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Ampelkoalition: Deutschland trudelt in eine "nationale Krise"


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Historiker Adam Tooze
"Das ist nun einmal die Quittung"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 27.11.2023Lesedauer: 9 Min.
Olaf Scholz: Seine Ampelkoalition hat in Karlsruhe eine Niederlage erlitten.Vergrößern des Bildes
Olaf Scholz: Seine Ampelkoalition hat in Karlsruhe eine Niederlage erlitten. (Quelle: Felix Zahn/dpa)

Kriege und Krisen erschüttern den Globus, Deutschland müsste sich dringend besser wappnen. Doch ein Urteil aus Karlsruhe zerrüttet die Pläne der Ampelkoalition. Was nun zu tun wäre, erklärt Historiker Adam Tooze.

Die Machtverhältnisse auf der Welt sind im Umbruch, zahlreiche Krisen überlappen sich. Daher ist es höchste Zeit, dass sich Deutschland auf diese Herausforderungen einstellt: Doch nun klafft erst einmal ein gewaltiges Loch in den Planungen der Ampelkoalition von Bundeskanzler Olaf Scholz. Das Bundesverfassungsgericht hat der Bundesregierung in Sachen Klimatransformationsfonds einen Strich durch die milliardenschwere Rechnung gemacht.

"Verzockt", urteilt Adam Tooze, einer der angesehensten Historiker der Welt, über die Ampelkoalition. Warum die Schuldenbremse spätestens jetzt reformiert gehört und apokalyptische Szenarien betreffs Deutschlands Zukunft gleichwohl verfehlt sind, erklärt der britische Wirtschaftsexperte im Gespräch.

t-online: Professor Tooze, die Bundesregierung wirkte ziemlich überrascht, als das Bundesverfassungsgericht ihre Haushaltsplanung über den Haufen warf. Waren sich Olaf Scholz und seine Koalitionäre zu selbstsicher?

Adam Tooze: Ich war meinerseits überrascht, dass die Ampelkoalition so geschockt war. Das hätte sich die Bundesregierung ersparen können – denn das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Klima- und Transformationsfonds (KTF) ist vollkommen schlüssig.

Also war es eine Katastrophe mit Ansage?

Ja. Die Ampelkoalition hat sich schlicht und einfach verzockt. Offensichtlich vertrauten Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner darauf, dass das Bundesverfassungsgericht aus politischen Gründen vor einem derart konsequenten Urteil zurückschrecken würde. In europapolitischer Hinsicht haben die Verfassungsrichter in der Vergangenheit auch bisweilen Zurückhaltung gezeigt. Damit ist nun aber offensichtlich Schluss. Schließlich geht es mittlerweile um eine fundamentale Frage des Grundgesetzes wie auch der Demokratie an sich: Wo liegt die grundlegende Kompetenz in Sachen Fiskalpolitik?

Dreh- und Angelpunkt ist die sogenannte Schuldenbremse: Einst zur Begrenzung der Staatsverschuldung im Grundgesetz verankert, erweist sich dieses Instrument in der politischen Praxis als problematisch. In der Krise dann erst recht.

Ich war von Anfang an ein Fundamentalskeptiker in Sachen Schuldenbremse. Jetzt ist der Politik durch das Karlsruher Urteil das Ausmaß des Problems deutlich geworden: Man kann auf der einen Seite nicht eine derartige Schuldenbremse in die Verfassung schreiben und sie auf der anderen fortlaufend umgehen. Alles in der Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht dabei schon ein Auge zudrücken wird. Insofern war es gut, dass die Richter nun der Politik die rote Linie aufgezeigt haben.

Adam Tooze, Jahrgang 1967, gehört zu den führenden Wirtschaftshistorikern, seine Bücher wie "Ökonomie der Zerstörung. Die Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus" sind Standardwerke. Tooze lehrt Geschichte an der Columbia University in New York und ist zugleich Direktor des dortigen European Institute. 2021 erschien sein Buch "Welt im Lockdown. Die globale Krise und ihre Folgen". Seinen Newsletter "Chartbook" finden Sie bei Substack.

Die deutsche Wirtschaft fürchtet die Konsequenzen des Urteils – etwa in Hinsicht auf den "grünen" Umbau von Produktionsstätten. Wie beurteilen Sie die Lage?

Die Folgen können tatsächlich einschneidend sein. Für die Regierung ist es dramatisch, weil ihr Kartenhaus zusammenbrach, für die Wirtschaft ist es wiederum tragisch, weil sie durch politische Fehlentscheidungen in diese Situation der Unsicherheit versetzt worden ist. Deutschland erlebt eine handfeste Krise, das kann niemand mehr leugnen. Umso mehr ist nun entschlossenes Handeln notwendig.

