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Putins Strafkolonien in Russland: So leiden Inhaftierte wie Alexej Nawalny hier


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Schläge mit Gürtel, Betäubung mit Gas
Putins Strafkolonien: "Die Zustände sind menschenunwürdig"


Aktualisiert am 04.08.2023Lesedauer: 6 Min.
Russisches Straflager (Symbolbild): Angeklagte sollen wählen können: Krieg oder Gefängnis?Vergrößern des Bildes
Russisches Straflager (Archivbild): Oft sind die Zustände in den Kolonien menschenverachtend. (Quelle: IMAGO/Yevgeny Yepanchintsev/ITAR-TASS)

In Russland greift Diktator Putin immer härter durch: Oppositionelle, Journalisten und Politiker verschwinden im Gefängnis. Wie funktioniert das Haftsystem in Russland? Und wie sind die Haftbedingungen für Nawalny und Co.? Ein Überblick.

Immer mehr russische Oppositionelle verschwinden derzeit in Russland im Gefängnis. Putin-Herausforderer Alexej Nawalny sitzt schon in Haft, seine Strafe wurde am heutigen Freitag auf 19 Jahre verlängert, der frühere Journalist Wladimir Kara-Mursa ist vor Kurzem eingesperrt worden (25 Jahre), ebenso der Politiker Ilja Jaschin (8,5 Jahre).

Den US-Journalisten Evan Gershkovich ereilte es im April, er harrt in russischer Untersuchungshaft aus. Ihm drohen bis zu 20 Jahre Gefängnis. Der ehemalige US-Marinesoldat Paul Whelan sitzt bereits seit 2018 ein. Seine Strafe: 16 Jahre Haft.

Diese Urteile gelten als politisch motiviert und nicht mit den Grundsätzen eines Rechtsstaats und den Menschenrechten vereinbar. In Russland sind solche Fälle mittlerweile Normalität und mit dem russischen Krieg in der Ukraine greift Diktator Wladimir Putin noch härter durch. Wie aber sieht das Haftsystem in Russland aus? Was gibt es für Gefängnisse und wo sitzen Nawalny und Co. ein? Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Haftstrafen sollen der Resozialisierung dienen. Auch in Russland?

Zwar gibt es in russischen Gefängnissen die Möglichkeit zu arbeiten oder während der Haft Ausbildungen zu machen. Alexej Nawalny etwa gibt an, in der Haft Schneider geworden zu sein. Doch der Politikanalyst mit Schwerpunkt Osteuropa, Alexander Dubowy, sagt: "Die Insassen werden vor allem als Arbeitsressource ausgebeutet, in den Fabriken und Agrarbetrieben der staatlichen Strafvollzugsbehörde."

Es gehe nicht darum, die Menschen für die Zeit im Gefängnis oder für die Zeit danach zu sozialisieren, es gehe um Strafe und Bestrafung. Offiziell stehe die Resozialisierung im Mittelpunkt, doch der Realität entspreche das nicht, sagt Forscher Dubowy. "Die Zustände sind menschenunwürdig."

Um echte Resozialisierung zu ermöglichen, brauche es staatlich finanzierte Programme, sagt Dubowy, die gebe es aber nicht. NGOs, die versuchen einzuspringen, schikaniert der Staat systematisch, stigmatisiert sie als "ausländische Agenten“, entzieht ihnen durch Strafen die finanzielle Grundlage. Hinzu kommt laut Dubowy: "In den vergangenen zehn Jahren wurden die Gelder für das Strafvollzugssystem gekürzt. Das System soll einfach nur funktionieren und möglichst nicht zusammenbrechen."

Was sind das für Gefängnisse?

Schätzungsweise 480.000 Menschen sitzen in russischen Haftanstalten ein, das zeigen die letzten verfügbaren Zahlen von 2021. Diese sind meist Arbeitslager und unterscheiden sich nach der Strenge des dortigen Regimes. "Strenges Regime" etwa bedeutet: stark eingeschränktes Recht auf Besuche und Pakete, kaum Kontakt zur Außenwelt. Insassen arbeiten den Großteil der Zeit.

Eine Besonderheit an russischen Haftanstalten: Zellen gibt es nur in Ausnahmefällen. Die Insassen sind ansonsten in Baracken mit Stockbetten untergebracht. Darin können sie sich frei bewegen. Nicht das Gericht entscheidet über die Ausgestaltung der jeweiligen Haftbedingungen, sondern die Leitung des jeweiligen Gefängnisses. Das ermöglicht viel Korruption. Es gibt je nach Einrichtung eine Art Selbstverwaltung, die die Anstaltsleitung überwacht. Insassen, die diese Funktion übernehmen, haben gewisse Privilegien, dürfen zum Beispiel mehr Geld besitzen.

