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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg zwischen Israel und dem Iran? Dieser Schachzug ist brandgefährlich
Der Angriff des iranischen Regimes mit Raketen und Drohnen bringt Israel und den Iran an den Rand eines Krieges. Wie entscheidet sich Benjamin Netanjahu? Der israelische Premier profitiert von der aktuellen Eskalation.
Der Schock ist noch immer groß. Am Samstagabend starteten die iranischen Revolutionsgarden Kamikaze-Drohnen und ballistische Raketen in Richtung Israel. Es war eine neue Eskalationsstufe, der erste direkte Angriff des Iran auf israelisches Staatsgebiet.
Die unmittelbaren Folgen waren jedoch gering: Fast alle iranischen Flugkörper konnten abgeschossen oder abgefangen werden. Es gab keine Todesopfer, die Schäden an einer israelischen Militärbasis waren minimal.
Die entscheidende Frage ist nun: Wie wird die israelische Führung reagieren? Einerseits wird Israel ein Zeichen senden wollen, dass derartige Angriffe nicht folgenlos bleiben. Andererseits könnte sich durch einen Angriff auf den Iran die Eskalationsspirale weiterdrehen – und das könnte schnell außer Kontrolle geraten.
Fest steht: Die rote Linie zu einem großen Krieg wurde am Samstag offenbar nicht überschritten. Trotzdem scheint die Region momentan näher als jemals zuvor vor einem Flächenbrand zu stehen.
Dabei ist vor allem Benjamin Netanjahu der politische Profiteur der aktuellen Eskalation. Der israelische Ministerpräsident spielt ein risikoreiches Spiel, tanzt strategisch auf dem Pulverfass im Nahen Osten. Doch bislang ist sein Kalkül aufgegangen: Nach der heftigen internationalen Kritik am Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen steht Israel durch den Angriff des Mullah-Regimes nun wieder fest an der Seite seiner westlichen Partner. Doch das Spiel mit Krieg und Frieden hätte auch nach hinten losgehen können.
Anhaltender Konflikt im Nahen Osten
Der iranische Angriff kommt für viele Experten nicht überraschend. Das dortige islamistische Regime sieht seit seiner Machtübernahme 1979 Israel und die USA als Erzfeinde. Die Mullahs sprechen Israel ihr Existenzrecht als Staat ab und diese Feindschaft ist fest in ihrer Ideologie verankert.
Es läuft schon seit Jahrzehnten im Nahen Osten ein Schattenboxen. Der Iran baut gegen Israel eine schiitische "Achse des Widerstandes" auf. Das Regime unterstützt die Hisbollah im Libanon, die Huthi-Rebellen im Jemen, schiitische Milizen im Irak und die Hamas im Gazastreifen. All diese Gruppierungen werden mit Raketen ausgerüstet, die vor allem auf Israel zielen.
Das israelische Militär ist im Angesicht dieser Bedrohung nicht untätig. Immer wieder gibt es Angriffe auf Stellungen der iranischen Revolutionsgarden in Syrien oder auch auf das iranische Atomprogramm auf iranischem Boden. Die israelische Führung bekennt sich niemals öffentlich zu diesen Angriffen und lässt sie für gewöhnlich unkommentiert. Aber es gilt als wahrscheinlich, dass Israel handelt, um die Bedrohungslage durch den Iran zu minimieren.
Israel und die USA haben zumindest mit einem jüngsten Angriff gerechnet. Nicht ohne Grund: Es gilt als wahrscheinlich, dass die israelische Armee für die Tötung der Revolutionsgardisten am 1. April in Syrien verantwortlich ist und das Mullah-Regime sieht darin einen Angriff auf das eigene Staatsgebiet.
Die iranische Führung hat vor allem eine zentrale Motivation: Sie will überleben, ungeachtet der Menschenleben, die das auch kosten mag. Mit Blick auf die Hardliner im eigenen Land und auf die eigene radikale Ideologie, deren Fundament die Vernichtung Israels ist, war eine Reaktion erwartbar. Dabei zeigt eigentlich der ganze Ablauf des Angriffs, dass es der iranischen Führung eher um einen symbolischen Vergeltungsschlag ging.
Die iranischen Staatsmedien verkündeten am Samstag den Start ihrer Drohnen und Israel und die USA waren gewarnt. Auch sollen die Mullahs über andere Länder in der Region die Amerikaner im Vorfeld informiert haben. Zielauswahl und Umfang des Angriffes legen außerdem nahe, dass die Mullahs die rote Linie eines großen Krieges nicht überschreiten wollten. Am Sonntag lässt das iranische Regime dagegen in Teheran den Angriff auf Israel feiern, obwohl keine Rakete und keine Drohne ihr Ziel getroffen hat.
