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Wahl in Australien: "Sie fressen die Liberalen bei lebendigem Leib"


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Zeitenwende in Australien
"Sie fressen die Liberalen bei lebendigem Leib"

Von Anna-Lena Janzen, Gold Coast

27.05.2022Lesedauer: 6 Min.
Die Neurobiologin Monique Ryan gewann ihren Wahlkreis und sandte ein eindeutiges Signal für einen Politikwandel in Australien.Vergrößern des Bildes
Die Neurobiologin Monique Ryan gewann ihren Wahlkreis und sandte ein eindeutiges Signal für einen Politikwandel in Australien. (Quelle: Diego Fedele/imago-images-bilder)
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Über viele Jahrzehnte herrschte in Australien eine politische Machokultur. Nun haben die Wähler das Establishment förmlich hinweggefegt. Die Ursachen dafür liegen in fundamentalen Veränderungen.

"A win is a win", heißt ein Sprichwort in Australien. Ein Sieg ist ein Sieg. Doch so einfach ist es diesmal nicht. Zwar konnte der neue Premierminister Anthony Albanese mit seiner Labor-Partei einen überzeugenden Wahlsieg einfahren (aufgrund des komplizierten australischen Wahlrechts waren auch fünf Tage nach der Wahl noch immer nicht alle Parlamentssitze vergeben). Dennoch steht Hoffnungsträger Albanese vor enormen Herausforderungen.

Der Urnengang war ein deutlicher Indikator für die tiefe Unzufriedenheit im Land. Und ein Vorgeschmack auf grundlegende Veränderungen im Wahlverhalten der Australier. Sie fügten den Liberalen des ehemaligen Premiers Scott Morrison eine herbe Niederlage zu, zugleich straften sie auch das traditionelle Zweiparteiensystem ab. Aber es geht ein noch viel weitreichenderes Signal von dieser Wahl aus: Das Machogebaren in der australischen Politik hat offenbar ausgedient.

Tagesordnung wird von der Elite diktiert

Ein Blick auf die Wahlgrafiken bestätigt: Mehr als ein Drittel der Wähler haben bei der Parlamentswahl am 21. Mai für kleinere Parteien oder parteilose Kandidaten, sogenannte "Unabhängige", gestimmt. Noch bei den letzten Wahlen im Jahr 2019 konnten die zwei großen Parteien – Labor und Liberal – insgesamt knapp 80 Prozent der Erststimmen einheimsen. Diesmal sind es voraussichtlich 33 Prozent. Eine historische Wende.

Seit 2019 ist viel passiert: Dürre, Feuerwalzen, geschlossene Grenzen, Fluten, Vergewaltigungsvorwürfe im Parlament. Doch bei der Regierung stießen die Sorgen des gemeinen Volkes, der Minderheiten im Land, auf taube Ohren. Die Tagesordnung wird seit eh und je von einer elitären Oberschicht mächtiger weißer Männer festgelegt – sei es im Parlament, in den Gerichten, der (Kohle-)Industrie, in Banken oder bei der allgegenwärtigen Murdoch-Presse.

Nach ihren Wünschen und Vorstellungen gestaltet sich die australische Gesellschaft – ob sie es will oder nicht. Doch jetzt könnte sich das ändern.

Frauen nur in aussichtslosen Positionen

Auch deshalb empfinden viele das Ergebnis dieser Wahl als wohltuend. Der Umbruch überrumpelt das politische Establishment, er kam jedoch nicht plötzlich. Denn nichts bedroht die Existenz der Menschen hier so sehr wie das ständige Extremwetter, die klaffende soziale Ungleichheit und die toxische Männlichkeit.

Letzteres ließ selbst im Wahlkampf noch Zähne knirschen: Beim zweiten TV-Duell etwa schrien sich die Spitzenkandidaten vor laufender Kamera an und ließen die junge Moderatorin kaum zu Wort kommen. Bei beiden großen Parteien wurden Frauen hauptsächlich in aussichtslosen Wahlsitzen als Kandidaten aufgestellt.

