Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Sjewjerodonezk vor dem Fall Russland entfacht eine militärische "Feuerwalze"
Die Lage im Donbass spitzt sich zu. Den ukrainischen Truppen in der Stadt Sjewjerodonezk droht die Einkesselung. Unterdessen werden die russischen Angriffe aggressiver – und die eingesetzten Waffen immer perfider.
Im Donbass steht eine weitere ukrainische Bastion kurz vor dem Fall. Seit Wochen ist die Großstadt Sjewjerodonezk schwer umkämpft, nun teilte der Militärgouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, mit, dass die Stadt wahrscheinlich bald von russischen Truppen eingekesselt sein werde. Damit droht ihr das gleiche Schicksal wie zuvor schon der strategisch wichtigen Industriemetropole Mariupol am Schwarzen Meer.
Noch liefern sich die verbliebenen ukrainischen Verteidiger zwar erbitterte Gefechte mit russischen Angreifern, doch sehen sie sich seit Wochen einem kaum vorstellbaren Dauerbombardement ausgesetzt. Täglich sollen bis zu 100 ukrainische Soldaten sterben, wie ein Berater von Präsident Wolodymyr Selenskyj kürzlich mitteilte, später war sogar von bis zu 200 toten Kämpfern die Rede. Auf russischer Seite dürften es sogar noch mehr sein.
In und um Sjewjerodonezk und der Schwesterstadt Lyssytschansk tobt ein Abnutzungskrieg, geführt mit schweren Waffen, hauptsächlich Artillerie. Waffensystemen, von denen die Ukraine offenbar viel zu wenige hat. Mit jedem Tag, den der Krieg andauert, zeigt sich die militärische Unterlegenheit deutlicher.
Während Russland erst kürzlich noch 40 Bataillonskampfgruppen mit einer Mannstärke von 600 bis 800 Soldaten in die Region verlegt haben soll, schwinden auf ukrainischer Seite Kampfkraft und Moral. Es mehren sich die Berichte über Desertionen. Die seit Monaten in schwerste Gefechte verwickelten Soldaten sind offenbar am Ende ihrer Kräfte und zum Teil verzweifelt. Das Problem: Sie haben nicht die nötige militärische Ausrüstung, um den immensen Artillerieangriffen der Russen etwas entgegenzusetzen. Experten sprechen von einer regelrechten "Feuerwalze", mit der Putins Armee die Region überzieht.
Zaudern des Westens rächt sich jetzt
Im jüngsten Lagebericht der US-Denkfabrik ISW beträgt die Artillerie-Überlegenheit inzwischen 10-15:1 zugunsten Russlands. Manche Berichte sprechen gar von einer 40:1-Unterlegenheit der Ukrainer. Zudem geht den ukrainischen Streitkräften allmählich die Munition aus. Selbst die Altbestände aus Sowjetzeiten neigen sich laut Geheimdienstberichten dem Ende zu. Nachschub ist kurzfristig nicht in Sicht. Wohl auch deshalb nimmt Gouverneur Hajdaj kein Blatt vor den Mund: Die Lage in Sjewjerodonezk sei für die ukrainischen Verteidiger dramatisch.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Das hat auch mit dem monatelangen Zaudern des Westens zu tun. Erst spät konnten sich die westlichen Verbündeten zu substanziellen Waffenlieferungen durchringen. Nun läuft die Zeit davon. Der österreichische Militärexperte und Historiker Markus Reisner spricht davon, dass den Ukrainern im Donbass derzeit vor allem Mehrfachraketenwerfer fehlen, insbesondere die beiden US-Systeme MLRS (Multiple Launch Rocket System) und HIMARS (High Mobility Artilery Rocket System) würden gebraucht.
Eigentlich hatten die USA bereits die Lieferung der beiden Systeme angekündigt, dann jedoch machte Präsident Joe Biden einen überraschenden Rückzieher. Offenbar gibt es auch innerhalb der Biden-Administration Bedenken, ob die Lieferung der Systeme, die über eine hohe Reichweite verfügen, den Konflikt mit Russland weiter eskalieren könnte. Präsident Putin schickte vorsorglich schon mal entsprechende Drohungen Richtung Washington und warnte davor, diese Systeme zu liefern.
Mit Anti-Schiffsraketen gegen Ziele an Land
Vielleicht weiß auch der Kremlherr um die mitunter prekäre Lage seiner Truppen. So verfügt Russland zwar an Menschen und Material für eine numerische Überlegenheit im Donbass, doch auch Moskau gehen langsam die Reserven aus. So sah sich die russische Armee bereits gezwungen, MLRS-Raketenwerfer und 152mm-Haubitzen aus der Region Irkutsk in Sibirien in den Donbass zu verlegen. Auch greift sie inzwischen häufiger auf altes und bereits ausgemustertes Material zurück, etwa den T-62-Panzer oder auch Anti-Schiffsraketen des Typs Raduga Ch-22.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Letztere haben eine besondere Brisanz, werden sie doch normalerweise im Seekrieg eingesetzt und dienen zur Zerstörung von Schiffen oder ganzen Flottenverbänden. Nun soll die russische Generalität die beinahe 60 Jahre alten Waffen aber gegen Landziele einsetzen lassen.
