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Historiker zu Russlands Angriffskrieg: "Wladimir Putin ist ein großer Verlierer"


Interview
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Historiker James
"Wahrscheinlich ist Putin bald weg"

InterviewVon Marc von Lüpke und Florian Harms

Aktualisiert am 07.10.2022Lesedauer: 9 Min.
Wladimir Putin: Russlands Präsident hat sein Land in eine Sackgasse geführt, sagt Historiker Harold James.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Russlands Präsident hat sein Land in eine Sackgasse geführt, sagt Historiker Harold James. (Quelle: dpa/AP/Alexei Nikolsky)

Die russische Armee erleidet im Ukraine-Krieg massive Rückschläge. Warum das die Lage noch gefährlicher machen könnte, erklärt der Historiker Harold James im Interview.

Die Stimmung in Deutschland ist schlecht. Inflation und Energiepreise sind auf einem Rekordstand, und niemand weiß, wie sehr Wladimir Putin den Krieg in der Ukraine noch brutalisieren wird. Setzt der Kremlchef bei weiteren Rückschlägen womöglich sogar Atomwaffen ein? Die Lage ist brandgefährlich – aber alles andere als hoffnungslos, sagt der Historiker Harold James, einer der besten Kenner der globalen Wirtschaftsgeschichte.

Warum das Ende von Putins Herrschaft längst begonnen hat, welche Fehler die Bundesregierung nun unbedingt vermeiden sollte und wie eine revolutionäre Technologie Deutschland mächtig voranbringen könnte, erklärt der Historiker im t-online-Interview:

t-online: Professor James, jetzt wird es richtig ernst: Der Winter naht, die Preise für Gas und Strom haben ebenso wie die Inflation dramatische Höhen erreicht. Hat die Ampelkoalition unter Kanzler Olaf Scholz Deutschland gut auf diese Extremsituation vorbereitet?

Harold James: Deutschland hat ziemlich viel richtig gemacht. Jedenfalls deutlich mehr als die Politiker in Großbritannien, meinem Heimatland. Aber wir sollten uns nichts vormachen: Die Lage in Deutschland ist überaus prekär, die Ängste der Menschen sind vollkommen verständlich. Schließlich ist sogar Deutschlands Zukunft als Industriestandort ungewiss. Nun kommt es erst einmal darauf an, durch den Winter zukommen.

Dabei versucht sich die Bundesregierung an der Quadratur des Kreises: Einerseits muss Energie gespart werden, was sich am besten über einen hohen Preis machen lässt. Andererseits muss sie die enormen Mehrkosten für ärmere Menschen abfedern.

Das ist tatsächlich der entscheidende Punkt. Menschen, die sich die hohen Energiepreise nicht leisten können, müssen unterstützt werden. Zumal sie auch stark unter der hohen Inflation leiden. Aber der Kreis der Berechtigten darf nicht zu groß ausfallen. Geschenke an Besserverdienende darf es nicht geben, das wäre ein völlig falsches Signal.

Nun soll das Schlimmste mit einem "Abwehrschild" in Höhe von 200 Milliarden Euro abgewendet werden, zentraler Hebel werden eine Strom- und Gaspreisbremse sein. Die Deutschen verbrauchen aber bereits jetzt mehr Gas, als sie dürften, warnt die Bundesnetzagentur. Im Winter könnte es deswegen knapp werden, eine Rationierung droht. Was also tun?

Der Energieverbrauch muss merklich sinken, und das regelt in der Tat am besten der Markt – durch Preise. Die Bundesregierung wäre gut beraten, wenn sie die geplanten Strom- und Gaspreisbremsen sehr umsichtig einsetzt und nur die ärgsten Spitzen abfedert. Jeder Bürger muss auch weiterhin merken, dass Gas nun sehr teuer ist. Damit wird ein starker Impuls zum Energiesparen gesetzt. Das ist auch angesichts der Klimakrise zwingend nötig – egal, ob Russlands Krieg gegen die Ukraine bald oder erst in einigen Jahren endet.

Harold James, Jahrgang 1956, lehrt Geschichte und Internationale Politik an der amerikanischen Princeton University. Der gebürtige Brite ist einer der bedeutendsten Wirtschaftshistoriker der Gegenwart und unter anderem Experte für die Geschichte der Globalisierung. Am 10. Oktober 2022 erscheint sein neues Buch "Schockmomente. Eine Weltgeschichte von Inflation und Globalisierung 1850 bis heute" im Verlag Herder.

