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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Druck steigt "Das ist das viel größere Problem für Putin"
Die innenpolitische Lage in Russland ist so angespannt wie lange nicht mehr. Ob das Putin gefährlich werden kann, erklärt Politologin Gwendolyn Sasse im Interview.
Die russische Armee befindet sich in der Defensive, Umfragen zeigen eine sinkende Zustimmung zum Krieg, Hardliner kritisieren die Kriegsführung. Spätestens seit dem russischen Rückzug aus der strategisch wichtigen Stadt Lyman in der Ukraine steht Präsident Wladimir Putin massiv unter Druck.
Wird ihm das gefährlich? Politologin Gwendolyn Sasse erklärt im Interview, wo die Risiken für Putin liegen, wie er versucht, sich Zeit zu verschaffen, und warum mit einem baldigen Kriegsende nicht zu rechnen ist.
t-online: Frau Sasse, Putin wird heute 70 Jahre alt – und die innenpolitische Lage ist so angespannt wie lange nicht.
Gwendolyn Sasse: Der Geburtstag fällt auf jeden Fall in eine für ihn schwieriger werdende Situation. Die offizielle russische Berichterstattung wird Putin heute in seiner Heimatstadt St. Petersburg bei einem als "informell" bezeichneten Gipfeltreffen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten in einer Position der Stärke zeigen. An diese scheint er weiterhin selbst zu glauben, obwohl das Momentum in der Kriegsdynamik derzeit auf der Seite der Ukraine liegt und in der russischen Gesellschaft und unter den Eliten Russlands Trends zu erkennen sind, die für ein autoritäres System zum Problem werden können. Die Betonung liegt dabei auf dem Wort "können", denn es ist zu früh, über das Ende des Systems Putin zu spekulieren.
Können Sie das ausführen?
Dieses autokratische System hat sich über viele Jahre etabliert und stützt sich auf Loyalität. Viele Personen aus dem Elitenkreis hängen direkt von Putin ab und sehen momentan noch keine Alternative zum jetzigen System. Aber durch den Krieg, vor allem durch die sogenannte Teilmobilmachung, die eher in Richtung einer Generalmobilmachung geht, hat der Kreml eine große Nervosität in der Gesellschaft gestreut. Auch darin liegt ein Risiko für Putin.
Zur Person
Die Politikwissenschaftlerin Gwendolyn Sasse leitet seit 2016 das Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin und ist Professorin für Vergleichende Demokratie- und Autoritarismusforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin. Am 13. Oktober erscheint ihr Buch "Der Krieg gegen die Ukraine – Hintergründe, Ereignisse, Folgen" im Beck-Verlag.
Schauen wir zunächst auf die Hardliner: Tschetschenenführer Ramsan Kadyrow wettert öffentlich über die Kriegsführung, Unterstützung bekommt er von dem Oligarchen Jewgeni Prigoschin, der die paramilitärische "Gruppe Wagner" finanziert.
Der Widerspruch aus den Reihen der politischen Eliten, und dazu gehören Kadyrow und Prigoschin, ist ein viel größeres Problem für Putin als die Stimmung in der Gesellschaft. So erkläre ich mir auch die Mobilmachung – als eine Reaktion auf die stärker werdenden ultranationalistischen und extremeren Stimmen, die Putins Kriegsführung infrage stellen.
Putins Antwort auf die jüngste Kritik Kadyrows war, dass er ihn zum Generaloberst befördert hat. Ist das ein Zeichen, dass er sich mehr nach den Hardlinern richten wird?
Es ist ein weiterer Schritt, die Loyalität Kadyrows zu Putin und zum jetzigen politischen System zu stärken. Denn das Verhältnis zwischen Putin und Kadyrow ist kein einfaches. Ich glaube allerdings nicht, dass Putin es mit dieser Beförderung schafft, Kadyrows Ambitionen einzuhegen. Es ist sehr auffällig, dass sich mit Kadyrow und Prigoschin zwei Stimmen gegenseitig unterstützen, die für militärische Kräfte außerhalb der russischen Armee sprechen. Es geht ihnen darum, nicht nur Druck auf Putin, sondern auch auf den Verteidigungsminister Sergej Schoigu und den Generalstabschef Waleri Gerassimow auszuüben. Putin verschafft sich mit dieser Beförderung also erst einmal Zeit und sendet gleichzeitig ein Signal nach außen.
Welches?
Mit Kadyrow hat er jemanden befördert, der ganz unverhohlen Drohungen ausspricht, sogar die Möglichkeit des Einsatzes von nuklearen Waffen einfordert. Das sendet auch das außenpolitische Signal, dass diese Drohungen im Kriegsgeschehen zur Realität werden könnten. Das passt in die Reihe von Drohungen, die Putin selbst bereits formuliert hat.
Könnte dieser Machtkampf zwischen den Hardlinern und der Militärführung auch direkte Auswirkungen im Kreml haben?
