt Historiker Timothy Snyder. Allein in einer Hinsicht sei das Kremlregime sehr erfolgreich.

Wie stark ist Russland? Diese Frage ist nicht nur für die angegriffene Ukraine entscheidend, sondern auch für die westlichen Demokratien. Denn wir befinden uns allesamt im Visier des Kremlregimes, Wladimir Putin weiß genau um die psychologischen Schwachstellen unserer Gesellschaften. Diese Warnung spricht Timothy Snyder aus, führender Historiker und einer der besten Kenner Osteuropas.

Warum wird Russland so überschätzt? Was würde eine Wiederwahl Donald Trumps für die Welt bedeuten? Und warum ist es noch lange nicht an der Zeit, die Hoffnung aufzugeben? Diese Fragen beantwortet Timothy Snyder im Gespräch.

t-online: Professor Snyder, überschätzen oder unterschätzen wir Russland?

Timothy Snyder: Putins System ist ziemlich brüchig. Sein Regime lässt unsere Vorstellungskraft für sich arbeiten. Zu 75 Prozent findet alles, was wir Russland zutrauen, lediglich in unseren Köpfen statt. Im Falle Deutschlands werden es eher 85 Prozent sein. Wir überschätzen Russland und sein Regime völlig.

Diesem Regime gelingt es aber mit Erfolg, in den westlichen Staaten mit Desinformation für Irritation und Angst vor einer Eskalation zu sorgen.

In mancher Hinsicht ist das Regime klug, etwa darin, dass diese Leute rücksichtslos einschätzen können, wo unsere psychologischen Schwachstellen liegen. Dann drohen sie uns einfach mit Dingen, von denen sie wissen, dass sie uns bremsen werden. Im Falle Deutschlands erinnern sie an den Zweiten Weltkrieg und appellieren an den Frieden, wenn es um Amerika geht, versuchen sie, den Kalten Krieg heraufzubeschwören und schüren die Angst vor einem Atomkrieg.

Alles mit dem Ziel, die westliche Unterstützung für die Ukraine ins Wanken zu bringen?

Darin besteht Putins Hoffnung. Russland kann die Ukraine im Moment militärisch nicht überwältigen, deswegen geht es darum, den Nachschub an Waffen zu unterbinden. Der Weg dahin besteht darin, in unsere politischen Systeme und Köpfe einzudringen. Das ist Russlands einzige Hoffnung auf den Sieg, das ist der Grund, warum wir es überschätzen. Wie stellen sie das aber an? Sie versuchen, ihre Leute in den westlichen Staaten an die entscheidenden Stellen zu hieven.

Zur Person

Timothy Snyder, Jahrgang 1969, lehrt Geschichte an der Yale University im US-Bundesstaat Connecticut und ist Permanent Fellow am Institut für die Wissenschaft vom Menschen in Wien. Snyder ist einer der führenden Intellektuellen der USA, als Historiker hat er vor allem die Geschichte Osteuropas und des Holocaust erforscht. Sein Buch "Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin 1933–1945" avancierte zum Bestseller. Nach "Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand" erscheint am 19. September 2024 Snyders neues Werk "Über Freiheit" bei C.H. Beck. Essays von Snyder finden sich bei Substack, so hier über "Political Violence".

Für wie erfolgreich halten Sie diese russischen Versuche?

Russland ist erfolgreicher, als uns lieb sein kann. Es gibt ja mittlerweile ausreichend Untersuchungen, die belegen, dass manche europäische Politiker und auch Journalisten buchstäblich für Russland gearbeitet haben. Auch in Amerika sind wir gegen russische Beeinflussung alles andere als gefeit. Putins Regime spielt mit uns.

Und hofft auf die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus?

Daran ist Putin sehr gelegen. Neben diesen Leuten, die buchstäblich Agenten der russischen Macht sind, hat Donald Trump noch einmal eine ganz andere Bedeutung. Wenn Trump zurückkehren sollte, wird das ziemlich schlecht für die USA, ziemlich schlecht für die Ukraine, aber auch für Europäer und Deutsche sein. Putin wartet auf Trump, daraus macht er keinen Hehl, Trump ist Russlands Mann. Denn Trump würde die Demokratie weiter beschädigen.

Wie wäre die Vorgehensweise?

Wir müssen uns auf einiges gefasst machen. Trump wird im Falle einer erneuten Präsidentschaft wahrscheinlich behaupten, dass der Krieg gegen die Ukraine die Schuld der Nato sei. Putin hätte berechtigte Beschwerden gehabt, Kim Jong Un, der nordkoreanische Diktator, sei eine sehr kluge Person. Warum? Weil Kim mit Gewalt regiert. Mit Trump drohen vier weitere Jahre, in denen sich Amerika in einer Art untergeordneter Position befände. Es wäre eine gute Zeit für autoritäre Regime weltweit.

