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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chinas Folterlager "Was anders ist, nimmt er als Bedrohung wahr"
Folter, Misshandlung, Ausgrenzung – ein Datenleck hat offengelegt, was lange befürchtet wurde: Millionen von Uiguren werden durch die chinesische Regierung verfolgt und weggesperrt. Warum? Und was folgt daraus? Ein Experte gibt Antworten.
Polizisten mit hölzernen Knüppeln, Menschen mit schweren Ketten an den Füßen und schwarzen Tüchern über den Augen: Internationale Medien haben durch ein Datenleck das Ausmaß der Massenverhaftung und -verfolgung der Uiguren in der chinesischen Provinz Xinjiang offengelegt. Bilder zeigen, wie Menschen in sogenannten "Umerziehungslagern" gefoltert und misshandelt werden.
Was steckt dahinter? Und drohen China durch die "Xinjiang Police Files" internationale Konsequenzen? Darauf antwortet der Journalist und Autor Philipp Mattheis, langjähriger China-Korrespondent, im t-online-Interview. Er hat sich in seinem Buch "Die Uiguren – ein Volk verschwindet. Wie wir China beim Völkermord zusehen" intensiv mit dem Thema befasst.
t-online: Warum werden die Uiguren von der chinesischen Regierung verfolgt?
Philipp Mattheis: Das ist eine simple Frage, aber erfordert eine recht komplexe Antwort. Einerseits sind die Uiguren anders als das "Hauptvolk" der Chinesen – die Han-Chinesen. Die Uiguren zählt man zu den Turkvölkern. Das heißt, ihre Sprache ist verwandt mit den türkischen. Sie haben einen anderen Glauben, zum Großteil sind es Muslime. Diese Unterschiede gab es schon immer in der Geschichte von Xinjiang – oder wie es die Uiguren nennen: Ost-Turkestan. Lange Zeit hat das die chinesische Regierung nicht gestört. Erst in den 1980er Jahren begann sich das zu verändern. Ab da übt Peking einen stärkeren Assimilationsdruck auf die Uiguren aus.
Warum?
Das hat damit zu tun, dass die Provinz Xinjiang wichtiger geworden ist. Eines der Kernprojekte ist heute die neue Seidenstraße, mit der neue Märkte in Zentralasien eröffnet werden sollen. Im Laufe der Jahrzehnte wurde aus der Randprovinz Xinjiang der Knotenpunkt für Chinas Handelsstrategie. Dann kommt hinzu, dass Xinjiang die rohstoffreichste Provinz des Landes ist. Für die Energieversorgung ist sie aufgrund ihres Erdölvorkommens sehr wichtig. Und nicht zuletzt muss man wissen, dass Präsident Xi Jinping wesentlich autoritärer agiert und reagiert, als es viele seiner Vorgänger getan haben. Alles, was anders oder nicht kontrollierbar ist, nimmt Xi als Bedrohung wahr. Deshalb lässt er die Uiguren seit seiner Machtergreifung 2013 immer stärker verfolgen.
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Peking begründet das Vorgehen gegen die Uiguren damit, dass diese "terroristisch" seien. Von einigen Uiguren erfährt man dann aber, dass ihre Angehörigen inhaftiert worden seien, etwa weil sie einen Koran bei sich trugen. Was ist also dran an dem Terrorismusvorwurf?
Generell muss man sagen, dass es aufgrund der starken Diskriminierung der Uiguren auch immer wieder zu Aufständen in der Provinz gekommen ist. Ein sehr großer fand beispielsweise 2010 statt. Das hat dann auch dazu geführt, dass man das Problem in Peking höher priorisiert hat. Peking stellt die Uiguren allerdings unter Generalverdacht, alle islamistische Terroristen zu sein. Das entspricht definitiv nicht der Realität. Es mag vereinzelte islamistische Bewegungen geben, aber die sind absolut marginal und rechtfertigen das Vorgehen Pekings in keiner Weise.
Durch einen Datenleak sind ja nun mehrere Bilder, Berichte und Befehle aus den Lagern in der Provinz Xinjiang an die Öffentlichkeit gekommen. Waren Sie von dem Material überrascht?
Nein. Ich glaube niemand, der sich intensiver damit befasst hat, war davon überrascht. Die Datenleaks machen aber dingfest und belastbar, was viele Spezialisten schon herausgefunden haben. Die Erkenntnisse musste man sich vorher mühsam zusammensuchen. Durch Daten wusste man etwa, dass die Sterilisationen in den Lagern zugenommen haben, dass sich die Zahl der Wachleute verzehnfacht hat. Satellitenbilder haben die Lager gezeigt. Überlebende und Uiguren aus der Diaspora haben darüber berichtet. Aber jetzt haben wir aus erster Hand viele Infos zu den Inhaftierten: Name, Bild, angebliches Vergehen, Haftdauer.
Laut Berichten soll eine Million von insgesamt zehn Millionen Uiguren inhaftiert sein. Was ist von diesen Zahlen zu halten?
