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Russland und Populismus | Historiker warnt: "Noch nie so viele Krisen"


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Historiker Winkler
"Das ist ein echter Paradigmenwechsel"


Aktualisiert am 23.05.2024Lesedauer: 11 Min.
Wladimir Putin: Die Bedrohung durch Russland hätte früher erkannt werden müssen, sagt Heinrich August Winkler.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Die Bedrohung durch Russland hätte früher erkannt werden müssen, sagt Heinrich August Winkler. (Quelle: Mikhail Tereshchenko/dpa)

Zu ihrem 75. Geburtstag befindet sich die Bundesrepublik Deutschland in dramatischer Lage: Russland führt Krieg im Osten Europas, in Deutschland drängen Populisten an die Macht. Doch die westlichen Demokratien können die Herausforderung meistern, erklärt der Historiker Heinrich August Winkler.

Deutschland und sein Grundgesetz feiern ihren 75. Geburtstag. Eigentlich ein Grund zur Freude, doch die Lage ist so ernst wie selten zuvor: Russland bedroht Europa und demontiert mit seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine die regelbasierte Weltordnung, in Deutschland erstarkt der Populismus. Kann die deutsche Demokratie diesen Gefahren trotzen?

Zumindest hat sie gute Voraussetzungen, sagt mit Heinrich August Winkler einer der renommiertesten Historiker Deutschlands. Die Bundesrepublik sei eine wehrhafte Demokratie. Wo aber drohen die größten Gefahren, welche Fehler der Vergangenheit rächen sich nun? Und wie können Deutschland und der Westen in einer immer gefährlicheren Welt bestehen? Diese Fragen beantwortet Heinrich August Winkler im t-online-Interview.

t-online: Professor Winkler, an ihrem 75. Geburtstag stehen das Grundgesetz und die Bundesrepublik Deutschland vor existenziellen Herausforderungen, von innen wie von außen. Ist unsere Demokratie dafür gerüstet?

Heinrich August Winkler: Die Bundesrepublik hat schon viele Krisen erlebt, aber noch nie so viele Krisen auf einmal. Klimakrise, Migrationskrise, der Ukraine- und der Nahostkrieg, Rezession: Das ist eine beunruhigende Kumulation. Vor 75 Jahren waren die Deutschen dabei, sich allmählich aus dem Elend der ersten Nachkriegsjahre herauszuarbeiten. Die Väter und Mütter des Bonner Grundgesetzes hatten die Chance, aus den Fehlern der ersten deutschen Demokratie, der Weimarer Republik, zu lernen.

Wie erfolgreich waren sie bei dieser historischen Aufgabe?

Sie haben diese Chance genutzt. Diese Männer und Frauen schufen eine wehrhafte repräsentative Demokratie, die sich als funktionstüchtig erwiesen hat. In den frühen Jahren der Bonner Republik hat das "Wirtschaftswunder" viel dazu beigetragen, das Vertrauen in die Demokratie zu festigen. Heute darf man hoffen, dass die wirtschaftliche Erholung, die sich jetzt abzuzeichnen beginnt, dazu führen wird, dass die Stimmungslage sich aufhellt. Das dürfte auch dem Ansehen der Demokratie nützen. Dieses ist in Deutschland in den vergangenen Jahren übrigens weniger gesunken als in einigen anderen europäischen Ländern. Die Bundesrepublik gilt zu Recht als eine der stabilsten Demokratien der westlichen Welt.

Zur Person

Heinrich August Winkler, 1938 in Königsberg geboren, lehrte bis zu seiner Emeritierung Neueste Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Winkler ist einer der renommiertesten deutschen Historiker, seine Publikationen, wie "Der lange Weg nach Westen" und die "Geschichte des Westens", sind Standardwerke. 2022 erschien im Verlag C.H. Beck Winklers Buch "Nationalstaat wider Willen. Interventionen zur deutschen und europäischen Politik".

Trotzdem steht sie vor einer enormen inneren Herausforderung. Neben der sozialen Frage wird der Populismus immer stärker, vor allem in Form der AfD, aber auch dem Bündnis Sahra Wagenknecht. Warum sind Populisten gegenwärtig so erfolgreich?

Die Anziehungskraft der Populisten ist nicht nur, aber auch nicht zuletzt ein Konjunkturphänomen. Bessert sich die Wirtschaftslage, dürfte der Zulauf zu den Parteien am rechten Rand nachlassen. Aber auf bessere Zeiten zu hoffen, reicht nicht. Die demokratischen Parteien müssen die Alltagssorgen der Bürger ernst nehmen. Sie dürfen nicht über deren Köpfe hinwegreden und sie nicht überfordern. Das gilt für die Klima- wie für die Migrationspolitik. Alles, was die demokratischen Parteien als abgehoben oder elitär erscheinen lässt, ist Wasser auf die Mühlen der Populisten.

