Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Rückblick auf das letzte Jahrzehnt Warum plötzlich viele kleine Trumps regieren
Eine Dekade geht zu Ende. Sie war geprägt von internationalen Konflikten, Terrorismus und Naturkatastrophen. Vor allem aber von der Klimakrise und einem politischen Phänomen, das fast vergessen schien.
Macht's gut, ihr Zehnerjahre! Wir sind dann mal weg.
Wir nehmen heute Abschied. Abschied von einem Jahrzehnt, in dem vieles passiert ist. Terrorismus, Naturkatastrophen, Unglücke, Schicksalsschläge. Wenn man ein Resumé dieser vergangenen zehn Jahre zieht, dann sieht man eines ganz klar: Da erlebt ein Phänomen sein Revival, das nach dem Ende des Kalten Krieges ausgedient zu haben schien. Es ist das Phänomen der vielen kleinen Trumps.
Angesichts von Kriegen, Konflikten und Krisen sehnen sich viele Menschen nach festen Grenzen, klaren Regeln, einfachen Antworten. Sie sehnen sich nach einem Zuhause, das dem Sturm da draußen standhält. Sie lehnen Fremdes ab, oft auch Fremde. Sie vertrauen sich Politikern an, die ihnen versprechen: Ich mach' das schon. US-Präsident Donald Trump ist so jemand. Der Brasilianer Jair Bolsonaro auch. Der philippinische Präsident Rodrigo Duterte ist vom selben Schlag. Der Ungar Viktor Orban und der Brite Boris Johnson. In der Türkei ist Recep Tayyip Erdogan der starke Mann, in Russland behauptet sich Wladimir Putin – mit hohen Beliebtheitswerten, die im Westen gern mal unterschlagen werden. Die Welt ist voll von vielen kleinen Trumps.
Einfache Antworten wiegen Menschen kurz in Sicherheit
Sie reiten auf der Welle des Nationalismus, des Protektionismus und der Feindseligkeit gegenüber Migranten und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Sie sind Populisten im klassischen Sinne: Sie bedienen die Sehnsucht der Menschen nach einem starken Anführer, der die "kleinen Leute" gegen "die da oben" verteidigt. Das "reine Volk" gegen die "korrupte Elite", so beschreibt es der Politologe Cas Mudde. Die repräsentative Demokratie geht ihnen häufig nicht schnell genug: Sie haben eine Vorliebe für Volksentscheide. Die durchstrukturierten Verfahren und Feinheiten eines Rechtsstaates stören sie bei der raschen Durchsetzung ihrer Prestigeprojekte.
Sie kündigen an, eine Mauer zu bauen (Trump in Richtung Mexiko) oder mit einem Zaun Migranten abhalten zu wollen (Orban). Der eine zieht aus der EU, komme, was wolle: "Get Brexit done", tönt Boris Johnson. Wozu all das Verhandeln mit der EU-Kommission, klingt da durch, der Mann will raus aus der EU, es kann nicht schnell genug gehen, es klingt, als seien die vergangenen 47 Jahre in der Gemeinschaft die pure Hölle gewesen. Und als sei das, was kommt, Freiheit, Wohlstand und Glückseligkeit.
Was hat sich verändert?
Warum lassen sich die Menschen seit den Zehnerjahren wieder verstärkt von Populisten verführen? Globalisierung und Digitalisierung haben schon früher zu Verunsicherung geführt, auch Kriege und Terrorismus hat es in der Dekade 2000 bis 2010 reichlich gegeben. Was hat sich also verändert?
Es gibt nicht den einen Grund für den Siegeszug des Populismus. Was sich aber in den vergangenen zehn Jahren vergrößert hat, sind die globalen Migrationsströme. Arme Menschen ziehen in reiche Länder, um dort zu arbeiten und es besser zu haben. Von Hungersnöten bedrohte Menschen retten sich und ihre Kinder. Menschen fliehen vor Bomben. Wohin? Die Richtung ist dabei meistens von Süden nach Norden. Sie bringen ihre eigene Kultur mit, sie wollen am Leben in dem neuen Land teilhaben. Und die Menschen dort fürchten um ihre Pfründe und um ihre Sicherheit, wirtschaftlich wie kulturell. Der Verteilungskampf um den Reichtum der Welt ist neu entbrannt. Vielleicht hat er noch nie so getobt wie heute, wo die Menschen mobil sind wie nie zuvor.
Es sind die vielen kleinen Trumps, die nun hervortreten und sagen: Sorgt euch nicht – ich erhalte euch die Welt, wie ihr sie kennt. Allein: Die Welt ist komplex und die einfachen Antworten werden ihr nicht gerecht. Sie sind ein Versprechen, das die Menschen kurz, aber nur ganz kurz in Sicherheit wiegen wird.
