US-Mediziner über Corona-Krise "Was Trump macht, ist gefährlich"
Der Gesprächspartner muss auf jede unserer Fragen antworten. Anschließend bekommt er seine Antworten vorgelegt und kann sie autorisieren.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Die USA rechnen mit Hunderttausenden Corona-Toten. Ein Arzt verrät im Interview, wo sich die Lage zuspitzen wird und warum seiner Ansicht nach Präsident Trump großen Schaden anrichtet.
Die USA sind das Epizentrum der Covid-19-Pandemie und die Prognosen verdüstern sich. Das Weiße Haus spricht nun von möglicherweise 100.000 bis 240.000 Toten im Land – sofern sich die Bewohner an die Einschränkungen halten.
Der US-Infektionsexperte Jon Willen schildert im Interview seine Sicht der Lage in den USA. Er erklärt, in welchen Regionen sie sich zuzuspitzen droht, spricht über Lehren aus der Vergangenheit sowie über den Schaden, den die Verlautbarungen Donald Trumps anrichteten.
t-online.de: Dr. Willen, die Lage in New York spitzt sich von Tag zu Tag zu. Ist die Metropole ein Ausreißer oder ist diese Zuspitzung nur ein Vorgeschmack darauf, was anderen amerikanischen Städten droht?
Jon Willen: Ich fürchte, New York ist kein Sonderfall. Wir haben eine ähnliche Entwicklung rund um New Orleans, auch wenn die absoluten Zahlen auf ganz anderem Niveau sind. Wir fürchten ähnliche Entwicklungen in Detroit, wo viele Krankenhäuser bereits an der Grenze ihrer Kapazitäten sind, in San Francisco, auch in Los Angeles.
Zur Person: Dr. Jon Willen, 72, arbeitete 40 Jahre lang als Arzt und Spezialist für Infektionskrankheiten in Los Angeles. Nun ist er im Ruhestand und unterrichtet in Washington Medizingeschichte im National Museum of American History und National Museum of Health and Medicine.
Sie haben in Los Angeles noch einmal ausgeholfen in Ihrer alten Praxis.
Ja. Mit meinen 72 Jahren habe ich die Praxis gehütet, während die Kollegen im Krankenhaus waren. Die beiden Krankenhäuser, mit denen meine Praxis zusammengearbeitet hat, liegen keine zehn Autominuten voneinander entfernt und sind ganz unterschiedlich betroffen. Wir erleben dort auch eine Verschiebung: 40 Prozent der Patienten sind jünger als 60 Jahre. Und wir sehen ganz unterschiedliche Symptome der Patienten, nicht jeder hat Fieber oder Atemwegssymptome. Kürzlich kam jemand ohne Husten oder Lungenprobleme zu uns und einen Tag später mussten wir ihn an ein Beatmungsgerät anschließen. Das macht es für die behandelnden Ärzte wirklich ganz schwierig.
Sie waren als Arzt mehr als vierzig Jahre auf Infektionskrankheiten spezialisiert, unterrichten Medizingeschichte. Welche Erkenntnisse aus der Vergangenheit helfen, die Coronavirus-Pandemie zu meistern?
Wir betreten alle zusammen Neuland. Die erste SARS-Krise 2003 zog an den USA praktisch vorüber und keiner von uns hat die letzte wahre Pandemie im Jahre 1918 miterlebt. Damals starben 675.000 Amerikaner. Die Todesrate der Spanischen Grippe war sogar geringer als jene von Covid-19.
Jetzt ist die Rede von 100.000 bis 240.000 Amerikanern, die sterben könnten.
Das sind Modellrechnungen von Epidemiologen. Ich bin mit solchen Zahlen vorsichtig. Denn die Rechnungen lassen mögliche Entwicklungen außer Acht. Was ist, wenn eine der experimentellen medizinischen Therapien, die gerade erforscht werden, anschlägt? Wir wissen auch noch nicht, welche Auswirkungen die ausgeweiteten Kontaktverbote wirklich haben. Da zeigt uns 1918 eine wichtige Lektion.
Nämlich?
Das berühmte Beispiel sind die Städte St. Louis und Philadelphia, beide damals unter den größten des Landes. St. Louis hat zwei Tage nach dem Auftreten der ersten Fälle schnell alle Großveranstaltungen abgesagt und genau das angeordnet, was wir heute Social Distancing nennen. In Philadelphia hielt man hingegen noch eine riesige Parade für Weltkriegssoldaten mit 200.000 Teilnehmern ab und reagierte erst dann. Am Ende hatte Philadelphia eine doppelt so hohe Todesrate wie St. Louis.
Wer ist das Philadelphia der Corona-Krise?