Bislang versucht die Ampelkoalition vor allem, das Land möglichst schadlos über den Winter zu bringen. Sehen Sie bei der Regierung auch eine langfristige Planung, wie es danach weitergehen soll?

Anzeichen einer langfristigen Strategie kann ich nicht erkennen. Im Gegenteil, in Berlin herrscht eher Konfusion. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Deutschland wollte eigentlich zum Jahresende endgültig aus der Atomkraft aussteigen und die letzten drei Kernkraftwerke abschalten. Erst hieß es dann, dass zwei AKW als Notreserve bis April 2023 vorhalten sollten, nun sollen sie sogar regulär bis dahin weiterlaufen. Aber auch das wird absehbar nicht ausreichen. Angesichts des Ukraine-Kriegs und seiner schwerwiegenden Folgen hätten Olaf Scholz und Robert Habeck bereits vor Monaten erklären sollen, dass sie den Atomausstieg insgesamt zumindest auf den Prüfstand stellen. Das wäre eine konsequente und pragmatische Strategie gewesen.

Sie wäre aber in den Reihen der Grünen auf erheblichen Widerstand gestoßen.

Ich kann die große Skepsis gegenüber der Atomkraft angesichts von Katastrophen wie Tschernobyl 1986 und Fukushima 2011 nachvollziehen. Aber sie ist relativ kurzsichtig. Wir sollten auch über die nukleare Fusion als Zukunftstechnologie denken, die Technologie hier macht gewaltige Fortschritte. Gerade in der letzten Woche hat das Princeton Plasma Physics Laboratory einen gewaltigen Fortschritt gemeldet. Über der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Energiekrise steht immer noch der Klimawandel als noch viel größere Herausforderung. Diese Krise können wir nur durch eine massive und schnelle Reduzierung der Treibhausgase lösen – nicht irgendwann, sondern jetzt. Dabei kann die Atomkraft eine wichtige Rolle spielen. Sollten wir darüber nicht wenigstens einmal ernsthaft diskutieren? Vor allem, weil die erneuerbaren Energien noch nicht so weit sind, um die entstehenden Lücken zu füllen?

So oder so: Deutschland täte sich mit dem Bau von Fusionskraftwerken sehr schwer.

Richtig, dabei könnte Deutschland bei der notwendigen Forschung dazu einen wichtigen Beitrag leisten. Dafür bräuchte es aber einen entsprechenden Willen und gesellschaftlichen Rückhalt. Beides sehe ich in Deutschland noch nicht.

Noch nicht?

Die Dinge werden sich vermutlich bald ändern. Es geht ja gar nicht anders, die Probleme sind einfach viel zu groß.

Also fehlt der Bundesregierung nur die Einsicht?

Mut ist entscheidend. Sie handelt immer noch nicht pragmatisch genug. Deshalb reagiert sie immer nur auf die Eskalationsstufen der Krise, statt vorausschauend zu agieren.

Apropos Krise: Ihr neues Buch trägt den Titel "Schockmomente", darin haben Sie die Krisen der vergangenen 200 Jahre untersucht. Was ist Ihr Fazit, können Sie uns aus der historischen Erfahrung ein wenig Mut für die Gegenwart machen?

Selbstverständlich, es ist der Zweck meines Buches, in dieser Zeit ein wenig Optimismus zu verbreiten. Ich persönlich erinnere mich noch gut an den Ölpreisschock in den Siebzigerjahren. Das war nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine handfeste demokratische Krise: Die Gesellschaft breche auseinander, hieß es damals. Aber was ist passiert? Die Gesellschaft blieb stabil – weil man eine neue Wirtschaftsordnung etabliert und die Rolle des Staates überdacht hat.

Vor allem gab es damals eine Menge technologischer Innovationen, vor allem in der Digitalwirtschaft.

Stimmt, aber entscheidend waren politische Entscheidungen. Deutschland hat damals genau das Richtige getan, indem es die Energiekosten nicht künstlich niedrig gehalten hat. So wie übrigens auch Japan. In den USA ging man im Glauben, dass die Knappheit beim Öl nur zeitweilig wäre, stattdessen einen anderen Weg: Benzin wurde mit Staatsgeld billig gehalten, weswegen die Amerikaner weiterhin mit ihren Spritfressern umherfuhren. Die deutsche und die japanische Automobilindustrie dagegen entwickelten Technologien, mit denen sich Kraftstoff einsparen ließ – mit gewaltigem Erfolg!

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Aus dem kleinen japanischen Hersteller Honda wurde damals ein Autogigant.