Für die Verpflegung und Ausstattung der Häftlinge gibt der russische Staat vergleichsweise wenig Geld aus. In Westeuropa lägen die Ausgaben pro Insasse im Schnitt bei etwa 70 Euro, sagt Dubowy. In Russland umgerechnet bei zwei, drei Euro.

Es gibt sogenannte Ansiedlungskolonien (106 im ganzen Land), die einem offenen Vollzug ähneln und die Gefangene tagsüber verlassen dürfen. Rund 30.000 Menschen saßen darin zuletzt ein.

Strafkolonien des allgemeinen und des strengen Regimes sind die häufigsten Straflager, die allgemeinen vor allem für Ersttäter. Insgesamt gibt es von diesen beiden Einrichtungen 670 in Russland, für etwa 80 Prozent der Inhaftierten Russlands (372.000 Gefangene im Jahr 2021). Im strengen Regime dürfen Gefangene deutlich weniger Besuch und Pakete oder Briefe empfangen und weniger Geld geschickt bekommen oder ausgeben.

Spezialkolonien und Tjurmy (Gefängnisse) sind die strengsten Haftanstalten in Russland mit insgesamt 1.300 Insassen, etwa nach Flugzeugentführungen, Terroranschlägen oder Geiselnahmen. Es gibt außerdem 209 Untersuchungsgefängnisse.

Wo sitzen Nawalny, Kara-Mursa, Jaschin und Gershkovich ein?

Die vier Männer sitzen in unterschiedlichen Gefängnissen, bis auf Nawalny derzeit alle in Moskau. Der US-Journalist Evan Gershkovich befindet sich in Untersuchungshaft im berüchtigten Moskauer Lefortowo-Gefängnis. Das vierstöckige Gebäude aus dem 19. Jahrhundert ist seit Sowjetzeiten ein berüchtigtes Symbol der Unterdrückung. Dort war unter anderem der Schriftsteller Alexander Solschenizyn inhaftiert. Die Einrichtung ist nahezu komplett aus Metall, sodass es ununterbrochen scheppert und klirrt, wie eine Anwältin, die dort regelmäßig ist, Journalisten sagte.

Früher übliche körperliche Misshandlungen scheinen der Vergangenheit anzugehören. Gershkovich hält sich nach Angaben einer Freundin in einer kleinen Zelle auf, die er einmal am Tag für eine Stunde verlassen darf, etwa um Sport zu treiben. Er hält per Brief Kontakt zu seinen Angehörigen.

Wladimir Kara-Mursa sitzt derzeit in einem Untersuchungsgefängnis in Moskau. Sein Urteil lautete auf Strafkolonie mit "strengem Regime" (siehe oben), Ende Juli wurde sein Berufungsantrag abgelehnt. NGOs zufolge kommt das Urteil einer Todesstrafe gleich. Denn Kara-Mursa ist nach zwei Giftanschlägen auf ihn schwer krank, erhält die notwendige medizinische Versorgung jedoch nicht. Er hat in der Haft bereits mehr als 20 Kilogramm Gewicht verloren.

Ähnlichen Haftbedingungen ist der Moskauer Oppositionelle Ilja Jaschin ausgesetzt, ebenfalls in einem Moskauer Untersuchungsgefängnis, bevor er in ein rund 1.200 Kilometer von Moskau entferntes Straflager verlegt werden soll. Im Frühjahr schrieb er in einem Brief, dass die anderen Gefangenen ihm gegenüber "größtenteils loyal" seien, in russischen Gefängnissen fände man selten Kremlanhänger. Erst kürzlich äußerte er sich in einer Botschaft, die seine Anwälte über seinen Twitteraccount verbreiteten, wieder kritisch über den Krieg in der Ukraine und rief seine Unterstützer dazu auf, nicht aufzugeben: "Glaubt dran, die Zukunft gehört uns."

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Alexej Nawalny wurde in das Gefängnis IK-6 Melechowo gebracht, knapp 270 Kilometer östlich von Moskau entfernt. Er sitzt dort ebenfalls unter "strengem Regime" ein. Berichten zufolge kommt es dort immer wieder zu Folter und Misshandlungen. Vor Nawalnys Verlegung im Sommer 2022 dorthin sprach seine Sprecherin Kira Jarmysch von einem der "fürchterlichsten Gefängnisse Russlands".

Auf Instagram berichtet Nawalnys Team, dass er wegen angeblicher Vergehen 15 Tage in Einzelisolation gesteckt wurde, einer besonders strengen Form der Haft in einer Minizelle. Zudem werde ihm medizinische Hilfe verwehrt. Er berichtete auch darüber, dass er nachts stündlich geweckt werde, weil er als fluchtgefährdet gelte. Für das Verfassen von Briefen bekam er wöchentlich maximal 15 Minuten Zeit, Besuch oder Briefe empfangen durfte er nicht.

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Was ist von Schikanen und Folter bekannt?

