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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Historiker Scianna über Nahost "Gerade für Deutschland ist das eine gute Nachricht"
Der Nahe Osten gilt als notorisches "Pulverfass", Russland und China bauen in der wichtigen Weltregion ihren Einfluss massiv aus. Historiker Bastian Matteo Scianna erklärt, warum die westlichen Staaten aufpassen müssen.
Der Nahe Osten ist eine riesige Region und von immenser Bedeutung, gerade für Europa. Eine Tatsache, die auch in Russland und China bekannt ist. Wie agieren Moskau und Peking im Nahen Osten, welche Fehler begehen die Europäer in dieser Weltregion? Diese Fragen beantwortet der Historiker Bastian Matteo Scianna, Herausgeber des Buches "Der Nahe Osten in einer globalisierten Welt", im Gespräch.
t-online: Herr Scianna, was ist der größte Irrtum über den sogenannten Nahen Osten?
Bastian Matteo Scianna: Irrig ist tatsächlich unser Bild vom "Pulverfass" Naher Osten. So paradox dies angesichts der aktuellen Entwicklungen etwa im Krieg Israels gegen die Hamas klingen mag. Medial wird über den Nahen Osten meist in Bezug auf Krieg und Gewalt berichtet, positive und friedliche Entwicklungen schaffen es weit weniger in die Schlagzeilen.
Was ist eine gute Nachricht aus der Region?
Israel muss sich zum Beispiel – im Gegensatz etwa zu 1967 oder 1973 – in Zeiten höchster Not nicht an mehreren Fronten gegen seine arabischen Nachbarstaaten verteidigen. Auf zwischenstaatlicher Ebene gibt es daher weniger Konfliktpotenzial als früher. Das ist eine wichtige Errungenschaft. In Deutschland bekommen die Menschen davon allerdings wenig mit, in den Schlagzeilen der Medien geht es weit mehr um Explosionen und Stichwörter wie "Pulverfass" oder "Flächenbrand".
Woran liegt das? Sie haben gerade mit "Der Nahe Osten in einer globalisierten Welt" ein Buch mit Experteneinschätzungen zu dieser Weltregion mitveröffentlicht.
"Naher Osten" ist ein Kunstbegriff aus dem 19. Jahrhundert, mit dem wir diesen riesigen Raum geografisch fassbar machen wollen. Er reicht – je nach Sichtweise – mindestens von Ägypten im Westen bis zum Iran im Osten, vom nördlich gelegenen Syrien bis zum Jemen im Süden der arabischen Halbinsel. Allein dieses Ausmaß verdeutlicht, dass Naher Osten nur ein grober Oberbegriff ist, der vieles auslässt und zudem in diesen Staaten angesichts seines kolonialistischen Hintergrunds mehrheitlich abgelehnt wird. Wir versuchen in dem Band die langen Entwicklungslinien bis in die Gegenwart aufzuzeigen. Verständlich, prägnant und wissenschaftlich.
Bastian Matteo Scianna, Jahrgang 1987, ist habilitierter Historiker und seit 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt am Historischen Institut der Universität Potsdam. Scianna lehrt und forscht unter anderem zu deutscher Außenpolitik, europäischer Integration und Konflikten im Nahen Osten. Kürzlich gab er den Sammelband (mit Stefan Lukas) "Der Nahe Osten in einer globalisierten Welt. Entwicklungslinien, Gegensätze, Herausforderungen" heraus.
Lässt sich gleichwohl eine Gemeinsamkeit der Staaten des Nahen Ostens ausmachen?
Das Verbindende besteht in einer komplexen Vielfalt. Für Europäer und Amerikaner herrscht im Nahen Osten vor allem Krieg, ein Eindruck, der für viele nach der Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023, Israels folgenden Operationen in Gaza und dem Schlagabtausch mit dem Iran scheinbar wieder Bestätigung gefunden hat. Ja, Konflikte, Krisen und Terrorismus existieren im Nahen Osten, aber eben nicht nur. Gerade für Deutschland und Europa ist das doch eine ziemlich gute Nachricht.
Weil wir als unmittelbarer Nachbar der Region von stabilen politischen und wirtschaftlichen Verhältnissen im Nahen Osten profitieren?
Selbstverständlich. Mein Mitherausgeber Stefan Lukas stellt in unserem Buch die Auswirkungen der Klimakrise auf die Region dar. Der Meeresspiegel steigt, die Dürren nehmen zu, um nur wenige Beispiele zu nennen. Durch den Klimawandel bedingte Schäden verursachen dann nicht nur ökonomische Schäden, sondern sorgen auch für politische Unruhen und zwischenstaatliche Konflikte. Eine derartige Verschärfung der Sicherheitslage und entstehende Migrationsbewegungen kann Europa schlecht ignorieren.
Auch ohne die Auswirkungen der Klimakrise ist die Situation brenzlig. Die Angriffe der mit Iran verbündeten Huthis im Jemen auf Handelsschiffe im Roten Meer zeigen, wie verletzlich die gerade für Deutschland so wichtigen internationalen Seewege sind.
