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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutsche Deals mit Erdoğan Ein unmoralisches Angebot
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan pendelt diplomatisch zwischen dem Westen und Mächten wie Russland und China. Länder wie Deutschland setzen trotzdem auf Deals mit der Türkei. Das ist aber ein hochriskantes Spiel.
Zwischen Himmel und Hölle. Dieses Hüpfspiel haben Kinder vieler Generationen in zahlreichen Ländern auf den Pausenhöfen ihrer Schulen gespielt. Auf dem Boden sind mit Kreide einige quadratische Kästchen aufgemalt. Die Kinder müssen teilweise mit dem linken, mal mit dem rechten oder mit beiden Beinen in das finale Kästchen hüpfen – in den Himmel.
Dieses Spiel lässt sich auch auf die internationale Politik übertragen. Es gibt viele Staats- und Regierungschefs, die die gegenwärtigen geopolitischen Spannungen nutzen, um selbst eine Art Pendeldiplomatie zu betreiben. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan etwa hüpft seit Jahren politisch zwischen seinen westlichen Nato-Partnern und dem politischen Block mit Russland, China und dem Iran umher. Sein Ziel ist aber nicht der Himmel. Die Türkei möchte mit dieser Politik vor allem wirtschaftlich und militärisch profitieren.
Und spätestens seit der russischen Invasion in der Ukraine scheint Erdoğans Plan immer mehr aufzugehen.
Zwar steckt die Türkei noch immer in einer schweren Wirtschafts- und Währungskrise – einer Krise, die seit Jahren Ängste und Not in breiten Teilen der türkischen Gesellschaft hervorruft. Erdoğan nutzt die gegenwärtigen Probleme, um sich seinen westlichen Partnern anzunähern, und hofft vor allem auf Devisen und Rüstungsgeschäfte. Die türkische Führung ist kaum Kompromisse eingegangen, trotzdem scheinen die Konflikte der Vergangenheit auch im Westen für den Moment vergessen zu sein. Doch das ist ein Spiel mit dem Feuer.
Annäherung an die Türkei
Innerhalb der Europäischen Union wächst eigentlich schon seit dem Mai 2023 die Idee, dass eine Wiederannäherung zur Türkei der richtige Schritt sei. Erdoğan hatte zwar die Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr gewonnen, kündigte im Wahlkampf allerdings an, dass dies seine letzte Amtszeit als Präsident sei. Unabhängig davon, ob er sich daran hält, wächst unter europäischen Diplomaten zumindest die Zuversicht, dass er in den kommenden Jahren versöhnlicher auf den Westen zugehen könnte. Immerhin geht es für Erdoğan dann nicht mehr um seine Macht und er müsste sich nicht mehr außenpolitische Konflikte suchen, um innenpolitisch in der Türkei zu punkten.
So zumindest die Theorie.
In der Praxis hat Erdoğan in den vergangenen Monaten nur teilweise etwas dafür getan, dass dieser Annäherungsprozess mit seinen europäischen Partnern erfolgreich sein wird. Stattdessen pendelte er diplomatisch, und es war in vielen westlichen Regierungen ein ständiger Emotionswechsel zwischen Verärgerung und positiver Überraschung.
Einerseits unterstützt die Türkei die Ukraine in ihrem Abwehrkampf gegen Russland mit Drohnen und Artillerie. Erdoğan versicherte dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj, dass für ihn die territoriale Unversehrtheit der Ukraine bestehen müsse und dass auch die Krim nicht zu Russland gehöre. Die türkische Führung handelte federführend einen Getreidedeal zwischen Russland und der Ukraine aus und war im Jahr 2022 Initiator eines Friedensgipfels in Istanbul.
Auch wenn es bis heute keinen Frieden in der Ukraine gibt und Wladimir Putin den Getreidedeal auslaufen ließ, waren das respektable diplomatische Erfolge.
Andererseits näherte sich Erdoğan eben auch Russland, dem Iran und China weiter an. Er strebt mit der Türkei in die Gemeinschaft der Brics-Staaten und in die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit. Weiterhin rufen die türkischen Positionen im Nahostkonflikt in Verbindung mit Erdoğans aggressiver Rhetorik großen Missmut im Westen hervor.
Uneinigkeit im Nahostkonflikt
Besonders deutlich wurde das beim Besuch von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) am Samstag in Istanbul. Der türkische Staatschef sagte: "Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um den nötigen Druck auf Israel auszuüben." Der "aggressiven Politik Israels" müsse "ein Ende" gesetzt werden. Erdoğan sprach außerdem von einem "von Israel in den palästinensischen Gebieten verübten Völkermord". Der Bundeskanzler wies den Vorwurf zurück. "Deutschland hat nicht die Einschätzung, (...) dass der Vorwurf des Völkermords berechtigt und gerechtfertigt ist", erklärte er.