Wir können nur sehr schwer in diesen sehr engen Kreis um Putin herum hineinblicken, aber das Risiko besteht. Allerdings kann ich mir nur schwer vorstellen, dass Putin gerade in dieser für ihn schwierigen Lage Schoigu oder Gerassimow – also zwei Personen in Schlüsselpositionen – ersetzen würde. Das würde im Land nur noch mehr Unsicherheit schüren. Es ist aber interessant, dass die Eliten langsam beginnen, sich zu positionieren. Die kritischen Stimmen werden lauter. Viele von ihnen sind allerdings auch auf das jetzige System angewiesen, und eine wirkliche Alternative gibt es derzeit nicht. Von einem offenen Machtkampf würde ich deswegen noch nicht sprechen.
Schoigu dient allerdings schon jetzt als der Sündenbock für die schlecht laufende Invasion.
Auf jeden Fall. Allerdings wird Putin nicht zulassen, dass die Kritik zu weit geht. Denn auch Putin ist von Schoigu abhängig. Setzt er ihn jetzt ab, gesteht er öffentlich ein, dass der Krieg schlechter läuft, als er zugibt. Für das innenpolitische Publikum, das zu einem großen Teil nach wie vor nicht die Wahrheit über den Kriegsverlauf erfährt, wäre das ein weiterer destabilisierender Moment. Das kann Putin nicht wollen.
Dabei schwindet der Rückhalt in der Bevölkerung laut Umfragen ohnehin schon. Die Teilmobilisierung hat eine Massenflucht ausgelöst, in einigen Regionen auch große Proteste.
Diese Entwicklungen sind neu für das System Putin. Es hat zwar immer wieder Proteste auch jenseits von Moskau und St. Petersburg gegeben, die sich aber meistens an lokalen Problemen entzündet haben, wie zum Beispiel Infrastruktur, Müllhalden oder Waldbränden. Mit wenigen Ausnahmen haben sie sich aber bisher nicht direkt gegen Putin und den Kreml gerichtet, das ist jetzt anders.
Obwohl der Kreml schnell bemüht war, die Verantwortung für Probleme bei der Mobilmachung an die regionalen Stellen abzuschieben.
Das ist die typische Vorgehensweise. Putin hat bereits während der Corona-Pandemie die Verantwortung für Probleme den regionalen Akteuren zugeschoben. Die Teilmobilmachung aber geht auch in der Wahrnehmung der Bevölkerung von der Spitze des Staates aus. Auch wenn die Rufe sich bei den jetzigen Protesten bisher nur begrenzt direkt gegen Putin richten, ist doch die Verknüpfung dieses Mal enger. Daraus sollte man jedoch nicht ableiten, dass sich die Bevölkerung nun massenhaft auflehnt. Ein großer Teil zieht es vor, den Krieg so weit wie möglich auszublenden. Dies wird nun allerdings im Zuge der Mobilmachung schwieriger.
Beobachter rechnen zudem nicht damit, dass die Mobilmachung der russischen Armee in den kommenden Monaten tatsächliche Erfolge bescheren wird.
Das Momentum liegt derzeit auf der ukrainischen Seite, nicht auf der russischen. Wenn sich dies so fortsetzt, wird sich das weiter negativ auf die Moral der russischen Truppen auswirken. Dazu kommt: Die Ukraine erobert nun teilweise die Gebiete zurück, die Russland gerade erst annektiert hat. Putin lässt offen, wo genau die Grenzen der annektierten Gebiete verlaufen, wann der Rubel als Währung eingeführt wird. Eine Annexion mit so vielen Fragezeichen ist natürlich sehr merkwürdig. Und diese Unsicherheit ist innenpolitisch kaum zu verbergen.
Könnte die ukrainische Rückeroberung von Lyman, an der sich in Russland ja die Kritik so richtig entzündete, am Ende ein entscheidender Wendepunkt in diesem Krieg sein?
Für eine solche Einschätzung ist es zu früh. Sicher aber zeigt sie entscheidende Probleme der russischen Kriegsführung. Die Ukrainer stoßen viel schneller vor als erwartet. Das russische Militär reagiert allerdings nicht überall mit einem Rückzug, sondern nimmt in Kauf, dass gut ausgebildete Truppen eingekesselt werden. In der Region um Charkiw ließen Soldaten alles stehen und liegen und flohen. Dazu kommen fehlendes Personal, logistische Probleme und eine unflexible Befehlshierarchie.
Der Winter dürfte für Putin also nicht so angenehm werden.
Die nächsten Wochen vor dem Winter sind extrem wichtig für den weiteren Kriegsverlauf, denn im Winter werden Geländegewinne unwahrscheinlicher. Zugleich wird sich der Krieg ins neue Jahr hinein fortsetzen. Russland ist noch nicht am Ende seiner Optionen angekommen und kann zumindest zahlenmäßig mit weiteren Rekrutierungen nach und nach sein Personal auffüllen, sich eventuell auch neu gruppieren. Ich wäre also vorsichtig damit, ein baldiges Kriegsende vorherzusagen.
Frau Sasse, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.
- Gespräch mit Gwendolyn Sasse am 6. Oktober