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Droht Russland die Niederlage? "Dann haben die Ukrainer leichtes Spiel"


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Putin vor der Niederlage?
"Russland fällt auf einen Trick rein"

InterviewVon Marc von Lüpke

12.03.2023Lesedauer: 6 Min.
Ukrainische Soldaten bei Bachmut: Miliärisch handeln die russischen Truppen irrational, sagt Experte Marcus Keupp.
Im Video: Ukrainische Soldaten wollen Bachmut nicht aufgeben. (Quelle: Glomex)

Russland will Bachmut erobern, ohne Rücksicht auf Verluste. Das wird sich bald rächen, sagt Militärexperte Marcus Keupp. Denn die Kräfte des Kremls nehmen rasant ab.

Die russischen Streitkräfte waren gefürchtet, ihre Stärke bestand allerdings eher auf dem Papier. Nun könnte sich das Blatt dramatisch zugunsten der Ukraine verändern, sagt der Militärexperte Marc Keupp. Denn während sich der Mangel auf der russischen Seite immer stärker bemerkbar mache, führt die ukrainische Armee bald westliche Kampfpanzer ins Gefecht.

t-online: Herr Keupp, die ukrainische Stadt Bachmut ist strategisch ohne größere Bedeutung. Warum nehmen die russischen Streitkräfte trotzdem gewaltige Verluste für deren Einnahme in Kauf?

Marcus Keupp: Die russischen Truppen werden in einen Fleischwolf geschickt – ohne jede Rücksicht. Dieses Vorgehen ist aus militärischer Sicht außerordentlich dumm. Aber es geht im Kampf um Bachmut nicht in erster Linie um die Erreichung militärischer Ziele, sondern um einen Machtkampf in der russischen Führung.

Jewgeni Prigoschin, Chef der Söldnertruppe Gruppe Wagner, will Bachmut um jeden Preis erobern, Verteidigungsminister Sergei Schoigu sieht es nicht ungern, dass die Wagner-Leute in Bachmut dezimiert werden.

So ist es. Prigoschin und Schoigu sind verfeindet. Aber auch Prigoschin ist das Schicksal seiner Leute ziemlich egal. Diese Menschen werden als "überflüssig" betrachtet, so zynisch das ist.

Marcus Keupp, Jahrgang 1977, ist Dozent für Militärökonomie an der Militärakademie der ETH Zürich. Der habilitierte Betriebswirt geht in seiner Forschung klassischen militärökonomischen Fragen nach und befasst sich auch mit der Sicherheit von Versorgung und kritischer Infrastruktur. 2019 erschien sein Buch "Militärökonomie", das inzwischen auch in englischer und französischer Sprache erhältlich ist.

Warum aber verteidigt die ukrainische Armee Bachmut derart verbissen? Präsident Wolodymyr Selenskyj weist immer wieder auf die Bedeutung der Stadt hin.

Das ist die entscheidende Frage. Denn während sich die russischen Streitkräfte überaus dumm anstellen, machen es die Ukrainer äußerst geschickt. Die Kämpfe um Bachmut binden eine Großzahl an russischen Kräften, Soldaten, die wiederum an anderer Stelle fehlen. So kann die Ukraine ihre Reserven schonen – und Kräfte für Offensiven im Frühjahr aufbauen. Je mehr Selenskyj zudem die "Bedeutung" Bachmuts betont, desto dringender will Prigoschin es erobern. Russland fällt auf einen Trick rein.

Als Verteidiger genießen die ukrainischen Soldaten in Bachmut einige Vorteile.

So ist es. Normalerweise muss ein Angreifer dem Verteidiger mindestens drei zu eins überlegen sein. Im Häuserkampf hat dieses Verhältnis noch viel deutlicher zugunsten des Angreifers auszufallen, wenn die Pläne zum Erfolg führen sollen. Denn die Verteidiger nutzen die städtische Infrastruktur: Scharfschützen liegen in höheren Gebäuden auf der Lauer, in Straßenzügen lassen sich Hinterhalte anlegen. Das ist auch der Grund, warum die russische Artillerie Bachmut zuvor derart unter Feuer genommen hat. So wollte man die Stadt sturmreif schießen.