Welches Interesse eint diese Regime bei allen Unterschieden?

Moskau und Peking, Teheran und Pjöngjang haben keine gemeinsame Ideologie oder Zukunftsvision, aber sie eint der gemeinsame Feind in Form der Demokratie. Aus welchem Grund? Weil diese Regime durch demokratische Bewegungen im eigenen Land bedroht werden könnten. Deswegen müssen sie die Idee der Demokratie unterdrücken und im besten Fall auch in anderen Ländern als lächerlich erscheinen lassen. Dafür ist Trump ein ideales Werkzeug. Trump macht die Demokratie bereits lächerlich, möglicherweise bringt er sie in den USA auch noch zu Fall.

Machen Sie bei Trump irgendeine Form von Ideologie aus?

Nein. Trump hat keine Ideologie, sondern persönliche Beschwerden über Zustände, die ihm missfallen, und eine grundsätzlich transaktionale Haltung: Trump ist bereit, jeden Deal mit jedem zu machen. Egal, worum es geht, egal mit wem. Deswegen ist er auch bereit, Ideen hauptsächlich von Wladimir Putin und Xi Jinping zu übernehmen. Er käut wieder, was sie sagen. Angesichts der breiten Koalition gegen die Demokratie auf der ganzen Welt ist das ziemlich übel. Die Kandidatur von Kamala Harris gibt aber neuen Grund zur Hoffnung.

Was wird aus Europa in dieser krisenhaften Zeit?

Es könnte bedeuten, dass Europa und Deutschland das weltweit wichtigste Zentrum des demokratischen Denkens werden. Im Zusammenspiel mit anderen Staaten wie Japan. Europa muss sich aber dringend auf diese Rolle vorbereiten.

Davon ist bislang nicht viel zu verspüren.

Es ist an der Zeit. Die europäischen Staaten können zumindest auf einem niedrigen Niveau weiter die Vorbereitungen treffen, um ihre industrielle Basis in die Lage zu versetzen, durch eine nachhaltige Produktion die Ukraine vor einer Niederlage zu bewahren. Denn wenn die Ukraine verliert, ist das ein dramatischer Kipppunkt.

Ein Kipppunkt, der die Gefahr einer weiteren russischen Aggression gen Westen steigert?

Das und noch mehr. Nicht nur die Wahrscheinlichkeit, dass es im restlichen Europa zu einem Krieg kommt, würde steigen, sondern Russland, China und andere autoritäre Regime würden mächtig Rückenwind bekommen. Eine Niederlage der Ukraine würde der ganzen Welt bestätigen, dass die Demokratien schwach und die Autokratien stark sind. Es wäre ein furchtbarer Schlag für die Idee des internationalen Rechts, das die Grundlage für das Funktionieren des europäischen Projekts darstellt. Wir sollten also wirklich alles dafür tun, dass die Ukraine bestehen wird.

Wir beurteilen Sie die gegenwärtige Situation im Krieg?

Die Ukraine ist nach wie vor in einer dramatischen Lage. Sie kämpft gegen Invasoren, die auf ihrem Territorium eine Politik des Völkermords betreiben und die Ukraine als Kultur auslöschen wollen. Daneben beobachten wir den natürlichen Unwillen der ukrainischen Menschen, an die Front zu gehen und zu kämpfen. An der Front läuft es aber relativ gut für die Ukraine, besser, als manche denken. Die russische Offensive gen Charkiw ist gescheitert, Russland hat viele, viele Männer verloren und praktisch kein Land gewonnen. Im Donbas ist die Situation aber schlimmer.

Loading...
Loading...

Wo hat die Ukraine weitere Erfolge erzielt?

Den Ukrainern gelingt es immer besser, Ziele innerhalb Russlands anzugreifen. Sie kontrollieren zunehmend das Schwarze Meer, der Handel darüber ist wieder auf Vorkriegsniveau angelangt. Die ukrainischen Siege finden aber zu wenig Beachtung. Warum? Weil wir in einer Erzählung gefangen sind. Russland, dieses große und starke Land, müsste doch unbedingt gewinnen? Nein. Ich wiederhole mich: Wir überschätzen Russland völlig. Nicht zuletzt ist das eine nicht allzu überzeugende Entschuldigung für unsere eigene Untätigkeit.