Die Regierung der vergangenen Jahre ließ an toxischer Kommunikation nichts zu wünschen übrig: Einschüchterung, Kontrolle, unterdrückte Emotionen. So hieß es immer wieder: Kohle? "Safe!" ... Klimakrise? "No worries!" Flüchtlinge auf eine Insel ausschiffen? "Humane!". Wer was dagegen sagte, bekam als Antwort eiskaltes Schulterzucken und: Jobverluste! Wirtschaftseinbruch! Chaos!

Doch daran glaubt in Australien mittlerweile auch abseits der großen Städte kaum einer, auch das kann man an dem Wahlergebnis ableiten. Denn viel mehr Chaos, als wenn das eigene Haus wegschwimmt oder in Flammen aufgeht, geht sowieso nicht. Das Resultat: Scott Morrison und seine liberal-nationalen Krawattenträger wurden abserviert.

Erstmals Alternativen zur Männerwirtschaft

War Morrison der unbeliebteste Premierminister aller Zeiten? Das ist in Australien derzeit eine viel diskutierte Frage. Um sie zu beantworten, muss man den Ex-Premier in eine Reihe mit seinen Vorgängern stellen, die ähnlich antiquierte Einstellungen pflegten: John Howard, Tony Abbot, Malcolm Turnbull. Am Ende kann sich Morrison wohl den Pokal für den größten Macho mit nach Hause nehmen. Ob gekündigte U-Boot-Deals, verwahrloste Menschenrechte oder schwere Klimakatastrophen – seine groben Versäumnisse, Schikanen und Angebereien haben dafür gesorgt, dass sich selbst langjährige liberale Wähler von der eigenen Partei abwandten.

Doch in politischer Verdrossenheit versinken? Nein, denn dieses Jahr war es anders als bei vergangenen Wahlen – es gab erstmals ernstzunehmende Alternativen.

Die Grünen etwa bejubelten ihr "bestes Ergebnis aller Zeiten" mit enormen Zugewinnen im Unterhaus und im Senat. Sollte Labor keine Regierungsmehrheit bekommen, könnten sie das Zünglein an der Waage werden und überproportional an Einfluss gewinnen.

Die kleine Partei gewinnt an Stärke und steht vor einer großen Chance und das nicht nur in den Städten, sondern auch in Teilen des Landes, wo sie vorher nicht vertreten war.

So etwa im konservativen Queensland, dort haben die Grünen gleich mehrere Siege eingefahren. Ein aktueller Bericht des australischen Klimarats zeigt, die neuen grünen Wahlsitze, so werden die Wahlkreise in Australien genannt, sind besonders stark von Klimarisiken betroffen.

"Sie fressen die Liberale Partei bei lebendigem Leib"

Doch noch spannender ist der Aufstieg einer Riege politischer Neulinge, die neben den Grünen die großen Gewinner der Wahl sind und den Umbruch erst möglich machen: die sogenannten "Blaugrünen Unabhängigen", die mit Unterstützung einer Organisation namens "Climate 200" ins Rennen gingen. 23 parteilose Kandidaten, 19 davon Frauen.

Sie repräsentieren eine liberale Wählerschaft in den Städten, die konservative Ansichten zur Finanzpolitik mit grünen Auffassungen zur Klimawende vereint – und viele von ihnen sind weiblich. Unter den Parteilosen sind Ärztinnen, Unternehmerinnen, Wissenschaftlerinnen, eine Journalistin. Sie repräsentieren diejenigen, vor denen die mächtigen Machos im Parlament sich am meisten gefürchtet haben: charismatische, intelligente und engagierte Frauen, die Familienleben und Karriere gleichzeitig bewältigen können.

"Sie fressen die Liberale Partei bei lebendigem Leib", kommentierte eine Labor-Sprecherin das Wahlergebnis. Bislang haben sie den Liberalen sechs Sitze weggeschnappt.

Die Neurologin Monique Ryan etwa riss den Wahlsieg in Kooyong, einem Stadtteil von Melbourne, an sich. Das war ein besonderer Schock: das erste Mal, dass die Liberalen diesen Sitz verloren haben. Noch dazu an eine Frau. Noch dazu gewann diese gegen den hochrangigen Politiker Josh Frydenberg, der nach Morrison schon als nächster Chef der Partei gehandelt wurde.