Das komplexeste Problem, das wir aus der vergangenen Dekade ins neue Jahrzehnt mitnehmen, ist die Klimakrise. In Australien brennen die Wälder und Büsche, die erste Säugetierart – eine kleine Ratte – ist aufgrund des Klimawandels ausgestorben, in Deutschland erleben wir in diesem Jahrzehnt die heißesten Sommer seit Beginn der Aufzeichnungen. Die wirtschaftlichen Auswirkungen sind schon heute immens. Überflutungen und Stürme werden heftiger. All das führt wiederum zu neuen Migrationsbewegungen. Es gibt weniger Insekten. Die Vögel finden zu wenig zu fressen. Die Bienen sind bedroht. Das Eis in der Arktis schmilzt in atemberaubendem Tempo und lässt den Meeresspiegel ansteigen. Krankheiten breiten sich leichter aus. Aus dem tauenden Permafrost entweicht Methangas.
Man könnte ewig so weitermachen. Klimakrise, das bedeutet globale Kettenreaktionen, die von empfindlichen Kipppunkten ausgelöst werden, von deren Existenz wir heute womöglich noch nicht einmal wissen.
Der Sturm vor dem Haus, vor dem die Politiker die Menschen schützen sollen, der ist längst da. In echt. "Unser Haus brennt", so hat Greta Thunberg es in ihrer Rede auf der Klimakonferenz in Katowice gesagt. Doch wenn man das Wählerverhalten betrachtet, trauen etliche Menschen den vielen kleinen Trumps zu, das Haus gegen den Sturm zusammenzuhalten oder, in Thunbergs Metapher, den Brand zu löschen. Was wahnwitzig ist, weil viele dieser Politiker nicht einmal anerkennen, dass es die von Menschen verursachte Klimakrise überhaupt gibt, geschweige denn entschlossen dagegen handeln wollen. Sie geben allerhöchstens vor, einzelne Folgen der Krise – wie Dürren mit Hilfsgeldern und Flutkatastrophen mit höheren Dämmen – zu bekämpfen, was ein wenig so ist, als würde man tausend kleine Flammenherde anstelle der großen Feuerbrunst in der Ferne löschen.
Die Klimakrise ist kein Lichtschalter, den man anknipsen und ausschalten kann wie man möchte. Selbst wenn die CO2-Emissionen bis 2030 weltweit massiv gesenkt werden – und davon sind wir weit entfernt –, ist die Erderwärmung doch in vollem Gange. Es ist eine Krise, die sich wie ein Schatten auf alles legt, was jetzt kommt. Hungersnöte, Wasserknappheit, Kriege und bewaffnete Konflikte – all das wird es auch im kommenden Jahrzehnt geben. Aber die Klimakrise und die an vielen Orten der Welt stark erhöhten Temperaturen werden die Probleme verschärfen.
Manche Dinge schafft man nur zusammen
Was so apokalyptisch klingt, ist die Essenz aus Berichten von Klimaforschern und täglichen Nachrichten. Man muss sagen: Die Lage ist besorgniserregend – und sicherlich keine Aufgabe für die vielen kleinen Trumps. Außenminister Heiko Maas (SPD) hat 2019 zur "Allianz der Multilateralisten" aufgerufen, ein Wortungetüm, hinter dem sich der Glaube verbirgt: Manche Dinge schafft man nur zusammen. Es ist schwer zu prognostizieren, ob sich diese Erkenntnis in den kommenden zehn Jahren auch in den USA, Großbritannien oder Brasilien durchsetzen wird und der konfrontative Auftritt abgelöst wird von einem kooperativeren Stil.
Statt in angstvolle Apathie zu verfallen, wie Menschen es oft tun, wenn ihnen eine Aufgabe zu groß erscheint, könnten wir am Neujahrsmorgen auch mit einem Rest Hoffnung und Optimismus für die Welt aufwachen. Es ist bei der Erderwärmung zwar nicht mehr fünf vor, sondern mindestens fünf nach zwölf. Es hat auch keinen Sinn, sich immer weiter einzureden, die Menschheit hätte noch viel Zeit, sich anzupassen. Aber: Noch leben wir. Noch treffen wir die Entscheidungen, auch über unsere Zukunft. Das sollten wir nicht den kleinen Trumps überlassen.
- David Wallace-Wells: Die unbewohnbare Erde
- Weltklimarat: Sonderbericht über Klimakrise und Land (englisch)
- Auswärtiges Amt: "Allianz der Multilateralisten"