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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kritik an Putins Armee Noch lässt der Kreml sie gewähren
In Russland ist Protest nahezu unmöglich. Doch eine Gruppe lässt der Kreml gewähren – noch: die Soldatenmütter und Soldatenfrauen.
Es war wieder die große Putin-Show: Der Kremlchef hat sich am Donnerstag in einer Pressekonferenz samt Bürgerfragen an die Öffentlichkeit gewandt. Während viele Menschen in Russland angesichts des Spektakels die Augen verdrehen, weil sie sich davon kaum ehrliche Antworten des Präsidenten erwarten, schauen Angehörige von russischen Soldaten wohl sehr genau zu, wenn sich Putin öffentlich äußert.
Denn in Russland sind Soldatenmütter und Soldatenfrauen traditionell sehr aktiv – und gut vernetzt; sie machen auf Missstände in der Armee aufmerksam und sind eine wiederkehrend laute Stimme in der Gesellschaft.
Spätestens seit dem Ersten Tschetschenienkrieg in den 1990er-Jahren haben sie sich einen Namen gemacht. Und seit Wochen organisieren sie wieder verstärkt Aktionen, um auf Missstände innerhalb der russischen Armee aufmerksam zu machen.
Das ist im heutigen Russland eine Seltenheit, der Staat unterdrückt massiv jegliche Form von Protest, Kritikerinnen und Kritiker wandern auch bei kleinsten Aktionen, wie etwa dem heimlichen Austauschen von Preisschildern im Supermarkt durch Botschaften gegen den Krieg in der Ukraine, ins Gefängnis.
Probleme bei Kostenübernahme von Verwundeten
Auf russischen Straßen formieren können sich die Mütter und Ehefrauen allerdings auch nicht. Die Polizei rückt dann innerhalb von Minuten an und führt ohne zu zögern alle ab. Eine Aktion in Moskau Anfang November haben die Frauen daher nach fünf Minuten abgebrochen. Sie vernetzen sich deshalb online und äußern ihre Wut und Forderungen vor allem auf Telegram oder beim russischen Pendant zu Facebook, genannt VKontakte.
- Lesen Sie auch: Putin: Frieden erst mit "entmilitarisierter" Ukraine möglich
Dort fordern sie unter anderem mehr Fronturlaub für ihre Angehörigen. Der sei üblicherweise viel zu kurz, um sich wirklich von den Erlebnissen zu erholen, kritisieren sie etwa. Sie wollen auch erreichen, dass mehr Freiwillige an die Front geschickt werden – und Zwangsrekruten zurückkehren dürfen. Ein für das Verteidigungsministerium heikles Thema: Das Ministerium behauptet immer wieder, über unzählige Freiwillige zu verfügen, doch dass das wirklich stimmt, bezweifeln Expertinnen und Experten.
Der Kreml lässt sie noch gewähren
Für ihren Onlineprotest drehen die Frauen auch Videoclips, erstellen Umfragen unter Angehörigen und machen so Missstände innerhalb der Armee publik. Etwa über Schmiergeldzahlungen, die Soldaten zahlen, um nicht in bestimmte Kampfzonen versetzt zu werden. Auch kritisieren die Frauen, dass es viele Probleme damit gibt, wer die Behandlungskosten für Verwundete in russischen Krankenhäusern übernimmt.
Dass der Kreml sie noch gewähren lässt, erklärt sich damit, dass die Frauen in der Regel keine grundsätzliche Kritik am Krieg in der Ukraine, in Russland "Spezialoperation" genannt, üben. Auch macht der Kreml den Frauen mitunter Zugeständnisse. So soll das Verteidigungsministerium in der Vergangenheit auf Druck der Frauen Anweisungen an Generäle ausgesprochen haben, an der Front Forderungen der Frauen zu berücksichtigen.
In der Presseshow an diesem Donnerstag sollten auch die Soldatenmütter und Soldatenfrauen zu Wort kommen. So könnte die Forderung nach dem Einwechseln von Freiwilligen zum Thema werden, vermutet der Politologe Abbas Galjamow laut Deutschlandfunk. Wie Putins Pressetermin verlaufen ist, lesen Sie hier.
- meduza.io: "‘We bought our lives’ Russian soldiers are reportedly bribing their superiors to avoid combat" (englisch)
- Telegram: "Путь Домой!", "ВЕРНЁМ РЕБЯТ" (russisch)
- youtube.com: "СПЕЦЭФИР. ПРЯМАЯ ЛИНИЯ С ПУТИНЫМ | Липсиц, Галлямов, Фейгин, Надеждин" (russisch)