Für den Iran geht es vor allem darum, die eigene Reaktionsfähigkeit zu demonstrieren, um Angriffe auf ihr Militär im Ausland nicht ungestraft zu lassen. Das Regime wollte sein nationales Ego polieren und hat sich dabei verhoben. Denn die entschlossene Reaktion Israels und seiner Partner auf den Angriff zeigen den Mullahs auch ihre militärischen Grenzen auf.
Eben davon profitiert Benjamin Netanjahu in mehrerer Hinsicht. Der israelische Ministerpräsident könnte mit dem Angriff am 1. April auf die Revolutionsgarden in Damaskus auf ein derartiges Szenario spekuliert haben. Natürlich weiß der erfahrene Staatschef, dass eine derartige Aktion einen iranischen Angriff auslösen könnte. So läuft das blutige Machtspiel im Nahen Osten seit vielen Jahrzehnten.
Innenpolitisch konnte Netanjahu seiner eigenen Bevölkerung demonstrieren, dass er das Land schützen kann. Nach dem Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober 2023 ist das für die Regierung wichtig. Außenpolitisch wechselt der Fokus seiner internationalen Partner vom Gazastreifen nun auf den Iran. Viele westliche Staats- und Regierungschefs verkündeten noch am Samstagabend ihre grenzenlose Solidarität mit Israel. Eben diese Solidarität war in den vergangenen Monaten durch die israelische Kriegsführung im Gazastreifen massiv gebröckelt.
Dabei drohten auch die USA Israel mit dem Stopp von Waffenlieferungen an das Land. Die israelische Armee ist auf Rüstungsgüter von dort angewiesen. Doch das ist nun vom Tisch. Denn kein westlicher Staat wird jetzt riskieren wollen, dass sich Israel gegenüber dem Iran nicht mehr verteidigen kann.
Auch das iranische Regime kalkuliert wahrscheinlich ein, dass man gegen Israel und die USA militärisch hoffnungslos unterlegen wäre. Die israelische Regierung wiederum hat dagegen nun Zeit zum Atmen bekommen, um weitere Schritte zu planen – für den Gazastreifen und für eine Reaktion gegenüber dem Iran.
Wie geht es weiter?
Doch Netanjahu hat nur einen Aufschub bekommen. Die Solidarität seiner westlichen Partner mit seiner Regierung wird nun von den weiteren Schritten der israelischen Regierung abhängen. Die Eskalation durch den iranischen Angriff zeigt auch, dass international alle größeren Akteure kein Interesse an einem Flächenbrand im Nahen und Mittleren Osten haben.
Deswegen versuchen nun die USA und auch die Bundesregierung, massiv auf Netanjahu einzuwirken. Einerseits wird der Angriff des Iran scharf verurteilt, andererseits versichert etwa US-Präsident Joe Biden gegenüber Netanjahu, dass er deeskalieren müsse und dass Israel diesen Konflikt gewonnen habe. Auf dem Papier stimmt das auch, immerhin beklagt Israel keinerlei Verluste und auch die Mullahs erklären am Sonntag, dass ihr Angriff vorbei sei.
Doch leider folgen Konflikte nicht immer dieser einfachen Logik. Es geht oft um Symbole und die Demonstration von nationaler Stärke. Deswegen ist es durchaus wahrscheinlich, dass das israelische Militär in irgendeiner Form zurückschlagen wird. Aber Netanjahu wird sich damit wahrscheinlich Zeit lassen, um die gegenwärtige Solidarität seiner Partner nicht zu gefährden. Für den Westen wiederum geht es darum, das Ausmaß dieser Gegenreaktion möglichst eng mit Israel abzustimmen, um das Schlimmste zu verhindern.
Denn ein Flächenbrand wäre ein Alptraum. Neben einem Krieg mit zahlreichen Opfern würde das auch die USA mit in den Konflikt ziehen – und das würde Biden mitten im US-Wahlkampf treffen. Ein großer Krieg in der Region würde neue Fluchtbewegungen nach Europa verursachen. Er würde auch die wichtigsten Seehandelswege zwischen Asien und Europa gefährden. Auch Russland will keine Eskalation in diesem Krieg, weil Moskau die iranische Rüstungsproduktion für den eigenen Angriffskrieg in der Ukraine braucht. Die dominierenden Super- und Großmächte haben also ein gemeinsames Interesse daran, diese Katastrophe zu verhindern. Und das ist durchaus eine Chance.
- Eigene Recherche