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Die Gewalt gegen Politiker nimmt zu, jüngste Beispiele sind die Angriffe auf den sächsischen SPD-Europakandidaten Matthias Ecke und Berlins Wirtschaftssenatorin Franziska Giffey. Schützen Demokratie und Rechtsstaat ihre Vertreter ausreichend?

Der sächsische Vorschlag, das Strafgesetzbuch durch Bestimmungen zum Schutz von Politikern, Wahlkampfhelfern und ehrenamtlich tätigen Bürgern zu ergänzen, kommt zur rechten Zeit. Wenn der Rechtsstaat roher Gewalt gegenüber Andersdenkenden nicht mit der gebotenen Härte entgegentritt, werden die Einschüchterungsversuche der Extremisten sich häufen. Mindestens ebenso wichtig aber sind die Beiträge, die die politische Bildungsarbeit und die Zivilgesellschaft leisten müssen, um Hass und Gewalt zu überwinden.

Welche Unterschiede sehen Sie gegenwärtig zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands?

Die Spaltung Deutschlands in zwei Staaten und zwei politische Kulturen nach 1945 wirkt bis heute nach. Die Deutschen im Westen hatten das Glück, es mit demokratischen Besatzungsmächten zu tun zu haben, die den demokratischen Neuanfang förderten. Aber Glück ist kein Verdienst. Die Ostdeutschen hatten dieses Glück nicht. Sie erhielten erst durch die Friedliche Revolution von 1989 die Chance, ihre politischen Geschicke in Freiheit selbst zu gestalten.

Der demokratische Neuanfang der Bundesrepublik und ihre Anbindung an den Westen und dessen politische Kultur waren durchaus langwierig und problembehaftet. Was war die entscheidende Entwicklung?

In der "alten" Bundesrepublik fanden seit den frühen sechziger Jahren harte Auseinandersetzungen über die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts statt. Dabei ging es um den Anteil des Deutschen Reiches an der Auslösung des Ersten Weltkriegs, die tieferen Gründe für das Scheitern der Weimarer Republik, den Aufstieg und die Herrschaft des Nationalsozialismus und den historischen Ort der deutschen Menschheitsverbrechen, die Ermordung der europäischen Juden. Im Zuge dieser öffentlichen Kontroversen kam es zu einer allmählichen Überwindung von obrigkeitlichen Prägungen des Denkens und zu einer breiten Öffnung der Bundesrepublik gegenüber der politischen Kultur des Westens.

Ein Prozess, der in der DDR aus offensichtlichen Gründen nicht stattfinden konnte. Wie prägt sein Ausbleiben die heutige politische Kultur Ostdeutschlands?

In der DDR war ein freier Meinungskampf über das historische und politische Selbstverständnis der Deutschen nicht möglich. Unter der Decke des von oben verordneten "Antifaschismus" lebten vielerorts alte deutschnationale Vorbehalte gegenüber der westlichen Demokratie und deren Vormacht, den USA, fort. An diese Ressentiments knüpften nach der Wiedervereinigung nationalistische Parteien wie die NPD und die Deutsche Volksunion, die DVU, an, die im Westen nur Splitterparteien waren, im Osten aber teilweise spektakuläre Wahlerfolge verbuchen konnten. Heute ist es die AfD, die mit beträchtlichem Widerhall an diese Vorurteile appelliert und einen traditionellen deutschen Nationalismus pflegt.

Wie hätte dem vorgebeugt werden können?

Es rächt sich, dass die politische Bildungsarbeit nach der Wiedervereinigung im Osten Deutschlands sträflich vernachlässigt worden ist. Die demokratischen Parteien müssen die fatalen wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Folgen deutlich machen, die es hätte, wenn die AfD irgendwo an die Macht käme. Ein Deutschland, in dem die Rechte das Sagen hätte, würde über kurz oder lang die Westbindung durch eine Ostbindung ersetzen und dann in ein Abhängigkeitsverhältnis mit den Diktaturen in Russland und China geraten. Wer die Freiheit liebt, muss den neo-autoritären Kräften entgegentreten, bevor sie irgendwo Einfluss auf die Regierungen bekommen.

