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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krise in Großbritannien Es droht der Kollaps im Winter
Kein Benzin an den Tankstellen, leere Supermarktregale, die Corona-Infektionszahlen explodieren: Großbritannien wird zunehmend von Krisen in die Zange genommen. Die Angst vor dem Winter-Chaos wächst.
Der Schock sitzt in Großbritannien noch immer tief. Am vergangenen Freitag stach ein Mann in einer Bürgersprechstunde mehrfach auf den konservativen Politiker David Amess ein, der Politiker wurde brutal getötet. Das Tatmotiv war offenbar islamistischer Terror, Amess ist laut Polizei ein zufälliges Opfer des Täters gewesen. Ein Schock für das ganze Land und für seine Familie. Amess hinterlässt eine Frau und fünf Kinder.
Diese Bluttat wird Großbritannien verändern, seither tobt auf der Insel eine Debatte über die Sicherheit von Politikern. Immer wieder erhalten britische Abgeordnete Morddrohungen, in den vergangenen Jahren stieg die Zahl rasant an. Auch Amess wurde kurz vor dem Mord bedroht, neben seinem Bett hatte er einen Sicherheitsknopf installiert. Trotzdem hielt er an seinen Bürgersprechstunden fest, eine wichtige britische Tradition, um als Politiker mit den Menschen in Kontakt zu kommen.
Eben diese Bürgerkontakte werden für Politiker immer gefährlicher, Abgeordnete berichteten in den vergangenen Jahren von einer massiven Zunahme der Drohungen gegen sie: Die britische Gesellschaft ist noch immer gespalten, viele Menschen sind wütend. Die Folgen des EU-Austrittes wurden in den letzten Monaten immer katastrophaler. Zu dem wirtschaftlichen Übel steigen auch die Corona-Infektionen rasant an, die Sorge in der Bevölkerung vor erneuten Einschränkungen wächst.
Dabei versprach Premierminister Boris Johnson den Briten ein neues goldenes Zeitalter nach dem Brexit. Nun aber gibt es immer mehr Menschen in seinem Land, die sich von den Brexiteers betrogen fühlen. Im kommenden Winter droht der Kollaps, das gegenwärtige Chaos droht sich zu verschärfen. Und der Premier scheint zunehmend die Kontrolle zu verlieren.
Wirtschaftliche Verwundbarkeit nach dem Brexit
Die versprochene Brexit-Utopie ist für zahlreiche Briten mittlerweile zur Dystopie geworden. Wütende Autofahrer ringen um Kraftstoff, es fehlt an Nahrungsmitteln in den Supermärkten, besonders Fleisch wird knapp. Der Mangel an Lastwagenfahrern führt zur Lähmung ganzer Wertschöpfungsketten: Hühner und Schweine sitzen auf Farmen fest, weil es an Betäubungsmitteln und Personal für die Verarbeitung fehlt. Läden müssen schließen, weil sie keine Lieferungen mehr bekommen. Auch beispielsweise Nachtclubs haben Probleme, es fehlt ihnen an Türstehern.
Die wirtschaftlichen Probleme bestimmen längst den Alltag der britischen Bevölkerung. Die Preise für viele europäische Importe sind massiv gestiegen, die Heizkosten haben sich fast verdoppelt. Laut einer britischen Wohltätigkeitsorganisation könnte das eine Million Haushalte dazu zwingen, sich im Winter auf Decken zu verlassen. Das Jahr, in dem Bevölkerung und Unternehmen die Vorteile eines freien, globalen Großbritanniens kennenlernen sollten, ist für viele Menschen zum Albtraum geworden.
Konkret rechnet die US-Nachrichtengruppe "Bloomberg" zwar immer noch mit einem Wirtschaftswachstum von 1,3 Prozent im vierten Quartal 2021, aber dafür mit einer Inflation von 3 Prozent bis Mitte 2022.
Viele Probleme, wenige Maßnahmen
Boris Johnson versprach, dass sich die wirtschaftliche Situation bis Weihnachten entschärfen wird, doch das ist mit bisherigen politischen Maßnahmen der Regierung unwahrscheinlich.