Das gemeinnützige Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) wurde 1982 in Wien mit dem Ziel gegründet, den intellektuellen Austausch innerhalb der Geistes- und Sozialwissenschaften sowie insbesondere zwischen Ost- und Westeuropa zu fördern. Timothy Snyder ist Professor für Geschichte in Yale und Permanent Fellow des IWM. Dort hielt Snyder kürzlich die Vorlesung "The New Paganism".

Spielen Sie auf die westliche Unterstützung für die Ukraine an, die wesentlich stärker ausfallen könnte?

Mit der richtigen Taktik, den richtigen Waffen und der Bereitschaft des Westens, die Ukrainer diese Waffen auch effizient einsetzen zu lassen, kann die Ukraine diesen Krieg gewinnen. Da kommt der Marschflugkörper Taurus aus Deutschland ins Spiel. Wenn die Ukraine diese Waffen für Fernangriffe einsetzen dürfte, um damit die russische Logistik zu zerstören? Dann kann Russland diesen Krieg nicht mehr gewinnen. Jedenfalls nicht, ohne eine derart große Anzahl an Menschen zu verlieren, die sich auch Putin nicht ohne Weiteres leisten kann.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat der Lieferung von Taurus an die Ukraine eine Absage erteilt.

Wenn man als Deutscher über diesen Krieg nachdenkt, liegt der Gedanke nahe, dass die Ukraine diesen Krieg nicht gewinnen kann, in dem Russland sie zahlenmäßig überwältigt. Das bedeutet, dass die Ukrainer den russischen Vormarsch und Nachschub aufhalten müssen, was russische Offensiven erschwert. Die Kertsch-Brücke zur Krim muss zerstört werden, die russische Logistik in einem Gebiet von ein paar Hundert Kilometern vor der ukrainischen Grenze beziehungsweise Front unhaltbar gemacht werden. Dann können wir auf eine politische Krise in Russland warten, das Blatt würde sich gegen Putin wenden.

Mittlerweile gibt es vermehrt Stimmen, die vor einem noch größeren Krieg warnen. Wie ist Ihre Einschätzung?

Der größere Krieg findet doch längst statt. Die Ukrainer kämpfen ihn, sie kämpfen ihn für sich, aber sie kämpfen ihn indirekt auch für uns. Damit schaffen sie uns diese unglaubliche Möglichkeit, im Grunde in Frieden leben zu können. Größer, im Sinne von territorial ausgedehnter, ist dieser Krieg nicht, weil die Ukrainer diesen Konflikt mit unserer Hilfe auf einen Teil ihres Territoriums beschränken. Deswegen bleibt es aber trotzdem ein großer Krieg.

Wie wirkt sich der Krieg auf Russland aus?

Dieser Krieg ist auf jeder Ebene schrecklich für Russland – und nicht einmal im russischen Interesse. Er macht Russland zum Vasallen Chinas. Der Krieg ist furchtbar für den russischen Staat, aber insbesondere schrecklich für die russische Bevölkerung und die nächste Generation von jungen Russen. Es ist eine traumatische Erfahrung, Gewalt zu erleben und auszuüben.

Wir haben nun viel über Krieg und Gewalt gesprochen. Sehen Sie auch positive Entwicklungen?

Der Klimawandel kann die Welt unbewohnbar machen. Andererseits haben wir technische Instrumente, mit deren Hilfe wir das umgehen können. Wir sind in der Lage, unsere Abhängigkeit von fossilen Energieträgern zu überwinden. Wladimir Putin und Donald Trump sind Menschen, die beide mehr oder weniger direkt mit den Gewinnen aus diesen fossilen Energien verbunden sind. Die Lösung des einen Problems birgt so in gewisser Weise die Lösung des anderen. Aber wir konzentrieren uns ohnehin zu viel auf Trump und Putin.

Inwiefern?

Trump kann verlieren, Putin kann verlieren. Harris kann Trump besiegen. Wenn dieser Fall eintritt, werden wir die Wende zu einem besseren Europa, zu einem besseren Nordamerika einleiten können. Ich halte das für sehr gut möglich. Die Dinge müssen keineswegs immer schlechter werden.

Ihr Optimismus in allen Ehren.

Wir sind an einer Bruchstelle angelangt. Entweder wird es viel besser oder noch viel schlimmer werden. Um dieses Gespräch tatsächlich mit etwas Optimismus enden zu lassen: Ich habe ein Buch über Freiheit geschrieben, es erscheint bald in Deutschland. Es geht davon aus, dass wir nur die richtigen Ideen verwirklichen müssen, um eine bessere Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen.

Professor Snyder, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Timothy Snyder in Wien
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



TelekomCo2 Neutrale Website