Die russischen Hilfsorganisationen "Russland hinter Gittern" und "Gulag.net" kritisieren regelmäßig schwere Menschenrechtsverletzungen in Gefängnissen. Die Schikanen sind vielfältig:

  • Insassen sollen ihre Haftstrafe laut Gesetz in der Nähe ihrer Wohnorte verbüßen. Auch, um so das Besuchsrecht zu gewährleisten. Oft werden sie allerdings über mehrere Hundert oder Tausende Kilometer entfernt untergebracht. Prominentes Beispiel: Michail Chodorkowski stammt aus Moskau, wurde aber im Fernen Osten eingesperrt.
  • Gefangenentransporte an die Haftorte sind häufig extrem lang, die Verurteilten und Angehörigen erfahren nicht, wohin sie gebracht werden. Die Häftlinge werden in Waggons transportiert, die für die Menge an Häftlingen deutlich zu klein sind. Die zwei Jahre lang inhaftierte Pussy-Riot-Musikerin Nadja Tolokonnikowa beschrieb ihren tagelangen Transport mit den Worten: "Im Waggon für Häftlinge gibt es keine Matratzen, keine Kopfkissen, keine Decken. Nackte Pritschen und Gitter. (...) Im Zug (...) wird man nur zweimal täglich zur Toilette gebracht. Nimm für die Fahrt leere Mayonnaise-Eimer, Flaschen und Müllbeutel mit. Für den Fall, dass du öfter als zweimal musst."
  • Häufig werden Fälle von Folter bekannt. NGOs zufolge lassen Gefängnisleitungen häufig Gefangene ihre Mitinsassen foltern. So, sagt Olga Romanowa von "Russland hinter Gittern", fielen solche Fälle unter "Körperverletzung", Folter könne vertuscht werden. Ex-Häftlinge sagten unabhängigen russischen Medien, dass sie selbst beteiligt waren, etwa an Schlägen mit Gürtelschnallen in den Unterleib, Betäubung durch extrem laute Musik sowie Gas, an Vergewaltigungen mit einem Schlagstock oder Misshandlungen mit Elektroschockern.

Wie wahrscheinlich ist es, dass Nawalny und Co. freikommen?

"Putin braucht Nawalny, um an ihm ein Exempel zu statuieren", sagt Politologe Dubowy. Die Chancen, dass Nawalny entlassen werde, seien daher verschwindend gering. Putin wolle Regimegegnern klarmachen, dass sie keine Zukunft im Land hätten, entweder ins Gefängnis kämen oder ins Ausland gehen müssten. Ungeachtet dessen gibt es immer wieder internationale Aufrufe, die politischen Gefangenen freizulassen.

Da Wladimir Kara-Mursa neben dem russischen einen britischen Pass hat, wurde spekuliert, ob er für einen Gefangenenaustausch infrage komme. Seine drei Kinder und seine Frau leben seit Jahren in den USA. Diese Frage kam auch unmittelbar nach Evan Gershkovichs Verhaftung auf. Expertinnen und Experten zufolge soll er explizit als "Putins Faustpfand" in U-Haft gewandert sein – ähnlich wie US-Basketballspielerin Brittney Griner, die letztlich im Austausch mit einem russischen Waffenhändler freikam. Mehr dazu lesen Sie hier.

Bei ihr war die Frage aufgekommen, warum der schon länger in Russland inhaftierte US-Amerikaner Paul Whelan nicht ausgetauscht wurde. Er war bereits 2018 wegen angeblicher Spionage verurteilt worden. Ein Grund könnte seine fehlende Bekanntheit sein. Whelan sitzt bis heute in russischer Haft – ebenfalls im strengen Regime.

Verwendete Quellen
  • zona.media: "'Будем делать лабутены'. Бывший заключенный владимирской колонии рассказывает, как его заставили пытать людей" (russisch)
  • stern.de: "Vergewaltigungen mit Schaufeln und Folter am Fließband: Nawalny in gefürchtetes Gefängnis verlegt"
  • laender-analysen.de "Das russische Strafvollzugssystem" (Nr. 401, 19.04.2021)
  • Telefonisches Gespräch mit Alexander Dubowy am 27. April 2023
  • Nadja Tolokonnikowa: "Anleitung für eine Revolution" (Hanser, 2016)
  • Twitter-Profile: @polinaivanovva (englisch), @IlyaYashin (russisch), @vkaramurza (russisch/englisch), @SvobodaRadio (russisch), @freepaulwhelan (englisch)
  • Instagram: navalny (Алексей Навальный) (russisch)
  • bild.de: "Geheime Nachricht aus Putins Straflager" (kostenpflichtig)
  • Material der Nachrichtenagentur AFP
  • bringourfamilieshome.org: "Paul Whelan" (englisch)
  • f-atlas.ru: "СИЗО-4 Медведь", "ИК-6 Мелехово", "СИЗО-2 Лефортово ФСИН России", "СИЗО-5 Водник" (russisch)
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