Wie erklären Sie sich aber die relative Unbeschwertheit seitens der Bundesregierung nach dem Urteil aus Karlsruhe? Olaf Scholz gilt deswegen bereits als "Trickser".

Olaf Scholz pflegt derzeit Distanz zur Realität – dazu ist er aus taktischen Gründen immer wieder in der Lage. Er zieht sich in eine wohlgeordnete Traumwelt zurück.

Was ist aber in unserer Realität notwendig, um Deutschland in dieser Zeit der Polykrise resilient gegen Schocks zu machen?

Die Schuldenbremse gehört reformiert, damit Dinge wieder möglich werden. Zurzeit blockiert sie alles. Deutschland braucht 400 bis 500 Milliarden Euro an Neuinvestitionen im öffentlichen Bereich: Über diese Tatsache sind sich alle Beteiligten im Prinzip einig – von Interessensgruppen aus der Wirtschaft bis hin zum Deutschen Gewerkschaftsbund

Aber woher nehmen und nicht stehlen?

Drei Wege sind denkbar, wobei der erste der heikelste ist: Denn es liefe auf einen Verfassungsbruch hinaus …

… indem die Bundesregierung das Urteil zum KTF ignorieren würde?

Ja. Davon rate ich dringend ab. Auch wenn die Politik bereits früher unbequeme Urteile des Bundesverfassungsgerichts hat links liegen lassen – etwa im Bereich der Sozialpolitik. Konstruktiver wäre tatsächlich die zweite Option: die Suche nach einer politischen Mehrheit zur Änderung des Grundgesetzes in Sachen Schuldenbremse, um wieder handlungsfähig zu werden.

Schwierig, dazu bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit in Bundestag und Bundesrat. Was ist die dritte Möglichkeit?

Der Staat müsste seine Einnahmen erhöhen.

Noch schwieriger, denn das würde Steuererhöhungen bedeuten.

Genau. Es müsste eine progressive Steuererhöhung geben, die besonders die Wohlhabenden betrifft, um so eine zusätzliche Belastung der Arbeiterschaft und Mittelschicht zu vermeiden. Das wird die FDP keineswegs erfreuen, dessen bin ich mir bewusst. Alle drei Optionen dürften der Politik recht unangenehm sein. Aber das ist nun einmal die Quittung, weil man eine grundsätzliche Entscheidung in Sachen Schuldenbremse und damit dringend notwendiger Neuinvestitionen so lange vor sich hergeschoben hat. Dann hat man keine guten Optionen mehr. Jetzt hat Lindner eine Haushaltssperre angeordnet, was auch nicht gerade für Vertrauen sorgt.

 
 
 
 
 
 
 

Mit Werner Gatzer versetzt Lindner zudem seinen für den Haushalt zuständigen Staatssekretär zum Jahresende in den Ruhestand.

Er versucht, reinen Tisch zu machen.

Wie schätzen Sie aber die Wahrscheinlichkeit ein, dass sich die Parteien der demokratischen Mitte auf einen Kompromiss zur Reform der Schuldenbremse verständigen werden?

Die Ampelkoalition hat sich blamiert. Aber Friedrich Merz zeigt weder taktische noch strategische Führung bei der CDU. Das Risiko ist ein Vakuum. Es stehen wichtige europapolitische Entscheidungen an – in Sachen Haushalt, Osterweiterung und Ukraine – und Berlin fällt derzeit aus. Und es ist nun auch nicht so, dass im Rest der Welt Ruhe und Frieden herrschen würden.

Die Ampelkoalition hält sich mit Ach und Krach zusammen. Halten Sie es für wahrscheinlich, dass von ihr der große Impuls zur Reform des Grundgesetzes ausgehen kann?

Deutschland trudelt in seiner nationalen Krise, die Regierung ist angeschlagen. Es braucht ein positives Szenario, um die Reformenergie zu steigern. Die Ampelkoalition ist dazu nicht fähig, das haben wir bei den Haushaltsdiskussionen im Sommer gesehen: Die FDP bremste und blockierte, der SPD fehlt der Mut dagegenzuhalten. Die Grünen haben sich hingegen etwa beim Heizungsgesetz verkämpft und an Zuspruch verloren.

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Wird es wieder auf eine Große Koalition hinauslaufen? Wobei Union und SPD gar nicht mehr so "groß" sind.