Es gibt zahlreiche Probleme:
- Im Oktober werden über 10.000 Arbeitsvisa für ausländische Lastwagenfahrer und Arbeiter in der Fleischindustrie vergeben. Die Zahl der fehlenden Lastwagenfahrer wird aber auf über 100.000 geschätzt und die Visa sind nur bis Februar 2022 gültig. Ein kurzes Engagement ist für viele ausländische Arbeitskräfte wenig attraktiv.
- Die Forderung der britischen Regierung, Firmen sollten keine billigen Arbeitskräfte aus dem Ausland beschäftigen, klingt für viele Unternehmer kurzfristig wie blanker Hohn. "Zu sagen, dass wir eine gut bezahlte und gut ausgebildete Volkswirtschaft brauchen, ist gut", erklärt Nigel Upson, Geschäftsführer eines Geflügelbetriebs, dem Nachrichtenmagazin "Der Spiegel". "Aber welche Qualifikation braucht man, um Hühnchen in eine Box zu stopfen?"
coremedia:///cap/blob/content/91006018#imageData - Die britischen Versorgungslinien erweisen sich nach dem Brexit als kompliziert und teuer. Der Transport einer LKW-Ladung Kühlschränke aus Italien nach Großbritannien kostet beispielsweise fast 25 Prozent mehr als vor dem Brexit.
- Lieferungen in das Königreich werden ab dem 1. Januar 2022 neuen Zollkontrollen an der Grenzen zur Europäischen Union ausgesetzt. Ab Juli 2022 gelten für Lebensmittelprodukte verschärfte bürokratische Vorschriften und Kontrollen.
Eine fehlende Debatte über die Brexit-Folgen verärgert in Großbritannien immer mehr Menschen. "Was passiert, wenn ein Wendepunkt erreicht ist und die Tatsache, dass Menschen betrogen wurden, offensichtlich wird?", fragt der Journalist John Harris in einer Kolumne für die britische Zeitung "The Guardian".
Doch im Angesicht dieser Probleme agiert die britische Regierung nur vorsichtig. Premierminister Johnson hält an seinem Brexit-Narrativ fest, eine zu laute Kritik am britischen EU-Austritt gilt in seinem Kabinett als unerwünscht. Es ist nicht das erste Mal, dass Johnson ein Problem dieser Dimension zunächst nicht ernst genug zu nehmen scheint.
Vorsprung beim Impfen verspielt
Auch auf den Beginn der Corona-Pandemie reagierte der Premierminister zögerlich. Er wollte die wirtschaftliche Entwicklung des Landes nicht gefährden, in dem er einen Lockdown verhängt. Bislang forderte das Virus knapp 140.000 Todesopfer, zum Vergleich: in Deutschland sind es etwas mehr als 94.000.
Danach zündete Großbritannien den Impfturbo, schnell waren mehr als 60 Prozent der Bevölkerung geimpft und die Regierung feierte ihren "Freedom Day" am 19. Juli – das Ende aller Corona-Maßnahmen – und beispielsweise auch das Finale der Fußball-Europameisterschaft im Sommer.
Doch das Land verspielte seinen Vorsprung im Kampf gegen die Pandemie. Mittlerweile ist die Quote der vollständig Geimpften auf dem Niveau der Bundesrepublik (um die 66 Prozent), aber der frühere Impfstart auf der Insel macht eigentlich auch frühe Auffrischungen der Immunisierungen erforderlich. Dort liegt das Problem: Erst 41 Prozent derjenigen, die vor mehr als sechs Monaten ihre zweite Impfung erhielten, wurde bisher ein weiteres Mal geimpft.
Neue Corona-Variante im Land unter Beobachtung
Mittlerweile hat Großbritannien wieder eine Sieben-Tage-Inzidenz von über 450, viele Covid-19-Erkrankungen haben zwar milde Verläufe, aber durch die hohe Anzahl der Neuinfektionen steht das Gesundheitssystem erneut an der Belastungsgrenze. Zuletzt wurden bis zu knapp 50.000 tägliche Neuinfektionen registriert. Die Zahl der täglichen Krankenhauseinweisungen liegt bei fast 1.000. Bei den Todesfällen wurde am Dienstag mit 223 gemeldeten Fällen ein Stand wie zuletzt im März erreicht.