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Hätte Deutschland nach der Wiedervereinigung besser eine "neue" Verfassung bekommen sollen, wie es auch das Grundgesetz selbst nahelegte?

1990 kam alles darauf an, das "Fenster der Gelegenheit" zu nutzen, das sich nach dem Fall der Berliner Mauer geöffnet hatte. Niemand wusste, wie lange die Reformer Michail Gorbatschow und Eduard Schewardnadse in der Sowjetunion an der Macht bleiben würden. Die DDR stand vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. Die erste freie Volkskammerwahl am 18. März 1990 war faktisch ein Plebiszit für die schnellstmögliche Verwirklichung der deutschen Einheit. Deswegen sprach alles für eine rasche Wiedervereinigung in Form des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik nach Artikel 23 des Grundgesetzes und gegen die langwierige Erarbeitung einer gesamtdeutschen Verfassung gemäß Artikel 146.

Wäre aber eine Art gemeinsame "Bekräftigung" des Grundgesetzes der Deutschen in West und Ost nicht ratsam gewesen?

Über das inzwischen überarbeitete und ergänzte Grundgesetz hätte, am besten zeitgleich mit der zweiten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 16. Oktober 1994, eine Abstimmung nach Artikel 146 stattfinden können. Dass das nicht geschehen ist, bleibt ein Versäumnis der damals Regierenden.

Kommen wir zu den äußeren Bedrohungen: Zu lange haben die Bundesregierungen darauf vertraut, dass Russland kooperativ bleiben würde, allen Warnungen der Nato-Partner im Osten zum Trotz. War das fahrlässig?

Wir haben uns nach 1990 zu lange in dem Glauben gewiegt, von Freunden umgeben zu sein. Tatsächlich gab es schon im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts viele Gründe, gegenüber dem Russland Putins auf der Hut zu sein. Es gab nichts zu deuteln an der Entschlossenheit des "starken Mannes" im Kreml, Russland im autoritären Sinn umzugestalten und oppositionelle Gruppen und Individuen auszuschalten. Der Tschetschenienkrieg zeigte, zu welcher Brutalität Putin fähig ist. Spätestens seit seiner aggressiven Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz vom 10. Februar 2007 war klar, dass es ihm darum ging, so viel wie möglich vom territorialen Bestand und dem Einflussbereich der Sowjetunion wiederherzustellen. Deren Auflösung hatte Putin ja schon zwei Jahre zuvor, im April 2005, als "die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet.

War dann nicht spätestens die Wegnahme der Krim 2014 Putins Signal an den Westen, dass er internationale Regeln nicht respektiert?

Die völkerrechtswidrige Annexion der Krim und der Beginn des hybriden Krieges im Donbass Anfang 2014 markierten das Ende der Nach-Kalte-Kriegszeit. Putin setzte sich über das Verbot des Angriffskriegs in der Charta der Vereinten Nationen hinweg; er brach internationale Verträge und kündigte die Charta von Paris vom November 1990 auf: also jenes Dokument, in dem sich alle Mitgliedstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, darunter die Sowjetunion, verpflichtet hatten, ihre nationale Souveränität, ihre territoriale Integrität und ihr Recht auf freie Bündniswahl zu respektieren.

Gleichwohl kooperierte Deutschland weiter mit Russland zum Verdruss der Nato-Partner im Osten.

Es war ein strategischer Fehler der Regierung Merkel und der sie tragenden Parteien, der CDU/CSU und der SPD, sich noch nach der Zäsur von 2014 auf den Bau einer weiteren russischen Gaspipeline durch die Ostsee, Nord Stream 2, einzulassen. Deutschland stärkte dadurch Putins internationale Position und steigerte die eigene Abhängigkeit von Russland auf dem Feld der Energieversorgung. Die Warnungen der Ukraine und der ostmitteleuropäischen EU- und Nato-Partner, besonders Polens und der baltischen Republiken, wurden in den Wind geschlagen. Die Folgen zeigten sich sechs Jahre später, nach dem Beginn des offenen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022.

Warum tut die SPD sich so schwer, von ihrer gescheiterten Verständigungspolitik mit Russland abzulassen?

Die SPD hat unter der Führung von Lars Klingbeil damit begonnen, die Irrtümer ihrer Russlandpolitik aufzuarbeiten. "Sicherheit vor Russland" statt "Sicherheit mit Russland": Das ist ein echter Paradigmenwechsel. Der Revisionsprozess aber ist auf halber Strecke steckengeblieben. Es genügt nicht, sich von dem Putin-Freund und Russland-Lobbyisten Gerhard Schröder zu distanzieren. Es gilt auch, mit der pauschalen Verklärung der sozialdemokratischen Ostpolitik in den Jahren vor 1990 zu brechen.