Es war eine Revolution im Automobilbau. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass viele technologische Innovationen erst während Krisen ihr gewaltiges Potenzial offenbaren. Ich gebe Ihnen ein weiteres Beispiel: 1776 hatten Matthew Boulton und James Watt eine funktionsfähige Dampfmaschine entwickelt. Wann aber ging die erste britische Eisenbahn in Betrieb? 1825 – also erst fast 50 Jahre später, während der ersten britischen Wirtschaftskrise. Und erst weitere 13 Jahre später, während der Wirtschaftskrise in den USA, fuhr das erste Dampfschiff über den Atlantischen Ozean. Krisen sind schlimm, aber sie sind auch Innovationstreiber. Die Fähigkeit, Fracht schnell zu Lande und zu Wasser zu befördern, hat eine große Rolle bei der Bekämpfung der Hungerkrisen im Europa des 19. Jahrhunderts gespielt.

Bedeutet das, dass wir auch heute schon über viele Technologien verfügen, die uns aus der Krise helfen können, wir ihren "wahren" Nutzen aber erst erkennen müssen?

Natürlich ist das so. Nehmen Sie die mRNA-Technologie: Die war auch schon vor Corona bekannt, aber erst in der Pandemie hat sie sich durchgesetzt. Wir haben ihr in Form der Impfstoffe sehr viel zu verdanken. Aus einer Krise zu lernen, ist der Schlüssel, um sie zu besiegen.

In Ihrem Buch weisen Sie aber zugleich energisch darauf hin, dass die Lehren aus vergangenen Krisen oft hinderlich bei der Bekämpfung neuer Krisen seien. Ist das der Grund, warum wir zu Beginn der gegenwärtigen Multi-Krise so wenig effektiv gehandelt haben?

Wir denken immer zuerst an die letzte Krise, das ist ein typisches menschliches Verhalten: Was damals funktioniert hat, müsste es doch heute auch tun, oder? Leider ist es aber nicht so. Jede große Krise braucht neue Lösungen. Wir stehen gegenwärtig immer noch unter dem Einfluss der Weltfinanzkrise ab 2007 und der Eurokrise seit 2010. Die Antwort damals war, dass die Europäische Zentralbank eingriff und riesige Mengen Geld auf den Markt warf. Das war damals sicher richtig. Die derzeitige Krise ist aber anderer Natur: Sie beruht vor allem auf einem Angebotsschock und braucht entsprechend andere Antworten.

Nämlich welche?

Wir müssen das Angebot verändern: raus aus Gas und Öl, rein in Windkraft, Solarenergie und Wasserstoff. Und für die Übergangszeit brauchen wir erstens Kernkraft und müssen zweitens massiv Energie sparen. Das gelingt nur, indem der Staat zumindest in bestimmten Bereichen vorschreibt, wofür Bürger und Unternehmen noch Energien aufbrauchen dürfen und wofür nicht. Nehmen wir eine energieintensive Glashütte als Beispiel, die derzeit inmitten der Energiekrise unter sehr hohen Kosten leidet. Sie könnte zeitweilig stillgelegt werden, mit staatlicher Unterstützung dann bei niedrigeren Energiepreisen den Betrieb später aber wieder aufnehmen.

Der Verursacher des gegenwärtigen Krisenschocks heißt Wladimir Putin, er will das russische Imperium wiederherstellen. Nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine haben Sie geschrieben, dass Imperialismus etwas für Verlierer sei. Putins Truppen haben aber zumindest in der Süd- und Ostukraine größere Territorien erobert.

Wladimir Putin ist ein großer Verlierer. Er will das Imperium allein aus einem Gefühl der Demütigung und der Schwäche wiedererrichten, weil er das Ende der Sowjetunion immer noch nicht überwunden hat. Nun bedient er sich an der Geschichte wie in einem Selbstbedienungsladen, um seinem aggressiven Kurs gegen die Ukraine und den Westen einen ideologischen Rahmen zu geben. Aber eine Lektion will Putin einfach nicht begreifen: Imperialismen scheitern immer. Manchmal dauert es längere Zeit, aber sie scheitern. Auch Putins Ende hat schon begonnen.

Woran machen Sie das fest?