Der Nahe Osten ist ein Drehkreuz der internationalen Warenströme. Erinnern Sie sich, als das Containerschiff "Ever Given" 2021 den Suezkanal lahmlegte? Es war ein Lehrstück, wie abhängig wir von freien und funktionierenden Seewegen sind. Die Märkte Asiens, die aufstrebenden Volkswirtschaften Afrikas und eben wir Europäer werden durch den Nahen Osten miteinander verbunden.
Stichwort Asien: China weitet seinen Einfluss im Nahen Osten aus, nach einem sogenannten Friedensplan für den russisch-ukrainischen Krieg hatte Peking auch "Vorschläge" für ein Ende des Krieges zwischen Israel und der Hamas gemacht. Was will China im Nahen Osten?
China kommt immer stärker in die Region und investiert massiv in Energie. Das Ziel besteht in der Schaffung von Abhängigkeitsverhältnissen. Das sollte uns Sorgen machen. Es geht um Interessen und Einfluss. Sich diese Tatsache vor Augen zu führen, ist von höchster Wichtigkeit. Allerdings findet sie in der politischen Praxis noch zu wenig Anwendung.
Sie spielen auf Teile der deutschen China-Politik an?
Ja. Kooperation existiert im Drehbuch der chinesischen Außenpolitik nur sehr begrenzt und zielt vor allem auf wirtschaftliche Zusammenarbeit – man denke an Russland: Die "Modernisierungspartnerschaft" in Moskau wurde immer nur als wirtschaftliche Modernisierung aufgefasst, gesellschaftspolitisch herrschte im besten Fall Stillstand, meistens noch Rückschritt. Der Versuch, nun China im Nahen Osten für Friedensverhandlungen einzubinden, wie man es auch im Falle des Krieges zwischen Russland und der Ukraine diskutiert, klingt auf den ersten Blick lobenswert: globale Probleme, globale Lösungen. Alle tragen zur Lösung bei, alle sind glücklich. Aber worauf würde es am Ende hinauslaufen? China wäre dann Garantiemacht für Europas Sicherheit beziehungsweise jene im Nahen Osten. Wollen wir das wirklich?
Setzt die deutsche Politik eventuell zu sehr auf Dialog und die Kooperationsbereitschaft auswärtiger Staaten?
Dialog, Kooperation, Runde Tische – alles Grundpfeiler deutscher Außenpolitik. Aber was, wenn die andere Seite keinen Dialog will? Spätestens seit der russischen Vollinvasion der Ukraine vom 24. Februar 2022 ist doch klar: Unsere europäischen Werte und Interessen, unsere Demokratie und unsere demokratischen Partnerländer müssen zur Not auch verteidigt werden.
Bleiben wir im Nahen Osten: Wie könnte Deutschland im Konflikt zwischen Iran und Israel, dessen Sicherheit auch Olaf Scholz als Teil deutscher Staatsräson betrachtet, entschiedener auftreten?
Eurofighter der Bundeswehr hätten zum Beispiel Mitte April aufsteigen können, um den Israelis und Jordaniern bei der Abwehr iranischer Drohnen zu helfen. Die Franzosen und Briten haben Israel hier sehr konkret geholfen. Deutschland nicht. Stattdessen führen wir wie so oft die Diskussion, ob denn wirklich eine Anfrage vorgelegen hätte, was wir abgeben könnten et cetera. Deutschland ist einfach sehr berechenbar in diesen Situationen. Verstehen Sie mich nicht falsch: Selbstverständlich sind diplomatische und friedliche Beilegungen von Konflikten immer am besten, doch wer Handlungsoptionen vom Tisch nimmt, der schwächt sich und die westliche Position. Vorauseilende Selbsteinhegung hilft niemandem. Was wurde denn aus der "Zeitenwende", möchte man da manchmal fragen.
Beim kürzlichen Schlagabtausch zwischen Iran und Israel kamen die anfangs erwähnten "Pulverfässer" und "Flächenbrände" wieder zum Ausdruck.
Ergänzt werden sie durch die oft bemühte "Eskalationsspirale". Tatsächlich prallen immer wieder zwei Welten aufeinander, wenn deutsche Außenpolitik und israelisches Sicherheitsestablishment aufeinandertreffen. Für Letzteres zählt allein die Frage, wie die Abschreckung nach der Terrorattacke der Hamas vom 7. Oktober 2023 und dem iranischen Angriff vom vergangenen April wiederhergestellt werden und die Bedrohung abgeschwächt werden kann.
Als "komplexe Vielfalt" beschreiben Sie die Situation im Nahen Osten. Gehört dazu auch die Tatsache, dass Jordanien und Saudi-Arabien Israel vor dem iranischen Angriff geschützt haben?