Ob die Ampelkoalition halten wird oder es ein neues Bündnis zwischen SPD und Union geben wird, ist schwer vorherzusehen. Das Abschmelzen der beiden Volksparteien erschwert jedenfalls das Zustandebringen einer Zweidrittelmehrheit zur Reform der Schuldenbremse. Grüne und FDP sind dabei ebenso gefragt.

Nun betrachtet sich FDP-Chef Christian Lindner bislang als eine Art Gralshüter der Schuldenbremse.

Es ist völlig legitim, über Ausmaß und Mittel einer Konsolidierungspolitik zu streiten, aber eine geordnete und auf dem Boden des Grundgesetzes stehende Finanzverfassung ist doch im Interesse aller politischen Akteure. Die derzeit bestehende Schuldenbremse hat sich historisch als untauglich zur Bewältigung von konkreten Krisen erwiesen und zwang zu einer Umgehung der Verfassung. Das ist nicht längerfristig tragbar. Also muss es etwas Neues geben.

Hätte diese Debatte aber nicht viel früher geführt werden müssen? Deutschland und die Welt erleben gerade eine Zeit der Polykrise, wie Sie betonen.

Selbstverständlich hätte die Diskussion früher geführt werden müssen. Corona, Ukraine und nun der Nahe Osten, das sind zwar akute Krisen, aber sie haben alle langfristige Ursachen – von der Klimakrise noch ganz abgesehen. Deutschland muss resilienter werden und dafür braucht es Investitionen. Es braucht eine Trennung zwischen laufenden Ausgaben, die über wirtschaftliche Zyklen ausbalanciert werden müssen, und investiven und historisch bedingten Sonderausgaben, die eine politisch und demokratisch abgesicherte Basis haben. In unserer von Polykrisen erschütterten Welt braucht es eine solche Trennung, um eine fiskalpolitische Solidität unabhängig von durch Notfälle bedingten und langfristigen Investitionsprojekten zu erreichen. Das braucht Deutschland, um fit für die Herausforderungen der Zukunft zu werden.

Bleiben wir in der Gegenwart, derzeit wird Deutschland erneut als "kranker Mann Europas" tituliert. Droht uns tatsächlich der so oft beschworene Wohlstandsverlust?

Deutschland droht nicht notwendigerweise ein Wohlstandsverlust, falls es sich nicht mutwillig selbst verstümmelt. Selbstverständlich aber steht die Bundesrepublik – mitsamt der übrigen Welt – vor großen Herausforderungen: Deutschland kann sie aber bewältigen. Wenn es das denn will.

Der Angst vor einem Wohlstandsverlust verdankt die AfD in Umfragen immer höhere Zustimmungswerte.

AfD-Wähler teilen eine apokalyptische Weltsicht, sie sind überzeugt, dass die Zukunft fürchterlich sein wird. Davon sind sie geradezu besessen. Die Wähler der Grünen sind in dieser Hinsicht wesentlich optimistischer –, bei ihnen herrscht mehrheitlich die Überzeugung, dass sich die Zukunft positiv gestalten lässt.

Nun haben sowohl die Grünen als auch der Optimismus in Deutschland schwer zu kämpfen.

Es darf nicht ständig mit Szenarien operiert werden, an deren Ende ein Desaster steht. Denn Apokalypse ist eigentlich gar nicht auf der Tagesordnung. Die Rede von Niedergang, traumatischer Deindustrialisierung, all das ist weit übertrieben. Worum es gehen muss, ist, konkrete Lösungen für die vielen anstehenden Aufgaben zu finden. Was natürlich heißt, dass Innovation gefordert ist, um die wirtschaftlichen Wachstumsmöglichkeiten auszunutzen. Man darf sich nur nicht selbst im Wege stehen. Und man sollte sich auch nicht in der Vorstellung wiegen, dass nach Lösung des Finanzproblems alle dann wieder die Hände in den Schoß legen und die Früchte genießen können. So funktioniert die Welt aber nicht. Die Herausforderungen kommen unentwegt, und zwar nicht nur der Reihe nach, sondern vielfach auf einmal.

Tatsächlich legt der Blick in die Nachrichten die Erkenntnis nahe, dass die Welt aus den Fugen geraten ist. Noch während der Corona-Pandemie überfiel Russland die Ukraine, es folgten Energiekrise und Rekordinflation. Um nur ein Beispiel zu nennen. Mit dem Begriff "Polykrise" beschreiben Sie die sich überlappenden und verstärkenden Krisen.

Die Herausforderungen sind komplex und zahlreich, daran besteht kein Zweifel. Das Gegenmittel besteht darin, resilient und dynamisch zugleich zu sein. Digitalisierung, Energiewende und Globalisierung etwa sind allesamt Felder, auf denen Deutschland Handlungsbedarf hat. Denn sie entwickeln sich nicht nur allesamt in rasantem Tempo fort, sondern beschleunigen einander. Das reicht für eine Menge Wirbel.