Das heutige Gegenstück zu dieser Weltkriegsparade war leider der Karneval in New Orleans, der Ende Februar stattfand. Die ersten nachgewiesenen Fälle von Covid-19 gab es 13 Tage nach Mardi Gras. Dann wurde mehr getestet. Das hat nicht dieselbe Größe wie damals 1918 – doch es geht um das Prinzip: Wer in dieser Lage Massenveranstaltungen nicht absagt, erntet solch einen Ausbruch.
Trotz der besseren Informationslage treffen wir im Jahr 2020 auch keine besseren Entscheidungen als im Jahr 1918?
Im Nachhinein war das keine gute Entscheidung, das ist richtig. Ich habe in New Orleans studiert und weiß daher, dass Mardi Gras schlichtweg ein Teil der Identität ist. Ich kann mir vorstellen, wie schwer das den Verantwortlichen gefallen sein muss, die zudem Ende Februar noch viel weniger wussten als heute.
Und gibt es auch ein Positivbeispiel – sozusagen das St. Louis von heute?
Das wäre der Bundesstaat Washington, einer der frühen Hotspots mit örtlicher Verbreitung. Dort gibt es eine exzellente Gesundheitsbehörde, die sehr effizient vorgegangen ist: Sie haben schnell ausgiebig getestet und die Kurve verflacht.
Apropos Tests: Warum sind die USA als mächtigstes Land der Welt so überfordert? Es gibt einen Mangel an Nötigstem.
Den Mangel an Corona-Tests haben wir uns selbst eingebrockt, weil wir selbst einen Test entwickeln wollten, statt den von der WHO bereitgestellten anzunehmen – und der war dann fehlerhaft. Aber allgemein würde ich nicht sagen, dass das gesamte US-Gesundheitssystem überfordert ist, wir sind nur in bestimmten Gegenden überfordert. Wissen Sie, wir sind ein großes, sehr unterschiedliches Land, nicht so wie Deutschland oder Italien.
Im Weißen Haus sendet Präsident Donald Trump Tag für Tag in seiner Pressekonferenz widersprüchliche Botschaften aus, was die Gefahr durch das Virus oder das mögliche Ende von Schutzmaßnahmen betrifft.
Für die öffentliche Gesundheit im Lande wäre es das Beste, wenn Trump dieses Podium nie wieder betreten würde. Jeder Infektionsexperte, egal ob er Demokrat oder Republikaner ist, wird Ihnen sagen: Das Beste, was unserem Land passieren könnte, wäre, wenn der Präsident nicht mehr Tag für Tag auf diesem Podium stehen würde. Sondern nur sein Vizepräsident und die Experten.
Interessieren Sie sich für US-Politik? Unser Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt über seine Arbeit im Weißen Haus und seine Eindrücke aus den USA unter Donald Trump einen Newsletter. die dann einmal pro Woche direkt in Ihrem Postfach landet.
Wo sehen Sie den Schaden?
Es ist ja schon jemand gestorben. Nachdem Trump das Malariamittel Chloroquin voreilig gepriesen hat, hat ein Paar in Arizona ja Reinigungsmittel für ihr Aquarium eingenommen, weil es auch eine Chloroquin-Verbindung enthielt. Der Mann starb, die Frau gab an, sie hätten Trump in der Pressekonferenz darüber reden gehört. Es ist immer gefährlich, vor einer medizinisch ungebildeten Öffentlichkeit einzelne mögliche Mittel so in den Vordergrund zu stellen. Verstehen Sie mich nicht falsch, auch meine Kollegen in Kalifornien experimentieren mit Chloroquin, mit noch unklarem Erfolg. Aber wir können es nicht so als die Lösung präsentieren. Was Trump da macht, ist gefährlich.
Trump sagt, er wolle dem Volk Hoffnung machen.
Ja, aber Trump macht uns falsche Hoffnungen.
Und sein Gesundheitsexperte Anthony Fauci muss ihm munter widersprechen.
Tony kenne ich seit den Achtzigerjahren, seit wir uns damals mit HIV beschäftigten. Er ist der schlaueste Arzt, den ich je habe sprechen hören. Tony Fauci wird dir nie etwas sagen, was nicht wahr ist. Das ist viel wert. Er lässt sich nicht von Trump einschüchtern. Und Trump wird ihn auch nicht feuern, sonst impeachen sie ihn ein zweites Mal (lacht). Tony ist jemand, der den Mächtigen die Wahrheit sagt. Vielleicht ist es das, was uns in dieser Lage Hoffnung geben kann.
Dr. Willen, vielen Dank für das Gespräch.
- Das Interview führte US-Korrespondent Fabian Reinbold – Corona-konform – am Telefon.