Absolut. Die Konflikte in der Region sind komplex, neben der Feindschaft des Iran gegenüber Israel ist die strategische Rivalität zwischen Teheran und Saudi-Arabien bedeutsam. Mit den Huthis hat der Iran Verbündete im Süden der Arabischen Halbinsel und mit der Hisbollah im Libanon und der Hamas in Gaza auch am Mittelmeer beziehungsweise im Norden und Süden Israels. Allerdings sind die Saudis mittlerweile an einer Deeskalation gegenüber dem Iran bemüht.
Zugleich spielen Golfstaaten wie Katar, die über einen gewissen Einfluss auf die Hamas verfügen, eine größere Rolle.
Wir beobachten Veränderungen im strategischen Gefüge in der Region. Ägypten war lange Zeit eine regionale Vormacht, mal dem eigenen Anspruch nach, in mancher Hinsicht auch tatsächlich, nun zieht es sich aber zurück, während die wirtschaftsstarken Golfstaaten eine zunehmend größere Rolle spielen. Tatsächlich wären in Ägypten viele aktuelle Prestigeprojekte nicht möglich, wenn kein Geld aus Katar dorthin fließen würde. Das Aufzeigen der langen Entwicklungslinien ist ein Ziel unseres Buches über den Nahen Osten.
Neben China hat auch Russland seinen Einfluss in der Region ausgebaut – hierauf gehen Sie auch in dem Sammelband ein. Was plant der Kreml?
Russland definiert seine Rolle als Großmacht traditionell über seine Stellung in Europa, der Nahe Osten genießt außenpolitisch nicht die höchste Priorität. Aber es ist eben ein guter Hebel für den Kreml, um Einfluss auf Europa zu nehmen. Nicht zuletzt die Präsenz im Mittelmeer ist für Russland wichtig.
In Syrien unterhält es eine Marinebasis in Tartus.
Die als einziger Stützpunkt am Mittelmeer auch wichtig ist. Seit dem Beginn der Nutzung 1971 bis in unsere Gegenwart ist Tartus' Aufgabe gleichgeblieben: Russland zeigt strategische Präsenz. Wie mit seinem Einfluss in Syrien insgesamt. Ist dadurch die Lösung der Probleme einfacher geworden? Ist dadurch der demokratischen und friedlichen Entwicklung in der Region geholfen worden? Ich meine: Nein. Und deshalb sollte man auch die wachsende chinesische Rolle skeptisch sehen.
Während des "Arabischen Frühlings" 2011 erhofften sich manche bereits eine syrische Demokratie, dann folgten Bürgerkrieg und die Unterstützung des Diktators Baschar al-Assad durch Russland. Was ist schiefgegangen?
Die Erwartungen im Westen waren ziemlich überzogen. Tatsächlich war die Demokratie eigentlich nur in Tunesien eine Zeit lang erfolgreich. Wir gehen oft von unserem politischen und gesellschaftlichen Modell aus und wundern uns, wenn es in anderen Ländern nicht so funktioniert. Die frühere Bundeskanzlerin Angela Merkel hat besser als die meisten verstanden, wie schwierig Transformationsprozesse sind. Und zur Vorsicht gemahnt. Dennoch hielt Deutschland sich im syrischen Bürgerkrieg sehr stark zurück, auch als schlimmste Menschenrechtsverletzungen stattfanden. Aber wann hätte man wie in den Konflikt eingreifen sollen? Es gibt oftmals keine einfachen Antworten, sondern eine Palette schlechter Optionen.
Haben Sie ein weiteres Beispiel?
Nehmen wir Ägypten: Dem Sturz Hosni Mubaraks folgte ein islamistisches Zwischenspiel, dem die gewaltsame Beseitigung der Muslimbruderschaft und Installation eines neuen "starken Mannes" Abdel Fatah El-Sisi folgte. Der übrigens auch dem Westen "genehmer" erscheint als Islamisten an der Macht eines so wichtigen Landes. Man sieht hieran, dass die Ausbalancierung von Werten und Interessen in der westlichen Nahostpolitik immer eine schwierige Gratwanderung ist.
In den USA erstarkt der Isolationismus. Was wären die Auswirkungen, wenn die Vereinigten Staaten zumindest teilweise ihre Präsenz in der Region reduzieren würden?
Es sähe ziemlich schlecht aus, denn es entstünde ein Vakuum. In Syrien haben die westlichen Staaten ein solches entstehen lassen, Russland hat es sogleich ausgenutzt. Die USA werden sich nie ganz aus dem Nahen Osten zurückziehen, aber mehr von ihren Verbündeten fordern. Insbesondere die Bilanz der Europäer ist leider schlecht, sie haben in Libyen versagt, sie sind in Syrien gescheitert. Und nun wiederholen sie ihre Fehler in der Ukraine – was noch weitaus größere Auswirkungen haben könnte.
Herr Scianna, vielen Dank für das Gespräch.
- Persönliches Gespräch mit Bastian Matteo Scianna via Videokonferenz