Nehmen wir die Energiewende: Sie galt noch vor nicht allzu langer Zeit trotz Klimakrise eher als Langfristunternehmen, nun ist sie durch verschiedene Schocks vorangeschritten.

In den Vereinigten Staaten zum Beispiel war die Politik zu Zeiten Donald Trumps im Weißen Haus vollkommen blockiert. Durch die Corona-Pandemie, den Schock des russischen Krieges gegen die Ukraine, die folgende Energiekrise und die Entwicklung neuer Technologien hat sich in Sachen Energiewende viel getan. Die Kostenkurven haben sich fundamental nach unten bewegt, abgesehen vom Problem der Speicherung spricht nichts mehr gegen die breite Anwendung erneuerbarer Energien.

Es ist eine Ironie, dass Wladimir Putins Krieg die Energiewende derart beschleunigt hat, anstelle der Furcht vor der Klimakrise.

Das ist richtig. Die Energiewende fand quasi ohne Bezug zur Klimaerhitzung statt. In ihren globalen und langfristigen Auswirkungen ist die Klimakrise einfach zu abstrakt, um unmittelbaren Handlungsdruck zu erzeugen. Aber Russlands Krieg und die damit verbundenen Folgen versteht jeder sogleich. Das wird Putin nicht beabsichtigt haben. Immer wieder wurde der große Gegensatz von Energiewende gegen Kapitalismus beschworen, mittlerweile wissen alle, welche Ziele wir innerhalb der Energiewende erreichen müssen. Aber die Kosten werden gewaltig sein.

Die Mobilität der Zukunft ist elektrisch, die deutschen Autokonzerne sind in dieser Hinsicht allerdings abgeschlagen gegenüber ihrer Konkurrenz aus den USA und China. Kann Deutschland wieder aufschließen zu Tesla und Co.?

Die deutschen Autobauer haben ein gewaltiges Problem: Der globale Markt für Automobile wird mittlerweile von Konsumenten aus Asien angetrieben, vor allem aus China. Diese haben allerdings weder ein besonders inniges Verhältnis zum Verbrenner noch zu europäischen Marken.

Die Bundesregierung bezeichnet das nach Machtausweitung strebende Peking mittlerweile auch als "systemischen Rivalen" und will die Abhängigkeit von China reduzieren. Sehen Sie bereits Fortschritte bei diesem Vorhaben?

Die deutschen Autobauer, aber auch zum Beispiel Siemens und BASF sind weiterhin massiv in China investiert. Damit sind sie eher die Ausnahme auf der Welt, das Risiko China geht kaum noch jemand ein. Es ist wie bei einer Ehe, beide Seiten kommen zu der Erkenntnis, dass man sich nicht mehr gut versteht – entsprechend trennt man sich. In der deutschen Industrie ist man wohl noch nicht zur Scheidung bereit. Wie riskant eine hohe Verflechtung mit China sein kann, erlebte nun Apple.

Weil Peking Apples Zulieferer Foxconn die Steuerprüfer ins Haus schickte?

Richtig. Das war ein klarer Warnschuss an die Amerikaner, zuvor hatte China seinen Beamten bereits die private Nutzung von iPhones untersagt. Um die Tragweite der chinesischen Maßnahmen zu verstehen, muss man die Bedeutung Apples betrachten: Apple ist das wertvollste Unternehmen der Welt, für die USA ist der Konzern eine Ikone. Allerdings ist Apple zutiefst von China abhängig. Das ist eine mächtige Waffe für Peking.

Angesichts der Wahlen in den USA und in Taiwan, das Peking als "abtrünnig" betrachtet, warnen Experten bereits vor einem potenziell krisenreichen Jahr 2024. Was ist Ihre Einschätzung?

Niemand kann zum jetzigen Zeitpunkt eine zuverlässige Prognose für den Ausgang der nächsten US-Präsidentschaftswahlen abgeben. Allerdings spitzt sich wie schon 2020 auch nun wieder alles auf den Wahltermin hin zu – mit allen verbundenen Folgen. Die USA sind nicht mehr der unipolare Hegemon, sie sind aber nach wie vor die größte Weltmacht und für Europa der entscheidende Partner. Die innere Krise, die auf eine mögliche Neuwahl Trumps wohl folgen wird – in seinem Lager spricht man offen über "Säuberungen" –, würde die Welt, und vor allem Europa, erschüttern.

Professor Tooze, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Adam Tooze
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