Zudem müssen die russischen Truppen im städtischen Gebiet ohne die Unterstützung ihrer Panzer auskommen.

Größere Panzer würden in den Straßen schnell stecken bleiben – und bald den Verteidigern zum Opfer fallen. Es gibt zwar auch kleinere Panzer, die für den Kampf im urbanen Gebiet besser geeignet sind, aber die russische Armee hat sie schlichtweg nicht. Bachmut eignet sich aber auch noch aus einem anderen Grund für die Ukraine: Die Stadt liegt in einer Ebene, auf den Hügeln in der Umgebung steht die ukrainische Artillerie.

Und feuert auf die russischen Gegner.

Genau. Die russischen Truppen verbluten dort, anders kann man es nicht ausdrücken. Sie sind schlichtweg Kanonenfutter: Bis zu 600 Mann Verlust pro Tag sind eine erschreckende Zahl. Zwar unterscheidet sich der russisch-ukrainische Krieg fundamental vom Ersten Weltkrieg, aber manche Bilder aus Bachmut erinnern uns an dessen verbitterte Grabenkämpfe, in denen Tausende Soldaten im Kampf um ein paar Meter geopfert wurden.

Nun wird wieder von der baldigen Einnahme Bachmuts durch die russischen Truppen gesprochen. Wie lange lohnt sich die Verteidigung der Stadt für die Ukraine überhaupt?

Solange die russischen Truppen bereit sind, die enorm hohe Abnutzung ihrer Verbände und ihrer mechanisierten Fahrzeuge in Kauf zu nehmen. Im Augenblick sind die russischen Verluste ungefähr sechsmal höher als die der Ukraine. Wenn sich dieses Verhältnis zugunsten der russischen Seite wandelt, dann werden sich die ukrainischen Truppen zurückziehen.

Die Kämpfe um Bachmut verdeutlichen also, was "Abnutzungskrieg" in der Realität bedeutet.

Ja, die Lage in Bachmut symbolisiert diese Tatsache gegenwärtig besonders. Der Blick auf die Zahlen verdeutlicht das: Um die Stadt einzunehmen, schickt die russische Führung Bataillone in stumpfsinnigen Frontalangriffen vor, die Einheiten werden schnell zusammengeschossen. Wenn sie jeden Tag ein Bataillon verlieren, müssen sie Ersatz beschaffen. Aber woher? Also wird an anderen Stellen der Front ausgedünnt. Nur einmal zur Einordnung des geografischen Raums, über den wir sprechen: Der Frontabschnitt in Bachmut umfasst 20 Kilometer, die gesamte Front vom Cherson bis Charkiw ist aber über 1000 km lang. Mit militärischer Rationalität hat der verbissene Ansturm der russischen Verbände nichts mehr zu tun.

Während Prigoschin Bachmut zum Ziel seiner Obsessionen erkoren hat, will Verteidigungsminister Shoigu das ebenfalls umkämpfte Wuhledar um jeden Preis erobern.

Das ist der gleiche Fall. Die Schlacht um Wuhledar im Februar dieses Jahres endete katastrophal. Russlands Operationsführung war unkoordiniert und unkonzentriert. Die Russen verloren schätzungsweise 130 mechanisierte Systeme. Selbst wenn den Russen ein Durchbruch gelingen sollte, treffen sie lediglich auf die Tiefe des Raums, in dem die ukrainische Armee bereits neue Verteidigungsstellungen angelegt hat. Im Falle Bachmuts wäre es sogar eine Frontbegradigung, die der ukrainischen Position nicht schaden würde. Wie auch immer, Russlands Niederlage zeichnet sich bereits deutlich ab.

Woran machen Sie das fest?