Diese verbalen Auseinandersetzungen sind nicht neu. Erdoğan ist seit Beginn des Krieges im Gazastreifen einer der schärfsten Kritiker Israels. Die radikalislamische Hamas, die mit ihrem Großangriff auf Israel im Oktober 2023 den Krieg ausgelöst hatte, betrachtet er als "Widerstandsgruppe". Den israelischen Regierungschef Benjamin Netanjahu verglich er mit Adolf Hitler.
Scholz und die Bundesregierung brachten zwar immer wieder auf Pressekonferenzen oder bei Treffen mit türkischen Ministern ihre Sicht auf den Nahostkonflikt deutlich zum Ausdruck, aber betont sachlich. Deutschland schluckt den Ärger über Erdoğans Haltung zum Nahostkonflikt herunter.
Und das hat einen Grund. Die Bundesregierung braucht aktuell die Türkei in ganz unterschiedlichen Politikbereichen. Außerdem möchten deutsche Politiker dem türkischen Präsidenten nicht mehr auf den Leim gehen und Erdoğan mit verbalen Auseinandersetzungen Aufmerksamkeit verschaffen.
Zahlreiche Gründe für engere Zusammenarbeit
Aber ist das die Basis für eine nachhaltig gute Zusammenarbeit? Zumindest hat Erdoğan seine Politik in den vergangenen Jahren kaum angepasst. Er hat demokratische Strukturen in der Türkei geschwächt, die Gewaltenteilung beseitigt. Viele Medien stehen unter staatlicher Kontrolle und er lässt noch immer Kurden in Nordsyrien bombardieren.
Trotzdem steht der türkische Präsident nun wieder vor der Tür der EU und auch Deutschland möchte enger mit Ankara zusammenarbeiten – aus unterschiedlichen Gründen. Die deutsche Wirtschaft schwächelt. Sollte man 40 Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter und andere Rüstungsgüter an die Türkei verkaufen, wäre das auch für die Bundesrepublik ein lukratives Geschäft.
Für das Entgegenkommen bei den von der Türkei dringend gewünschten Rüstungsexporten scheint Erdoğan vor allem in der Migrationspolitik kompromissbereit zu sein. Die Bundesregierung will nicht nur nach Afghanistan, sondern auch nach Syrien wieder Straftäter abschieben. Dafür sucht sie Kooperationspartner und möchte selbst viele der syrischen Geflüchteten in das Nachbarland zurückschicken.
Kanzler Scholz reagiert hier zunehmend auf den innenpolitischen Druck in Deutschland. Er hat versprochen, Migranten ohne Bleiberecht "in großem Stil" abschieben zu wollen. Die Türkei zählt neben Syrien und Afghanistan zu den Ländern, bei denen es um die größten Zahlen geht. Ende September waren laut Bundesregierung 15.789 türkische Staatsangehörige ausreisepflichtig. Innenministerin Nancy Faeser (SPD) hatte vor Kurzem erklärt, dass die Türkei sich zur schnelleren Rücknahme türkischer Staatsbürger bereit erklärt habe. Dafür wird Erdoğan wahrscheinlich Visaerleichterungen für türkische Staatsbürger in Deutschland verlangen.
In den deutsch-türkischen Beziehungen gibt es also aktuell ein Momentum, welches aus innenpolitischen Gründen eine engere Zusammenarbeit wahrscheinlich macht. Denn der Westen möchte Erdoğan nicht Putin in die Arme treiben. Länder wie Deutschland machen der Türkei deshalb Angebote, beleben sogar wieder die bilateralen Regierungskonsultationen.
Ob Nahostkonflikt oder Erdoğans Demokratieverständnis – diese Konflikte werden zunächst ausgeklammert. Doch diese Strategie ist vor allem für Deutschland nicht ohne Risiko: Denn sollten Panzer deutscher Bauart erneut – wie in Syrien – durch ein Nachbarland der Türkei rollen, wird eben diese Annäherung wieder auf den Prüfstand gestellt werden. Es bleibt ein Spiel mit dem Feuer.
- spiegel.de: Streit über Gazakrieg, Einvernehmen bei Waffenexporten
- tagesspiegel.de: Drei Hürden für eine Wiederannäherung mit der Türkei
- zdf.de: Scholz und Erdogan wollen mehr Zusammenarbeit
- faz.net: Kehrtwende in der deutschen Türkeipolitik
- rnd.de: Warum die deutsch-türkischen Beziehungen besser sind als ihr Ruf
- Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
- Eigene Recherche