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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukrainische Infrastruktur Auf diese Kraftwerke hat es Trump abgesehen

Nach seinem Telefonat mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj erklärte Donald Trump, US-Firmen sollten ukrainische Kraftwerke übernehmen. Um diese Infrastruktur geht es.
Am Mittwoch telefonierte US-Präsident Donald Trump mit seinem ukrainischen Amtskollegen Wolodymyr Selenskyj – und machte danach einen bisher ungehörten Vorschlag. US-Firmen sollten die Kernkraftwerke der Ukraine und andere, nicht näher definierte Teile der Stromversorgung übernehmen. Laut der US-Regierung könnte das dabei helfen, die Energieinfrastruktur gegen russische Angriffe zu schützen. Gehören die Kernkraftwerke den USA, wird Putin sie nicht angreifen, so die Denkweise der US-Regierung.
Selenskyj widerspricht der US-Regierung in einem wichtigen Punkt. Während Trump ihm eine Übernahme aller vier ukrainischen Atomkraftwerke als Sicherheitsgarantie vorgeschlagen haben will, wurde Selenskyj zufolge nur über das russisch besetzte AKW Saporischschja gesprochen. Das sagte der ukrainische Präsident der "Financial Times".
Atomenergie als Rückgrat der Stromproduktion
Die ukrainischen Atomkraftwerke sind das Rückgrat der Stromproduktion für das kriegsgebeutelte Land, weil viele Kohlekraftwerke infolge russischer Angriffe beschädigt sind. Die Regierung in Kiew hat derzeit die Kontrolle über drei der ukrainischen Kernkraftwerke, während Russland das vierte in Saporischschja 2022 erobert hat und bis heute besetzt hält.
Saporischschja ist nicht nur das größte Atomkraftwerk der Ukraine, sondern auch das größte Europas. Vor dem Krieg versorgte es beinahe den gesamten Süden der Ukraine mit Strom. Seine Abschaltung nach der Eroberung durch russische Truppen fällt deshalb besonders schwer ins Gewicht – denn ohne die Leistung des AKW Saporischschja wird deutlich weniger Strom in das ukrainische Netz eingespeist.
Doch die Ukraine kontrolliert immer noch drei Kernkraftwerke, die für sie unerlässliche Stromproduzenten sind. Vor dem russischen Überfall erbrachte Kernkraft etwa 60 Prozent des ukrainischen Stroms.
Drei Kernkraftwerke unter ukrainischer Kontrolle
Neben dem großen Kraftwerk in Saporischschja produzieren drei weitere Kernkraftwerke wichtige Energie: Chmelnyzkyj liegt in der gleichnamigen Region im Nordwesten des Landes, derzeit produzieren dort zwei Reaktoren Strom. Im Februar 2025 stimmte das ukrainische Parlament für den Kauf zweier weiterer Reaktoren aus Bulgarien, um die Energieproduktion in Chmelnyzkyj langfristig zu sichern und weiter auszubauen.
Das zweitgrößte ukrainische Kernkraftwerk trägt den Namen Südukraine und steht in der Region Mykolajiw. Dort produzieren drei Reaktoren Energie, die in Strom umgewandelt wird. Neben Südukraine und Chmelnyzky gibt es noch das AKW Riwne im äußersten Nordwesten der Ukraine, in dem vier Reaktoren Energie produzieren.
Die Produktion wird, wie in allen anderen ukrainischen Kernkraftwerken, von der internationalen Atomaufsichtsbehörde IAEO überwacht. So soll die Wahrscheinlichkeit von schweren Atomunfällen minimiert werden.
Russland zerstörte wichtige Energiesysteme
Vor dem Krieg war von Wärme- und Wasserkraftwerke produzierter Strom noch ein wichtiger Bestandteil des ukrainischen Strommixes. Eine Studie der ukrainischen Wissenschaftlerin Iryna Doronina zeigt allerdings, dass diese Möglichkeiten der Stromproduktion der Vergangenheit angehören: "Ein Jahr nach dem Beginn des Kriegs im Februar 2022 waren 76 Prozent der thermischen Kraftwerke zerstört, inzwischen sind es 95 Prozent", erklärte die Forscherin im September 2024 dem Magazin der ETH Zürich. "Und auch sämtliche großen Wasserkraftwerke sind ausgefallen."
Insbesondere die Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat der Stromproduktion in der Ukraine einen schweren Schlag versetzt. Die riesige ausfließende Wassermenge – die Fläche des Stausees war etwas kleiner als das Saarland – zerstörte Tausende von Häusern und verwandelte den Stausee in eine Wüste.
Dezentraler Wiederaufbau nach dem Krieg?
Nach dem Krieg wird eine der dringendsten Fragen sein, wie die Ukraine ihre Energieinfrastruktur wieder aufbauen kann. Auch dazu forscht Iryna Doronina derzeit an der Technischen Universität in München. Ihr Lösungsansatz: Das Stromnetz der Ukraine müsse dezentral aufgebaut werden und auf erneuerbare Energien setzen. Gemeinden könnten durch die schnelle, und im Vergleich zu Kernkraftwerken kostengünstige, Errichtung von Wind- und Solarkraftwerken ihren eigenen Energiebedarf decken.
Diese Autonomie der Gemeinden sei unerlässlich für einen schnellen Wiederaufbau der Ukraine nach dem möglichen Kriegsende. "Wir wollen wieder in der Ukraine leben und hoffen, das Land dank unserer Resultate weiter entwickeln zu können". Eine dezentrale Strominfrastruktur könnte dem Land dabei helfen, in Zukunft einerseits weniger abhängig von den Vereinigten Staaten zu sein, sollten US-Firmen wirklich die noch laufenden AKW der Ukraine übernehmen.
Zum anderen könnte das Land so künftig weniger anfällig für Stromausfälle werden, sollte Russland ein mögliches Friedensabkommen verletzen und die Ukraine erneut angreifen.
- plus.ethz.ch: "Wie die Ukraine ihr Energiesystem wiederaufbauen kann"
- pris.iaea.org: "Ukraine" (Englisch)
- theguardian.com: "Ukraine war briefing: Trump 'wants Zaporizhzhia power plant for US'" (Englisch)
- bellona.org: "A brief guide to Ukraine’s nuclear power plants" (Englisch)
- rusi.org: "Fighting for the Light: Protecting Ukraine's Energy System" (Englisch)
- ukraineverstehen.de: "Über 50 Prozent der ukrainischen Energiekapazitäten sind durch die massiven Angriffe Russlands zerstört – wie kann die EU helfen?"