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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Baerbock bei G7-Treffen in Italien Auch das noch
In Italien kämpft die G7-Gruppe darum, im Krisengewitter nicht die Initiative zu verlieren. Dabei läuft es für den Westen aktuell sowohl in der Ukraine als auch im Nahen Osten katastrophal. Es droht ein schmerzhaftes Eingeständnis.
Von der Insel Capri berichtet Patrick Diekmann.
Der gegenwärtige Krisensturm hat die Welt weiter fest im Griff. Der Krieg in der Ukraine, die humanitäre Katastrophe in Gaza, die drohenden Konflikte im Nahen Osten und im Indopazifik. Viele Staaten versuchen mit zahlreichen Gesprächen und Verhandlungen, die Gewalt in vielen Teilen der Welt einzudämmen. Das ist aber ein wahrer Kraftakt: Denn oftmals werden diplomatische Bemühungen derzeit durch neue Eskalationen wieder zurückgeworfen. Immer wieder ist die Diplomatie mit Gegenwind konfrontiert – und manchmal sogar mit einem neuen Sturm.
Der Angriff des Iran mit 300 Raketen und Drohnen gegen Israel in der Nacht zum Sonntag ist einer dieser neuen Stürme. Auch das noch, wird sich der ein oder andere Entscheider gedacht haben. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) wollte ursprünglich in dieser Woche in Israel über mögliche Lösungen für die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen verhandeln und beim G7-Treffen der Außenministerinnen und Außenminister auf der italienischen Insel Capri mit ihren westlichen Partnern über Unterstützungen für die Ukraine und den Nahostkonflikt beraten.
Denn aus westlicher Perspektive scheinen die diplomatischen Bemühungen im Jahr 2024 weder in der Ukraine noch in Gaza die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Im Gegenteil: Die ukrainische Armee ist aufgrund mangelnder Unterstützung mit Rüstungsgütern in der Defensive und Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu weigert sich beharrlich, mehr zum Schutz der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen zu tun. Das bringt für die westliche G7-Gruppe auch die schmerzhafte Erkenntnis, dass ihr Einfluss auf die Krisenherde dieser Welt immer limitierter zu werden scheint. Ein fatales Signal.
Die westliche Diplomatie braucht nun dringend einen Erfolg.
Aus Israel nach Italien
Vor ihrer Teilnahme am G7-Gipfel auf der italienischen Insel Capri war Baerbock in Israel. Es war seit dem Terrorangriff der Hamas am 7. Oktober 2023 ihr siebter Besuch in dem Land, der insgesamt achte in der Region. Die Reise stand schon länger im Kalender der Ministerin. Eigentlich sollte es in Israel aber darum gehen, die humanitäre Lage im Gazastreifen zu verbessern, und darum, auf Netanjahu einzuwirken, damit dieser von einem Angriff auf Rafah absieht. In der Stadt im Gazastreifen sollen Hunderttausende Binnenvertriebene ausharren, Kämpfe dort wären eine Katastrophe.
Doch der iranische Angriff am Wochenende stellte diesen Besuch auf den Kopf. Plötzlich hatte Baerbocks Reise eine noch viel größere Brisanz. Zwar stehen viele Staats- und Regierungschefs im telefonischen Kontakt mit Netanjahu. Aber Baerbock war mit dem britischen Außenminister David Cameron die erste Ministerin der G7-Gruppe, die vor Ort war.
Sollte sich die humanitäre Lage in Gaza weiter zuspitzen, könnte sich der Konflikt zu einem Flächenbrand im Nahen und Mittleren Osten ausweiten. Und genau dieser große Krieg ist durch den Angriff des Mullah-Regimes wahrscheinlicher geworden, den Teheran als Reaktion auf einen mutmaßlich israelischen Angriff auf ein iranisches Konsulat in Damaskus sieht.
"Ich rede hier nicht von klein beigeben. Ich rede hier von einer klugen Zurückhaltung, die nichts weniger ist als Stärke", sagte Baerbock am Flughafen von Tel Aviv nach dem Treffen mit Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und mit Staatspräsident Izchak Herzog. Israel habe mit seinem Sieg Teheran damit deutlich gemacht, "wie sehr Iran sich verrechnet hat und in der Region isoliert dasteht". Sie betonte: "Die Länder der Region wollen nicht zum Ersatzkriegsfeld werden."