Das Raketensystem wurde seit den späten 1950er Jahren vom sowjetischen Konstruktionsbüro Raduga entwickelt und 1964 in Dienst gestellt. Es handelt sich um eine flugzeuggestützte Langstreckenlenkwaffe, die in mehreren Versionen hergestellt wurde; sie kann mit konventionellen sowie nuklearen Sprengköpfen bestückt werden. Die Geschosse vom Typ Ch-22 wurden eigentlich dafür entwickelt, Flugzeugträger mit einem Atomsprengkopf zu zerstören.
Selenskyj spricht von Schicksalsschlacht
Setzt man die Ch-22 bei einem Bodenangriff mit einem konventionellen Sprengkopf ein, ist sie nicht besonders zielgenau und kann erhebliche Kollateralschäden sowie zivile Opfer verursachen. Dass Russlands Streitkräfte diesen Waffentyp für die Bombardierung von Sjewjerodonezk verwenden, wertet der britische Geheimdienst als Zeichen dafür, dass Putins Armee die modernen Waffensysteme ausgehen. Auch der Militärexperte Gustav Gressel hatte unlängst im Interview mit t-online von einem drohenden Engpass von Präzisionslenkwaffen mit neuester Technologie gesprochen.
Dennoch verfügt Russland im Gegensatz zur Ukraine über ein Vielfaches der militärischen Ausrüstung. Das ukrainische Schicksal hängt daher immer mehr am Willen des Westens, das Land in seinem Kampf gegen die russische Aggression zu unterstützen. Die Nachricht, dass Bundeskanzler Olaf Scholz gemeinsam mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Ministerpräsident Mario Draghi in den kommenden Tagen nach Kiew reisen will, lässt dort ein wenig Hoffnung auf mehr Unterstützung keimen. Ohne die schnelle Lieferung schwerer Waffensysteme wird die Ukraine nach Meinung von Militärexperten jedenfalls nicht mehr lange in der Lage sein, dem russischen Druck im Donbass zu widerstehen. Und nicht nur dort.
Wir benötigen Ihre Einwilligung, um den von unserer Redaktion eingebundenen X-Inhalt anzuzeigen. Sie können diesen (und damit auch alle weiteren X-Inhalte auf t-online.de) mit einem Klick anzeigen lassen und auch wieder deaktivieren.
Als "Schicksalsschlacht" hat Präsident Selenskyj den Kampf um Sjewjerodonezk bezeichnet. Die Industriestadt liegt in einer Ausbuchtung, sie ist von zwei Flanken bereits von russischen Truppen umstellt, nun drohen auch die letzten Nachschubwege abgeschnitten zu werden. Von den einst 100.000 Einwohnern sind nur noch etwa 10.000 geblieben, sie verstecken sich unter anderem in Bunkern unter einer Chemiefabrik.
Vor wenigen Tagen erst reiste Selenskyj selbst an die Front, um sich ein Bild zu machen und den Soldaten dort Mut zuzusprechen. Viel mehr als Orden für Tapferkeit hat er gerade nicht zu verteilen.
Russland hingegen nutzt die schwierige Situation der ukrainischen Soldaten für eine Propagandaoffensive. Die russische Armee verschießt mit ihren Haubitzen Kartuschen, in denen sich gedruckte Aufrufe zur Kapitulation befinden sollen. Daneben werden laut ukrainischen Geheimdienstberichten die Mobiltelefone ukrainischer Soldaten mit SMS gehackt, auf Kanälen wie Telegram, Viber, Signal und WhatsApp werden sie zur Aufgabe aufgerufen. Ansonsten gehe es ihnen wie den Verteidigern im Asowstal-Werk. Es drohe ihnen ein "zweites Mariupol".
Unterdessen erneuerte der Kreml wohl seine Kriegsziele. Laut ukrainischen Geheimdienstberichten soll die russische Invasion in der Ukraine nun bis mindestens Oktober andauern. Selbst Putin dürfte inzwischen wissen, dass ein schneller Sieg in weite Ferne gerückt ist.
Eine Eroberung des Donbass, mit der anschließenden Einverleibung der von Russland sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk wäre für ihn ein wichtiger Etappensieg. Er würde ihm innenpolitisch Luft verschaffen und die Möglichkeit zur Anpassung der russischen Kriegsziele bieten. Es sind dieselben, wie zu Beginn des Krieges: weitere Teile des ukrainischen Territoriums einzunehmen und das Land ganz zu unterwerfen.
- The Guardian: Biden’s pledge to send rocket systems to Ukraine is no silver bullet (englisch)
- Österreichisches Heer: Kesselschlacht im Donbass
- SZ: Schicksalsschlacht um den Donbass
- RND: Lieferung des Leopard 2: Hat Scholz Spanien gestoppt?
- The Independent: Ukraine forces outgunned up to 40 to one by Russian forces, intelligence report reveals (englisch)
- ISW: Latest from ISW (englisch)
- Deutschlandfunk: Warum Sjewjerodonezk so umkämpft ist
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa