Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Nahost auf dem Weg in den Großkrieg Ein Schlag folgt auf den nächsten
Israel und Iran steigern sich immer weiter hinein in eine gefährliche Gewaltspirale. Das ist brandgefährlich für die ganze Welt.
Ein Gedankenspiel: Stellen Sie sich einen Außerirdischen vor, der im April 2024 auf der Erde landet. Dieser extraterrestrische Besucher bekäme ein erschütterndes Bild von der Lage auf dem blauen Planeten: das Klima vor dem Kipppunkt und massenhaftes Artensterben, taumelnde Staaten und erstarkende Narzissten, ein bestialischer Angriffskrieg in Osteuropa und eine unaufhaltsame Eskalation im Nahen Osten. Niemand könnte es diesem Außerirdischen vorwerfen, wenn er angesichts dieser deprimierenden Verhältnisse auf der Stelle kehrtmachte und sich in friedlichere Ecken der Galaxie zurückzöge.
Das Bild vom Außerirdischen mag weit hergeholt sein, aber manchmal hilft ein Perspektivwechsel, um sich die eigene Situation zu verdeutlichen. Die Weltlage im Frühjahr 2024 ist tatsächlich erschütternd. Kein Wunder, dass auch hierzulande immer mehr Menschen das aktuelle Nachrichtengeschehen ausblenden und sich in ihren privaten Kokon zurückziehen. Die Welt da draußen erscheint vielen als zunehmend bedrohlich und unberechenbar.
Wer jedoch an den Brennpunkten der gegenwärtigen Krisen lebt, für den gibt es kein Entkommen. In Israel leben die Menschen Tag und Nacht in Angst vor Raketenangriffen. Die Menschen im Gazastreifen leiden Hunger und Todesangst. Die Iraner ächzen unter einem Regime, das nicht nur andere Staaten, sondern auch die eigene Bevölkerung terrorisiert.
Millionen Menschen im Nahen Osten sind gefangen in einer Eskalationsspirale. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober, der israelische Kriegszug im Gazastreifen, die Attacken der jemenitischen Huthi auf Handelsschiffe im Roten Meer und das Säbelrasseln der libanesischen Hisbollah, der israelische Angriff auf iranische Generäle in Damaskus, der Drohnensturm des Iran gegen israelische Städte – und nun offenbar eine weitere israelische Attacke auf Ziele im Iran: Ein Schlag folgt auf den nächsten. Wie du mir, so ich dir. Auge um Auge, Zahn um Zahn. In alttestamentarischer Erbarmungslosigkeit schlagen die Gegner aufeinander ein, und es scheint niemanden zu geben, der ihnen Einhalt gebieten kann. In Teheran sitzen Extremisten, aber auch in Jerusalem sitzt ein Extremist – demokratisch gewählt zwar, aber erkennbar mehr an der Erhaltung seiner Macht interessiert als an der Beruhigung der brandgefährlichen Situation.
Allein die Extremisten treiben die Eskalation voran
Amerikas welterfahrener Präsident Joe Biden übt zwar Druck auf Israels Regierungschef Netanjahu aus, das ist ihm hoch anzurechnen. Nicht auszudenken, wenn an seiner statt der irrlichternde Donald Trump in Washington das Sagen hätte. Aber selbst Joe Biden besitzt nicht die Autorität, den nahöstlichen Kriegsfürsten Einhalt zu gebieten, die Eskalation zu stoppen, dem Frieden wieder eine Chance zu geben.
Dabei stehen die Chancen für eine dauerhafte Befriedung gar nicht so schlecht. Das Mullah-Regime in Teheran ist geschwächt; es kann kein Interesse an einem echten Krieg mit Israel haben, den es wohl nicht überleben würde. Saudi-Arabien und die emiratischen Scheichs wünschen sich Stabilität und Ruhe in der Region und gedeihliche Beziehungen zu Israel, damit sie ihre Rentenökonomien umbauen können. Die Türken und die Ägypter haben ebenfalls kein Interesse an weiterer Unsicherheit, wirtschaftlicher Destabilisierung, noch mehr Flüchtlingen.
Allein die Extremisten treiben die Eskalation voran. Um ihnen Einhalt zu gebieten, bräuchte es wahrlich bedeutende Persönlichkeiten. Menschen wie Jitzchak Rabin, den großen Israeli, der vom Frontkämpfer zum Friedensschmied reifte. Wie den norwegischen Diplomaten Jan Egeland, der den Osloer Friedensprozess zwischen Israel und der palästinensischen PLO anbahnte. Menschen, die nicht nur an das Gute glauben, sondern auch bereit sind, ihre eigenen Ambitionen hintanzustellen, um im Interesse von Millionen Zeitgenossen ein größeres Ziel zu erreichen.
Die heutigen Entscheider im Nahen Osten – von Netanjahu in Jerusalem bis Chamenei in Teheran – sind davon weit entfernt. Und die westlichen Vermittler – von Biden in Washington bis Baerbock in Berlin – haben leider nicht die Kraft, daran etwas grundlegend zu ändern. Das ist ebenso tragisch wie gefährlich. Um das zu erkennen, muss man gar kein Außerirdischer sein.