Im Oktober wird der Krieg wohl zu Ende sein. Voraussichtlich. Zu dieser Einschätzung komme ich aufgrund von simplen Berechnungen: Wenn man zusammenrechnet, was Russland an einsatzfähigen Panzern und anderen Militärfahrzeugen vor dem Krieg besessen hat und das ins Verhältnis zur Abnutzung setzt. Ich habe zudem den Eindruck, dass die russischen Reserven extrem überschätzt werden: Viel Material stammt etwa aus den Fünfziger- und Sechzigerjahren, das sieht dann auf dem Papier gut aus, hat aber keinen Einsatzwert. Natürlich können die Russen alte Panzer instandsetzen, aber die müssen dann gegen Leopard und Challenger antreten. Ab dann haben die Ukrainer leichtes Spiel.

Der russischen Armee geht also das Material aus. Produzieren die Waffenfabriken nicht ausreichend nach?

Russland war vor dem Krieg zu einer Produktion von etwa 100 Kampfpanzern pro Jahr in der Lage – allerdings unter wirtschaftlich besseren Rahmenbedingungen. Bei der derzeitigen Abnutzungsrate von fünf Panzern pro Kampftag müssten sie aber 1.500 Panzer pro Jahr produzieren, um allein die Abnutzung auszugleichen. Zudem werden bald die westlichen Kampfpanzer auf den Schlachtfeldern erscheinen – dies wird die Lage noch einmal grundlegend zugunsten der Ukraine ändern. Westliche Kampfpanzer können russische schon aus der Entfernung abschießen. Mit dieser Kampfkraft werden die Ukrainer die russische Front spalten. Dann wird es ziemlich dramatisch für die russischen Truppen, denn die ukrainische Armee wird systematisch deren Nachschub attackieren.

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Nicht zuletzt ist die Korruption innerhalb der russischen Armee ein gewaltiges Problem.

Das rächt sich nun auch bitter. Kriege werden nicht durch große Schlachten entschieden, sondern durch Reserven und Logistik. Wie kann ich die Versorgung meiner Truppen bestmöglich und langfristig gewährleisten? Das ist die alles entscheidende Frage. Russlands Armee steht ziemlich blank da, es gibt nichts mehr zu holen. Die Grenze zu Finnland, Kaliningrad, selbst der Ferne Osten ist entblößt: Alles, was Russland an einsatzfähigem Material hat, steht in der Ukraine. Es wird einen Punkt geben, wo die Front einfach kollabiert, wie einst im Ersten Weltkrieg.

Iran liefert Russland Drohnen, könnten etwa auch Waffenlieferungen Chinas für etwas Ausgleich sorgen? Oder wäre die Logistik einfach zu schwierig?

Letzteres ist der Fall. Peking könnte Waffen über Kasachstan liefern, aber das wird die kasachische Regierung nicht dulden, wenn sie gut beraten ist. Dann bliebe die Transsibirische Eisenbahn als einzige infrage kommende Eisenbahnlinie. Da bräuchte Wladimir Putin aber eine Menge Geduld, bis ausreichend Kriegsgerät angeliefert wäre. Russland hat seine Artilleriemunition jetzt bereits zu mehr als 60 Prozent verschossen, deswegen hält man sich dabei nun auch zurück.

Besteht angesichts dieser Knappheit die Möglichkeit, dass die russische Armee noch einmal alles auf eine Karte setzen wird? Solange überhaupt noch Fahrzeuge und Munition da sind?

Das halte ich nicht für wahrscheinlich. Russland ist ein großes Potemkinsches Dorf, das dem Westen erfolgreich weismachen konnte, es wäre stark und mächtig. Wer sich das Land einmal außerhalb der Glitzermetropolen Moskau und Sankt Petersburg angeschaut hat, bekam davon eine Ahnung. Dorthin hat es aber nur wenige westliche Politiker jemals hin verschlagen.

Herr Keupp, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Marcus Matthias Keupp via Videokonferenz
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