Eine Politik, die untrennbar mit den Namen Willy Brandt und Egon Bahr verbunden ist.

Willy Brandts Ostpolitik war eine notwendige, ja überfällige Ergänzung der von Konrad Adenauer durchgesetzten Westbindung der Bundesrepublik. In ihren Anfängen war die Ostpolitik der sozialliberalen Koalition nach 1969 ein Teil der westlichen Entspannungspolitik und eng mit der militärischen, sprich nuklearen Abschreckungspolitik der Verbündeten, obenan der USA, verbunden. Die Sowjetunion hatte unter Leonid Breschnew ein starkes Interesse an einer Wahrung und Sicherung ihres europäischen Besitzstandes. Sie war, so gesehen, zu einer Status-quo-Macht geworden, und das machte sie verhandlungsbereit.

Wir hören ein "Aber" aus Ihren Worten?

Aber es gab eben auch eine zweite Phase der Ostpolitik in den Achtzigerjahren. Die SPD, seit Herbst 1982 in der Opposition, betrieb damals unter dem maßgeblichen Einfluss von Egon Bahr, einem der engsten Berater von Willy Brandt, eine Nebenaußenpolitik in Gestalt von Sicherheitspartnerschaften mit den Staats- und Parteiführungen der "sozialistischen Staaten". Die Bürgerrechtsbewegungen des Ostblocks, besonders die 1980 gegründete unabhängige Gewerkschaft Solidarność in Polen, wurden als friedensgefährdende Störfaktoren wahrgenommen und entsprechend behandelt.

Das klingt aus heutiger Sicht fast absurd.

Dabei waren diese Bewegungen Kinder der Ostpolitik: Sie beriefen sich auf die Menschenrechtsklauseln der Helsinki-Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa von 1975, die in gewisser Weise die Krönung der sozialliberalen Ostverträge bildete. Die zweite Phase der Ostpolitik stand unter der fast schon nationalistisch klingenden Devise "Im deutschen Interesse" – der sozialdemokratischen Wahlkampfparole vom März 1983. In dieser Phase sollte das gesichert und ausgebaut werden, was die Regierungen der sozialdemokratischen Kanzler Willy Brandt und Helmut Schmidt an Erleichterungen für das geteilte Deutschland erreicht hatten.

Es handelte sich also mindestens um ein ausgeprägtes Maß an Egoismus.

Für die Freiheitsbestrebungen in den Diktaturen des Warschauer Pakts, des östlichen Gegenstücks zur Nato, blieb da kein Platz. Dieses weithin verdrängte Kapitel der sozialdemokratischen Parteigeschichte muss endlich aufgearbeitet werden. Aber nicht nur die SPD, auch die Unionsparteien haben allen Grund, mit ihren russlandpolitischen Irrtümern selbstkritisch ins Gericht zu gehen. Von einer solchen Bereitschaft ist bei der CDU und der CSU bislang wenig zu spüren.

Wie sollte die deutsche Russland-Politik Ihrer Meinung nach aussehen, was braucht es jetzt?

Die deutsche Politik muss der Tatsache Rechnung tragen, dass sich Putins Russland in einem wesentlichen Punkt von der Sowjetunion unter Breschnew unterscheidet: Das heutige Russland ist keine Status-quo-Macht. Es verfolgt vielmehr eine radikal revisionistische, ja imperialistische Agenda. Sie spricht der Ukraine das Daseinsrecht als selbstständige Nation ab. Die Ukraine kämpft, wenn sie ihre Unabhängigkeit verteidigt, zugleich für die gemeinsamen Werte der westlichen Demokratien. Deswegen muss die Ukraine, so gut es nur irgend geht, von Deutschland militärisch, wirtschaftlich, politisch und moralisch unterstützt werden.

Wir erinnern uns an die andauernde Debatte um die Marschflugkörper Taurus. Sollte die Ukraine auch derartige Waffen von Deutschland erhalten?

Sie bedarf der Waffensysteme, die zur Abwehr der russischen Aggression erforderlich sind. Dazu gehören nach meiner Meinung auch Marschflugkörper vom Typ Taurus. Das deutsche Entscheidungstempo hinkt, was die Waffenlieferungen betrifft, weit hinter den dringenden Bedürfnissen der Ukraine hinterher. Das muss sich ändern. Einen "Primat der Innenpolitik" kann sich Deutschland in Sachen Unterstützung der Ukraine auch im eigenen Interesse nicht leisten. Zu Verhandlungen wird Putin erst bereit sein, wenn er eingesehen hat, dass er den Krieg gegen die Ukraine nicht gewinnen kann.