Die politische Lage in Russland ist viel instabiler, als viele im Westen glauben. Es ist gut möglich, dass Russland bald auseinanderfällt. Die Teilmobilmachung läuft alles andere als reibungslos, die Referenden in den besetzten Gebieten in der Ostukraine sind vollkommen unglaubwürdig. Putin selbst wird von extremen Nationalisten in Russland wegen der mangelhaften und angeblich zu zaghaften Kriegsführung in der Ukraine massiv kritisiert. Diesen Leuten wird er es selbst mit härtester Gewalt niemals rechtmachen können. Wenn es zu einem Umsturz kommen sollte, dann wahrscheinlich von dieser Seite. Oder das Militär nimmt die Sache gleich selbst in die Hand. Oder versucht es zumindest.

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Sie gehen also davon aus, dass Putin Russland bald nicht mehr beherrschen wird?

Wahrscheinlich ist Putin bald weg. Was nicht unbedingt Hoffnung nährt, denn eine sofortige demokratische Nachfolgeregierung ist sehr unwahrscheinlich. Putins Nachfolger – wenn sie aus nationalistischen Militär- und Geheimdienstkreisen kommen – könnten auch einem Einsatz von Atomwaffen gegenüber aufgeschlossener sein. Nicht, dass das ein erfolgversprechender Weg wäre.

Mittlerweile folgen andere Staaten Putins aggressivem "Vorbild": Aserbaidschan hat Armenien in der Absicht angegriffen, die Landkarte mit Gewalt zu verändern.

Wobei Aserbaidschan auch die Tatsache ausgenutzt hat, dass Russland zurzeit vollauf mit dem Krieg gegen die Ukraine beschäftigt ist. Tatsächlich macht die Vorgehensweise des Kremls auch auf andere Art und Weise Schule. Im Streit um die Westsahara legt sich Algerien erneut mit Marokko an – und weil Marokko auf spanische Unterstützung zählen kann, droht Algerien als wichtiger Gaslieferant Spaniens mit dem Griff zum Gashahn. Es ist dieselbe Erpressungstaktik, die Russland gegenüber Westeuropa anwendet.

Wie kann der Westen, wie kann sich Deutschland weniger erpressbar, machen?

Es müssen neue Kooperationen geschlossen werden – und zwar mit anderen Ländern und anderen Unternehmen. Außerdem sollte man noch viel stärker technologische Innovationen vorantreiben. Deutschland hat viel Wissen und Erfahrung in Biotechnologie, aber auch in Künstlicher Intelligenz. Die verfehlte Strategie, die auf importiertes russisches Gas setzte, ist nicht in Stein festgesetzt: Es ist möglich, eine Wende zu vollziehen. Im Augenblick hat der Kreml eine Energiewaffe gegen Deutschland in der Hand, aber bald wird das vorbei sein. Putin führt Russland in die Sackgasse, er schneidet sein Land vom Wohlstand ab.

Wie verhält es sich mit China, mit dem Deutschland wirtschaftlich eng verflochten ist? Auch Peking verfolgt eine aggressive Politik, vor allem gegenüber Taiwan.

In China mehren sich die Stimmen, wonach das Land am besten nach friedlicher Interaktion mit dem Rest der Weltgemeinschaft streben sollte: Die Hinwendung zu Autarkie, die Xi dem Land aufzwingen wollte, bringt Kosten und Nachteile. Russlands Schwierigkeiten im Krieg gegen die Ukraine werden auch in China aufmerksam registriert – und dürften die Ambitionen auf eine Invasion Taiwans sicher gedämpft haben.

Vor wenigen Wochen hat Putin auf einem Gipfel in Usbekistan nicht nur Chinas Staatspräsidenten Xi Jinping getroffen, sondern auch Indiens Regierungschef Narendra Modi. Beide haben Putins Krieg mit ungewohnter Offenheit kritisiert.

Xi und Modi haben Putin offen zu verstehen gegeben, dass dieser Krieg so nicht weitergehen kann. Wenn Modi so etwas sagt, hat es ein ganz anderes Gewicht, als wenn es Bundeskanzler Olaf Scholz tut. Denn Indiens Wohlwollen ist für den Kreml sehr wichtig. Für Putin war das eine demütigende Erfahrung, sicherlich hatte er sich das anders vorgestellt.

Glauben Sie denn, dass sich künftig wieder eine stabile Friedensordnung herstellen lässt, die eine gewaltfreie Lösung von Konflikten garantiert?

Jede Krise ist eine Chance – und diese sollten wir ergreifen. Der Ökonom John Maynard Keynes hat nach dem Ende des Ersten Weltkrieges einmal bemerkt, dass "die Dinge erst schlimmer werden müssen, bevor sie besser werden können." Wir sollten damit allerdings nicht bis zum absoluten Tiefpunkt warten.

Professor James, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Harold James via Videokonferenz
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