Die Zahl ist sehr wackelig. Wir wissen nicht genau, wie viele Menschen tatsächlich dort sind. Es deutet vieles darauf hin, dass diese "Umerziehungslager", wie sie so euphemistisch genannt werden, die Identität und auch den Willen der Menschen brechen sollen. Die Idee ist also vermutlich, dass man viele Menschen über mehrere Monate in diesen Lagern hält und sie danach so verängstigt und traumatisiert sind, dass sie keinen Widerstand mehr leisten. Es ist also denkbar, dass noch mehr Millionen dieses Lagersystem durchlaufen haben und eine "Gehirnwäsche" bekommen haben. Es gibt sogar Vermutungen, dass die Lager wieder kleiner werden, weil man – zynisch gesagt – sagt: "Die meisten Uiguren sind jetzt durch."
Das heißt, die Regierung hat ihr Ziel erreicht, einen Großteil der Uiguren mundtot zu machen?
Leider ja.
Und außerhalb der Lager? Werden sie dort auch unterdrückt?
Ja, Repressalien gibt es auch außerhalb der Lager. Die gesamte Überwachungstechnologie der Regierung – Gesichts- oder Spracherkennung zum Beispiel – wird in Xinjiang erprobt und später auch im Rest des Landes angewendet. Covid-Maßnahmen werden als Vorwand genutzt, um die Leute zu kontrollieren. Es gibt eine systematische Diskriminierung der Uiguren, Jobs werden beispielsweise lieber an Han-Chinesen gegeben.
Könnte sich das mit dem Datenleak ändern? Steigt der Druck auf die Regierung in Peking?
Davon ist nicht auszugehen. Der Druck hat in den letzten zwei Jahren schon zugenommen. Es gibt immer mehr Initiativen, die Unternehmen dazu drängen, ihre Lieferketten zu überprüfen und keine Produkte mehr aus China zu beziehen. Das sind gute Entwicklungen, aber ich glaube, damit ist auch das Maximum an Möglichkeiten erreicht, die wir haben. Peking weiß das und nimmt es in Kauf.
Trotzdem kommen die Datenleaks gerade zu einem wichtigen Zeitpunkt, weil die UN-Menschenrechtskommissarin Michelle Bachelet in China ist und Xi Jinping ein Meister darin, Besuchern eine heile Welt vorzuspielen. Sollte Bachelet nach einer Woche in China sagen "Ach, das ist gar nicht so schlimm, und ich habe da blühende Landschaften gesehen", würde die UN massiv an Glaubwürdigkeit verlieren. Deshalb ist es gut, dass diese Bilder jetzt belegen, dass es nicht so ist. Aber ich glaube nicht, dass Peking sich davon beeindrucken lässt.
"Peking spielt Besuchern eine heile Welt vor" – was heißt das genau?
Man weiß von Menschen, die dort waren, dass Peking wirklich Touren organisiert und ausgewählte Gegenden und Projekte zeigt, die nach "blühender Landschaft" aussehen. Das widerspricht der Realität in Xinjiang auch nicht grundsätzlich. Viele Millionen Han-Chinesen leben da sehr gut. Es wurde wahnsinnig viel investiert, es wurden viele Wohnungen gebaut, Straßen und Flughäfen. Man kann Besuchern ohne großen Aufwand eine heile Welt zeigen. Die Realität ist das deshalb aber nicht.
Es gibt auch westliche Firmen, die sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert sehen, dass sie in Xinjiang produzieren. Die USA haben bereits die Einfuhr solcher Produkte gestoppt. Sollte auch Deutschland so reagieren?
Ich glaube, es ist schwierig, seine Lieferketten komplett sauber zu halten, und dass die Unternehmen da sicher vor großen Herausforderungen stehen. Aber so große Konzerne wie Volkswagen, die dort produzieren, sollte man in die Verantwortung nehmen. Von denen kann man verlangen, dass sie die Werke dort schließen, ein Zeichen setzen, ihre Macht nutzen und sagen: "Nein, wir machen da nicht mit!"
Wie kann man Peking denn abgesehen von diesem wirtschaftlichen Rückzug aus der Region noch zur Rechenschaft ziehen?
Das ist eine Frage, vor der ich eher zurückschrecke, weil das auch Macht- und geopolitische Faktoren hat. Aber als Journalist und Autor kann ich sagen: Man sollte klarer benennen, was dort los ist. Man sollte nicht denken, wir dürfen das Thema nicht ansprechen, denn sonst mag uns die Kommunistische Partei Chinas nicht mehr. Sondern man sollte klar kritisieren, was ist, und dann Konsequenzen ziehen. Ich glaube, das Mindeste ist, dass man sagt, wir produzieren nicht in einer Provinz, wo so was passiert und wo wir nicht sichergehen können, dass wir da nicht in einer Weise von profitieren.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Mattheis!
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- Telefongespräch mit Philipp Mattheis, Autor und Journalist