Der britische Gesundheitsminister Sajid Javid warnte in einer Pressekonferenz, dass die Zahl der täglichen Neuinfektionen sogar bis auf 100.000 steigen könnte. Mit Blick auf den Winter schlagen britische Krankenhäuser Alarm.
Hinzukommt, dass Forscher aktuell eine weitere Corona-Variante im Land beobachten. Man habe die Mutante namens AY4.2 sehr genau im Blick, hieß es in dieser Woche aus dem Regierungssitz Downing Street. Die Variante weist zwei Mutationen auf, die bereits von anderen Versionen des Coronavirus bekannt seien.
Forscher gehen jedoch bislang nicht davon aus, dass die Variante deutlich ansteckender sein könnte als die bisherige Delta-Variante – die Rede ist ersten Schätzungen zufolge von einer möglicherweise zehn Prozent höheren Übertragbarkeit. Dies könne höchstens eine kleine Anzahl an zusätzlichen Corona-Fällen ausgelöst haben, meinte der Biologe Francois Balloux vom University College London. "Das kann nicht der Grund für den aktuellen Anstieg der Fallzahlen in Großbritannien gewesen sein."
Johnsons "Plan B"
Doch unabhängig vom Auslöser der aktuellen Corona-Welle weigert sich die britische Regierung, Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Es sei "zum jetzigen Zeitpunkt" noch zu früh, um eine Rückkehr der im Juli abgeschafften Corona-Regeln im größten Landesteil England zu rechtfertigen, sagte Gesundheitsminister Javid.
Es gibt allerdings auch einen sogenannten "Plan B", wenn die Regierung sich doch zum Handeln gezwungen sieht: Dazu gehören Maßnahmen wie verpflichtendes Maskentragen oder Nachweispflicht von Impfungen bei Großveranstaltungen. Trotz Forderungen aus Medizin und Wissenschaft sei das entscheidende Kriterium eines unaushaltbaren Drucks auf den Nationalen Gesundheitsdienst NHS noch nicht erreicht, erklärte Javid. Stattdessen sollten nun die Bemühungen verstärkt werden, so viele Menschen wie möglich zu impfen. Besonders bei Jugendlichen und älteren Menschen, die eine Auffrischungsimpfung erhalten sollen, stockt das britische Impfprogramm derzeit.
Wie auch in der wirtschaftlichen Krise nach dem Brexit wird es in der Corona-Pandemie für Großbritannien zum Problem, dass die britische Regierung vehement eine politische Agenda verfolgt, von der sie nur langsam im absoluten Notfall abweicht. Die Johnson-Administration steht für möglichst wenig Corona-Regeln und für einen Brexit als britische Erfolgsgeschichte – zur Realität passt das allerdings nicht. Damit riskiert der Premierminister nicht nur eine Katastrophe im kommenden Winter, sondern auch große Wut, die durch die gegenwärtige Not im Land ohnehin weiter genährt wird. Eine explosive Mischung.
- Bloomberg: Why Brexit Britain Is Isolated
- The Guardian: Labour must take aim at Boris Johnson’s Brexit disaster
- Spiegel: Großbritannien rechnet mit bis zu 100.000 Neuinfektionen
- Handelsblatt: Täglich mehr als 40.000 Neu-Infizierte
- Frankfurter Rundschau: Delta Plus breitet sich aus
- Welt: In Großbritannien rächt sich jetzt der frühe Impferfolg
- Zeit Online: Notfalls kommt im Winter Plan B
- Spiegel: Britische Geflügelindustrie leidet unter Brexitfolgen
- Süddeutsche Zeitung: Der sechste Mord
- RND: Visa für ausländische Lkw-Fahrer werden verlängert
- Nachrichtenagenturen dpa, afp