Der Iran soll bestraft werden, aber aus westlicher Perspektive bestenfalls nicht mit kriegerischen Mitteln. Beim G7-Treffen auf Capri könnten sich die Teilnehmerstaaten zumindest auf eine Verschärfung der Iran-Sanktionen verständigen. Lange Zeit standen einige EU-Staaten auf der Bremse, sahen weitere Strafmaßnahmen gegen den Iran kritisch. Der iranische Angriff brachte nun wahrscheinlich ein Umdenken. Vorstellbar ist, dass nach den USA auch die EU weitere Sanktionen verhängt.
Einwirken auf Netanjahu
Deutschland und die USA versuchen mit einer immensen diplomatischen Kraftanstrengung, die Lage mit einem strategischen Zweiklang zu entschärfen. Einerseits versichern sie Israel ihre Solidarität und verurteilen den iranischen Angriff aufs Schärfste. Andererseits werben sie bei Netanjahu dafür, das aktuelle Kräftemessen mit dem Iran als Sieg für Israel zu verbuchen. Immerhin konnte Israel mit einem Luftschlag in Damaskus offenbar mehrere Mitglieder der iranischen Revolutionsgarden ausschalten, wohingegen es durch den iranischen Angriff keinerlei Verluste gab. Mehr dazu lesen Sie hier.
Deswegen sprach Baerbock am Mittwoch erneut von einem "Defensivsieg" der Israelis. Da ist es wieder, das politische Schlagwort, das Menschen in dieser Krisenzeit beruhigen soll: defensiv. Nach Defensivwaffen oder den Panzern und Raketenwerfern in der Ukraine, die plötzlich auch in diese Kategorie gehörten, gibt es nun den Defensivsieg.
Das ist natürlich irreführend, weil der Iran und Israel schon seit Jahrzehnten im Schatten ihren Konflikt aktiv austragen – teilweise auch mit Angriffen auf die Gegenseite. Aber Teheran hat bisher Israel nie direkt angegriffen, sondern israelfeindliche Gruppierungen im Ausland unterstützt. Es ist aus strategischen Gründen verständlich, dass Baerbock die Gefahr eines israelischen Gegenschlages abmildern möchte. Aber hat das Aussicht auf Erfolg?
Im Nahen Osten geht es eben auch oft um Symbolik, nationales Ego und eine Demonstration der eigenen Verteidigungsbereitschaft. Deswegen ist der Umgang mit Netanjahu oft ein Kampf gegen Windmühlen, der für den Westen in den gegenwärtigen Krisen leider nur selten zum gewünschten Ergebnis führt. Wenn überhaupt, dann geht es nur in kleinen Schritten voran, kleine Erfolge kosten momentan großen diplomatischen Aufwand. Doch immerhin geht um Menschenleben und darum, eine noch viel größere Krise zu verhindern.
Andererseits wird es für die G7 auch darum gehen, das Narrativ des Iran zu entkräften. Das Mullah-Regime versucht, sich als Friedensmacht zu inszenieren, weil es auf weitere Schritte gegen Israel vorerst verzichtet. Dabei hat es noch am Wochenende Drohnen und Raketen auf israelisches Staatsgebiet abgeschossen. Die iranische Erzählung stimmt also nicht.
Furcht vor dem israelischen Gegenschlag
Von Neapel aus fährt die deutsche Außenministerin am Mittwochabend per Schiff auf die Urlaubsinsel Capri. Dort angekommen, geht es direkt los. Zum ersten Fototermin wird sie wahrscheinlich zu spät sein. Es ist wahrscheinlich, dass schon am Abend beim Arbeitsabendessen außerplanmäßig über die Lage im Nahen Osten diskutiert wird. Es ist auch der erste inhaltliche Tagungspunkt am Donnerstag. Danach geht um Sicherheit für den Seehandel im Roten Meer. Denn die mit dem Iran verbündeten Huthi-Rebellen greifen noch immer Schiffe in der Region an.
Wenn Baerbock aus Israel in Neapel eintrifft, hat sie für ihre G7-Amtskolleginnen und -kollegen Informationen aus erster Hand im Gepäck. Aus dem israelischen Sicherheitsrat sickerte bereits durch, dass Israel auf den iranischen Angriff reagieren möchte. Wie und wann, ist bislang offen. Es gebt mehrere Szenarien.
Zeitdruck hat die israelische Führung eigentlich nicht. Momentan profitiert sie international davon, dass der Fokus auf der iranischen Aggression liegt und nicht mehr allzu sehr auf dem Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung im Gazastreifen. Das nimmt Netanjahu Druck, Israel steht nun wieder fest verankert inmitten seiner westlichen Partner. Sollte Israel jedoch zum Gegenschlag ausholen, wird zwar noch darüber diskutiert werden, aber schnell würde der Blick vieler internationaler Akteure wieder in Richtung Gaza wandern.
