Russland droht Stehen wir wirklich vor einem Weltkrieg?
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die russische Armee kommt in der Ukraine kaum voran und der Kreml macht vor allem den Westen dafür verantwortlich. Außenminister Sergej Lawrow sieht die Gefahr eines Weltkrieges. Was steckt dahinter?
Bislang hat er noch nichts gewonnen. Der russische Präsident Wladimir Putin kann in der Ukraine kaum militärische Erfolge vorweisen. Auch zu Beginn der zweiten russischen Offensive im Osten des Landes gibt es nur wenig Geländegewinne, die wichtige Hafenstadt Mariupol ist noch nicht gefallen. Bis zum 9. Mai – dem "Tag des Sieges" – wollte der Kremlchef Ergebnisse sehen, aber das wird durch den erbitterten Widerstand der Ukraine immer unwahrscheinlicher.
Die bisherigen Misserfolge bringen Moskau in Erklärungsnot. Das Selbstbild der militärischen Großmacht bröckelt langsam und der Kreml sucht sich deshalb kommunikativ einen Kriegsgegner, der sehr viel größer ist als die in Putins Augen kleine Ukraine: den Westen. Deshalb bringt der russische Außenminister Sergej Lawrow den "Dritten Weltkrieg" ins Gespräch.
Lawrow verwendete das Tabuwort "Krieg" gleich dreimal in einem Satz: "Wenn die Nato über einen Stellvertreter de facto in einen Krieg mit Russland tritt und diesen Stellvertreter bewaffnet, dann tut man im Krieg, was man im Krieg tun muss", erklärte der Außenminister in einem Interview im russischen Fernsehen am Montag. Die Gefahr eines Dritten Weltkrieges sei "ernst, sie ist real, sie darf nicht unterschätzt werden."
Gleichzeitig erklärte Lawrow, er wolle nicht, dass in einer derartigen Situation die Risiken noch weiter künstlich aufgebläht würden. Diese Aussage ist mindestens makaber, weil er selbst einen "Weltkrieg" ins Gespräch bringt und weil Russland momentan einen Angriffskrieg gegen die Ukraine führt. Dabei sollte man nie vergessen: Putin könnte seinen Krieg noch heute beenden und damit auch die Gefahr einer Auseinandersetzung zwischen dem Westen und Russland minimieren.
Es gibt allerdings keinerlei Anzeichen für einen drohenden atomaren Konflikt oder einen russischen Angriff auf Nato-Territorium. Die Gefahr ist zwar real, aber das Szenario ist auch unwahrscheinlich.
Die maximale Eskalationsrhetorik ist eher ein Zeichen der gegenwärtigen Schwäche Russlands. Lawrow verfolgt damit eine Doppelstrategie: Einerseits möchte er den Westen verunsichern, sodass Länder ihre Waffenlieferungen an die Ukraine überdenken oder zumindest vorsichtiger agieren. Andererseits ist es der Versuch, den Russinnen und Russen zu erklären, warum sich das Land nun in einem Krieg befindet und nicht mehr in einer "Spezialoperation".
Insgesamt lassen sich vier Gründe für Lawrows Äußerungen erkennen:
1. Für Russland ist der Krieg militärisch eine Katastrophe
Die russische Führung hat sich mit dem Krieg nicht nur komplett verkalkuliert, die Fehleinschätzungen scheinen sich auch im weiteren Kriegsverlauf fortzusetzen. Der schnelle Siegeszug in Richtung Kiew ist gescheitert und auch die Offensive im Osten der Ukraine läuft wahrscheinlich nicht so, wie der Kreml sich das vorgestellt hat.
Dabei scheint sich Russland verhoben zu haben, viele russische Kräfte sind schon jetzt in anderen Teilen Asiens, in Syrien oder in Nordafrika gebunden. Durch den Ukraine-Krieg muss Moskau seine eigene Landesverteidigung immer weiter entblößen, deren Fundament vor allem die atomare Abschreckung ist. Deshalb weist der Kreml in den vergangenen Wochen wohl immer wieder darauf hin, dass man Atomwaffen einsetzen würde, wenn die Existenz Russlands bedroht ist.