Waffenlieferungen an die Ukraine werden von rechter und linker Seite kritisiert, dort besteht die anhaltende Illusion einer möglichen Verhandlungsbereitschaft aufseiten Russlands. Was ist davon zu halten?

Die selbsternannten "Friedensfreunde" von rechts und links wollen die Realität nicht zur Kenntnis nehmen. Sie schüren verbreitete Ängste vor einem Krieg mit Russland und beuten sie aus. Die demokratischen Parteien müssen diesem Treiben offensiv entgegentreten. Auf keinen Fall dürfen sie der Versuchung nachgeben, mit Appeasement-Parolen den Parteien vom rechten und linken Rand das Wasser abgraben zu wollen. Sie stärken dadurch nur die Kräfte, von denen sie sich abgrenzen wollen.

Was halten Sie von europäischen Atomwaffen?

Europäische Atomwaffen sind eine Utopie, und das schon aus finanziellen Gründen. Die nichtatomaren Mitglieder der Nato müssen ihre konventionelle Rüstung optimieren und sich mit den nuklear bewaffneten Staaten des Bündnisses so eng wie möglich abstimmen, sich vielleicht sogar an der Finanzierung ihrer Atomwaffen beteiligen. Aus guten Gründen verstärkt die Bundesregierung derzeit die rüstungspolitische Zusammenarbeit mit Frankreich und Großbritannien.

Wird die Nato Bestand haben – auch nach einer möglichen Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus?

Sollte Donald Trump die amerikanische Präsidentenwahl im November 2024 gewinnen, würde das den transatlantischen Westen in eine schwere Krise stürzen. Ich erwarte nicht, dass die USA unter Trump aus der Nato ausscheiden werden. Aber es wäre kein Verlass mehr darauf, dass sie im Ernstfall zu ihren Bündnis- und Beistandspflichten stehen. Umso wichtiger ist schon jetzt die Stärkung der politischen und militärischen Zusammenarbeit der anderen Nato-Staaten. Das gilt nicht nur für die europäischen Mitglieder des atlantischen Bündnisses, sondern auch für ihre Beziehung zu der anderen großen nordamerikanischen Demokratie, zu Kanada.

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Die größte Bedrohung für die Nato wird in Donald Trump gesehen. Was ist aber, wenn weitere europäische Nationen künftig von Rechten und Populisten regiert werden sollten?

Gefahren für die westliche Verteidigungsallianz drohen nicht nur seitens der USA, sondern auch in Europa, das ist richtig. Sollte in Frankreich 2027 Marine Le Pen vom Rassemblement National in den Élysée-Palast einziehen, wird das Verhältnis Deutschlands zu Großbritannien bald enger sein als das zu Frankreich. Die liberalen Verfassungsstaaten des transatlantischen und des globalen Westens werden enger denn je zusammenrücken müssen, sollten die Nationalpopulisten in Washington und Paris an die Macht kommen.

Der Westen hat seine globale Vormachtstellung eingebüßt – nun kann er nur noch die von ihm geprägte liberale Weltordnung verteidigen. Wird ihm dies angesichts seines inneren und äußeren Zustands möglich sein?

Der Westen ist heute von innen mindestens ebenso bedroht wie von außen. Die freiheitliche Ordnung muss gleichzeitig gegen ihre Verächter im Inneren und die Herausforderungen durch die autoritären Mächte verteidigt werden. Die westlichen Werte, die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte, der Herrschaft des Rechts, der Volkssouveränität und der repräsentativen Demokratie, haben ihre weltweite Anziehungskraft nicht verloren.

Wie kann der Westen aber in Konkurrenz zu Diktaturen und Autokratien bestehen?

Glaubwürdig können westliche Demokratien nur für ihre Werte werben, wenn sie mit ihren Verstößen gegen die eigenen Werte selbstkritisch umgehen. Zu diesen Verstößen gehören Sklavenhandel und Sklaverei, Kolonialismus und Imperialismus. Ein selbstkritisches Selbstbewusstsein: Das ist das, was die liberalen Demokratien sich erarbeiten müssen. Wenn sie das schaffen, haben sie gute Aussichten, aus dem ideologischen und politischen Ringen mit den autoritären bis neo-totalitären Mächten als Sieger hervorzugehen.

Professor Winkler, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Schriftliches Interview mit Heinrich August Winkler
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