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Der politische Aufstieg dieser erfolgreichen Frauen wirft also ein neues Schlaglicht auf die Gleichstellung der Geschlechter in der australischen Politik – denn das Parlament hat den Ruf eines feuchtfröhlichen Männervereins. Und noch schlimmer: Erst vor einem Jahr erschütterte der Vergewaltigungsvorwurf einer Parlamentsmitarbeiterin das Land. Die Regierung wiegelte ab. Der Vorfall löste Massenproteste von Frauen in ganz Australien aus, Premierminister Morrison wollte nicht teilnehmen. Schon da konnte man eine Veränderung der Vorlieben bei weiblichen Wählern in Umfragen erkennen.

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"Wir müssen die Botschaft beherzigen, denn eine Regierungsbildung in der Zukunft ohne diese Art von Sitzen zu gewinnen, ist eine fast unmögliche Aufgabe", hieß es nach der Wahl von dem liberalen Simon Birmingham. Der prominente Politiker warnte seine Kollegen davor, nicht noch weiter nach rechts abzudriften.

Labor muss bei Klimapolitik noch Hausaufgaben machen

Und wie sieht es bei der anderen großen Partei im Land aus? Die war seit rund zehn Jahren nicht mehr an der Macht, unter anderem, weil sie keine progressiven Antworten im Gepäck hatte. Als Klimavorkämpfer etwa ist auch Anthony Albanese bis dato nicht aufgefallen. Und ob Labor die neue Regierung nun allein bilden kann, das steht auch noch aus.

Was die Vertretung von Frauen in den großen Parteien angeht, so hat die Labor-Partei 1994 immerhin eine Frauenquote eingeführt und liegt nun bei fast 50 Prozent. Im Gegensatz dazu hat die liberal-nationale Koalition einen Frauenanteil von 25 Prozent.

All das und noch mehr trägt der neue Premierminister auf den Schultern, als er für seine Siegesrede ans Podium tritt. Er weiß, dass die Position seiner Partei trotz des Sieges deutlich geschwächt ist. Dass er Verbündete braucht, um sich durchzusetzen. Dann wählt er die Worte, auf die das Land fast zehn Jahre lang gewartet hat. "Gemeinsam können wir die Klimakriege beenden, wir können eine Supermacht der erneuerbaren Energien werden." Ein großes Versprechen im Kohle-Macho-Land Australien.

Albanese symbolisiert einen anderen Politiker-Typ

Doch Albanese kauft man es ab, denn auch wenn er Morrison äußerlich ähnelt, gilt er als sanfter Politiker. Er arbeitete schon in der Regierung von Julia Gillard, der ersten und einzigen Premierministerin des Landes. Anders als seine Vorgänger stammt Albanese nicht aus privilegiertem Elternhaus. Er wuchs in ärmlichen Verhältnissen auf, lebte mit seiner alleinerziehenden Mutter in einer Sozialwohnung im Westen von Sydney.

Für den politischen Umbruch scheint er die richtige Personalie zu sein, er gratulierte den "Blaugrünen Unabhängigen", die Stimme der Frauen im Land sei wichtig. Albanese setzt sich seit Langem für eine fortschrittliche Geschlechterpolitik ein.

Wie weit die neue Regierung aber bei der Klimapolitik gehen wird, dürfte davon abhängen, wie stark die Grünen und die "Unabhängigen" im neuen Parlament vertreten sein werden. Schon jetzt haben die Grünen angekündigt, mit Labor verhandeln zu wollen. Sollten sie die Macht im Senat übernehmen, haben sie auch mehr Spielraum, um die Partei dazu zu drängen, ihre Emissionsziele zu erhöhen und aus den 114 Kohle- und Gasprojekten auszusteigen, die derzeit noch in Planung sind.

Und sollte es bei den Grünen und Labor doch noch haken: Die neuen starken Frauen im Land werden es schon richten.

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