2. Der Widerstand der Ukraine
Putin hat nicht nur den Widerstand der Ukraine unterschätzt, die Moral des Gegners bringt den Kremlchef auch innenpolitisch in Erklärungsnot. Lange baute die russische Führung das Narrativ auf, dass ihre Armee mit einer "Spezialoperation" das "Brudervolk" von Nationalsozialisten befreien möchte. Doch die russische Armee wurde in der Ukraine nirgendwo freundlich empfangen – und damit brach auch die Kommunikationslinie zusammen.
Nun geht es auch um die Moral in den eigenen Reihen, denn viele Russinnen und Russen haben familiäre Verbindungen zur Ukraine. Der Kreml kann schlecht das ukrainische Volk als Feind verkaufen. Die russische Propaganda stellt die ukrainische Führung deshalb erneut als Marionetten des Westens dar.
3. Waffenlieferungen des Westens
Russlands Status als militärische Supermacht bröckelt. Deshalb macht Lawrow mit seinen Aussagen auch indirekt klar, dass die ukrainische Armee nur Widerstand leisten kann, weil sie vom Westen bewaffnet wird.
Im russischen Staatsfernsehen berichten regelmäßig regimetreue Kriegskorrespondenten von der Front, dass Russland in einem Krieg mit dem "kollektiven Westen" sei. "Wenn die russische Armee im Donbass einen Panzer vernichtet, kommen gleich zwei nach", beklagt sich der russische Kriegsreporter Alexander Koz auf Telegram. Es sei wie der Kampf gegen eine "Hydra".
Völkerrechtlich wird die Nato durch Waffenlieferungen nicht zu einer Kriegspartei. Trotzdem sind die Lieferungen für Russland schmerzhaft und zeigen Wirkung. Während im Westen über die Lieferungen von immer schwereren Waffen diskutiert wird, möchte Lawrow das offenbar mit seiner Drohung unterbinden oder zumindest erschweren.
4. Konflikt mit den USA
Der Kreml sieht sich zunehmend in einem Konflikt mit den USA. "Wir wollen Russland so sehr geschwächt sehen, dass es nicht mehr in der Lage sein wird, Dinge wie diese zu tun, die es mit der Invasion der Ukraine getan hat“, sagte der US-Verteidigungsminister Lloyd Austin auf einer Pressekonferenz an der ukrainisch-polnischen Grenze am Montag.
Derartige Äußerungen erzeugen Wut in Moskau. Lawrows Interview und seine Atomwaffen-Drohung sind auch als Reaktion zu verstehen. Angst hat die russische Führung eigentlich nur vor dem Eingreifen der USA und für das Szenario macht der russische Außenminister noch einmal deutlich, dass man im Notfall Atomwaffen einsetzen würde.
Zeichen von Schwäche
Letztlich fehlt der russischen Armee selbst in der Theorie schlichtweg die Kraft für einen Angriff auf die Nato – zumindest mit konventionellen Mitteln. Auch ein atomarer Angriff würde Gegenmaßnahmen der Nato zur Folge haben, ein Atomkrieg würde auch Russland vernichten. Das weiß auch Moskau.
Trotzdem steuert der Konflikt auf eine neue Eskalation zu. Die russische Führung steht unter Druck, fühlt sich mehr und mehr in die Ecke gedrängt. Der Westen liefert immer schwerere Waffen in die Ukraine – und wenn die russische Armee diesen Krieg noch gewinnen möchte, muss sie diese Lieferungen attackieren.
Der Westen und die Ukraine lassen sich umgekehrt von den russischen Drohungen nicht einschüchtern, Lawrows Drohungen werden eher als Eingeständnis der russischen Schwäche gesehen.
Trotzdem gehört zur Wahrheit dazu, dass der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine nun noch einmal deutlich blutiger werden könnte. Lawrow kündigte auch an, dass der Ukraine-Krieg mit einer Vereinbarung mit der Regierung in Kiew enden werde. Der Inhalt hänge von der militärischen Situation ab. Übersetzt: Die Stimme der Seite, die in der Ukraine militärisch im Vorteil ist, hat auch mehr Gewicht in den Verhandlungen.
Deshalb droht dem Land im Osten eine große Feldschlacht mit schweren Waffen. Zwar wird es wahrscheinlich keinen Dritten Weltkrieg geben, aber die Situation bleibt höchst gefährlich – vor allem für die Ukraine.
- Eigene Recherche
- Mit Material der Nachrichtenagenturen afp und rtr