Die G7 versuchen jedoch auch immer wieder zu verdeutlichen, dass der iranische Angriff nun kein Grund für die israelische Führung ist, um in Gaza noch kompromissloser vorzugehen. Netanjahu hat keinen Freibrief. Der Westen gibt zumindest vor, weiterhin genau nach Gaza zu schauen, aber der iranische Angriff hat zumindest der US-Regierung ein wichtiges Druckmittel auf Netanjahu genommen: die Waffenlieferungen. Denn wer würde sich jetzt noch für einen Stopp der Lieferungen aussprechen, wenn Israel in der Region vom Iran bedroht wird? Niemand, zumindest nicht innerhalb der G7.
Am Donnerstag wird es dann auch um eine andere Krise gehen, die auch große Dringlichkeit besitzt: den russischen Angriffskrieg in der Ukraine. Das Land braucht Flugabwehrsysteme, Munition und Flugkörper. Die Bundesregierung hat versucht, ein Signal an die Partner zu senden, indem sie ein weiteres Patriot-Flugabwehrsystem in die Ukraine schickt. Doch die westlichen Partner ziehen bislang nicht nach und Baerbock wird auf Capri Klinken putzen und für weitere Unterstützung werben müssen.
Um sich dabei besser abzustimmen, ist der ukrainische Außenminister Dmytro Kuleba in Italien, genauso wie Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg. Viele Jahre galten die G7 nur noch als Selbstbeschäftigungsrunde des Westens. Größere Probleme konnte man nicht lösen, weil zentrale Akteure wie China nicht mit dabei sind. Interne Unstimmigkeiten zwischen den G7-Staaten gab es höchsten unter der Präsidentschaft von Donald Trump.
Doch nun haben die Krisen dem Format einen neuen wichtigen Zweck gegeben: Es dient der gemeinsamen Abstimmung im Angesicht des aktuellen Krisengewitters. Aber eben auch nicht mehr.
Die G7 haben immer größere Probleme, Lösungen für die gegenwärtigen Krisen zu finden. Das liegt vor allem daran, dass Akteure wie China oder auch Indien, die teilweise andere Interessen verfolgen als der Westen, immer wichtiger werden. Wladimir Putin kann seinen Angriffskrieg in der Ukraine nur führen, weil er Rückendeckung vom chinesischen Präsidenten Xi Jinping bekommt. Deshalb versuchen etwa die USA und Deutschland aktuell, vermehrt auf China einzuwirken – wenn auch mit bescheidenem Erfolg. Mehr dazu lesen Sie hier.
Keine Zeit für Verschnaufpausen
Weil China eben ein zentraler Akteur ist, der im Indopazifik durch seine Gebietsansprüche Unfrieden stiftet, wird es beim G7-Treffen zur Lage im Indopazifik am Freitag eine eigene Arbeitssitzung geben. Dort wird es auch darum gehen, einen gemeinsamen Kurs im Umgang mit der Volksrepublik und mit Indien zu finden. Auch das wird nicht einfach, weil die USA gegenüber Xi einen härten Konfrontationskurs fahren als die europäischen G7-Mitglieder.
Die italienischen Gastgeber wollten eigentlich die Beziehungen zu afrikanischen Staaten und das Thema Migration ins Zentrum ihrer G7-Präsidentschaft rücken. Immerhin: Auch die Afrikanische Union (AU) ist zu Gesprächen auf die italienische Mittelmeerinsel gekommen. Das ist wichtig, denn Russland dehnt seinen Einfluss in der Sahelzone immer weiter aus, die G7 müssen Antworten finden. Aber Sicherheit und der Ausbau der Zusammenarbeit mit Ländern auf dem afrikanischen Kontinent stehen thematisch im Schatten der anderen Krisen.
Baerbock hatte in der Vergangenheit oft am Rande von Gipfeln gesagt: "Choose your fight" ("Wähle deinen Kampf"). Damit wollte sie sagen, dass Deutschland und der Westen ihre Themen priorisieren müssen. Man kann eben nicht alle Probleme weltweit gleichzeitig angehen. Doch viele Krisen dulden gerade keinen Aufschub. Die G7 sind in dieser Zeit die Getriebenen.
- Berichterstattung vom G7-Treffen der Außenministerinnen und Außenminister auf Capri