Chinas Wirtschaft Xi wagt den Spagat
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chinas Wirtschaft steckt in Schwierigkeiten und die Kommunistische Partei benennt das ungewöhnlich deutlich. Für Staatschef Xi Jinping wird die Zukunft zum Drahtseilakt.
Wenn sich das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei (KP) Chinas trifft, dringt meist nicht viel nach außen. Die 194 Männer und elf Frauen sind ein verschworener Haufen. Sie setzen die Beschlüsse des Parteitags um und vertreten China nach außen. Über ihnen thront lediglich das Politbüro der KP, an dessen Spitze Staatschef Xi Jinping steht. Wenn also doch etwas nach außen dringt, dann nur eng abgestimmte Mitteilungen. Mehrheitlich sind das nicht viel mehr als hohle politische Phrasen. Nicht so in diesem Jahr.
Die Partei steckt nämlich in Schwierigkeiten, denn Chinas Wirtschaft schwächelt. Ungewöhnlich deutlich machte das am Freitag der stellvertretende Direktor für politische Forschung des Zentralkomitees, Tang Fangyu: "Wir müssen zahlreiche Schwierigkeiten und Hindernisse überwinden", erklärte er im Anschluss an das sogenannte Dritte Plenum des Gremiums. Es hakt vor allem bei der Modernisierung der Industrie und der Förderung des Wirtschaftswachstums.
So viel Offenheit ist ungewöhnlich. Die politische Führung in Peking scheint alarmiert. Chinas Staatsführung steht unter Zugzwang, die unter einer Immobilienkrise, Unsicherheit auf dem Arbeitsmarkt und Konsumflaute leidende Wirtschaft stärker anzukurbeln. Mehr zur chinesischen Immobilienkrise lesen Sie hier. Im zweiten Quartal blieb das Wirtschaftswachstum unter den Erwartungen. Das Bruttoinlandsprodukt stieg von April bis Juni um 4,7 Prozent zum Vorjahreszeitraum. Das ist die langsamste Steigerungsrate seit dem ersten Quartal 2023.
Es müssen also Reformen her: Staatschef Xi Jinping muss angesichts dessen einen Spagat wagen, der ihm nicht gefallen dürfte. Und viele Fragen bleiben noch offen.
Chinas Partei hadert mit dem Wirtschaftskurs
Beim sogenannten Dritten Plenum des Zentralkomitees setzt sich die Partei alle fünf Jahre neue Linien für die Wirtschafts-, aber auch Außenpolitik. Normalerweise findet dieser Termin im Herbst statt, wäre also bereits im vergangenen Jahr fällig gewesen. Doch dieses Mal ließ die Partei deutlich mehr Zeit verstreichen – rund neun Monate. Vermutlich lässt sich das auf gegensätzliche Vorstellungen bezüglich der Wirtschaftspolitik zurückführen. "Je tiefer die Reform geht, desto komplexer und akuter werden die Interessenkonflikte, die sie berührt", sagte Tang dazu.
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Anders als von Experten zunächst erwartet, hat Chinas Wirtschaft sich nach der Corona-Pandemie bislang nicht vollständig erholt. Die strikte Null-Covid-Politik mit isolationistischen Maßnahmen liegt noch bleiern auf ihr. Der Staat hat zudem seit der Finanzkrise 2008 insbesondere für umfangreiche Infrastrukturprojekte hohe Schulden aufgenommen: Mehr als 40 Prozent der Wirtschaftsleistung fließen in Straßen, Wohnungsbau oder Eisenbahntrassen. Ob all diese Investitionen wirtschaftlich sind, bleibt fraglich.
Sicherheit oder Wirtschaftsaufschwung?
Erschwerend kommt der bisherige Fokus von Xis Politik hinzu: Auf dem Dritten Plenum im Jahr 2013 hatte der Staatschef China nämlich einen Kurs verordnet, der sich vor allem auf nationale Sicherheit konzentrierte. Für den Staat bedeutet das vor allem die Stärkung der Partei als machthabendes Organ, für die Bevölkerung aber noch umfangreichere Maßnahmen zur sozialen Kontrolle. Innovationen in der Wirtschaft verhinderte das – und ausländische Investoren wurden abgeschreckt.
Hierin liegt nun der Spagat, den Xi künftig offenbar wagen möchte. In ihrem Kommuniqué zum Dritten Plenum schreibt die KP, es sei notwendig, "die positive Wechselwirkung zwischen hochwertiger Entwicklung und Sicherheit auf hohem Niveau" umzusetzen. Bisher hatte in dieser chinesischen Symbiose stets die Sicherheit Vorrang, möglicherweise ändert sich das künftig. Andererseits macht die Partei in ihrer Mitteilung durchaus deutlich, dass sie auch in den kommenden Jahren die öffentliche Meinung stark kontrollieren will.
Dieser Zwiespalt gehört zu den vielen offenen Fragen, die das Dritte Plenum der KP hinterlässt. Details zu Reformen für einen Wirtschaftsaufschwung verrät die Partei zunächst nicht. Diese werden vermutlich erst in den kommenden Wochen und Monaten folgen.
Bisher scheint es so, als wolle man vor allem Xis bisherigen Kurs weiterverfolgen. Er setzt auf eine Strategie, die auf technologischem Fortschritt basiert. Dieser soll laut der Mitteilung nun aber umweltfreundlicher und gerechter vonstattengehen. Denn China stehe vor "einer neuen Welle wissenschaftlicher und technologischer Revolutionen und des industriellen Wandels", die Reformen erfordere. Aber auch hier bleibt die Partei vage.
Das sagen Experten
Experten erkennen in den wenig detaillierten Äußerungen Probleme. Der Ökonom Bastian Hepperle sagte der Nachrichtenagentur Reuters: "Die wirtschaftspolitischen Grundprobleme wie Überkapazitäten, hohe Verschuldung, Immobilienkrise werden auf absehbare Zeit ungelöst bleiben." Wenn die Regierung ihr gesetztes Ziel für fünf Prozent Wachstum in diesem Jahr halten wolle, brauche es weitere geldpolitische Unterstützung und staatliche Förderprogramme.
Julian Evans-Prichard, China-Experte bei Capital Economics, sagte dem japanischen Wirtschaftsblatt "Nikkei": Chinas Führung habe zwar versprochen, die Reformen in einer Vielzahl von Bereichen weiter zu vertiefen. "Es gibt jedoch nur wenige Anzeichen dafür, dass das gerade abgeschlossene Dritte Plenum einen größeren Richtungswechsel in der Politikgestaltung markiert."
Steve Tsang, Direktor des SOAS China Institute in London, erklärte dem "Wall Street Journal", dass die Partei-Technokraten vom Dritten Plenum wohl ebenso enttäuscht sein würden wie Investoren, die sich einen Wandel in der Wirtschaftspolitik erhofft hatten. Dass Xi die Kontrolle durch die Kommunistische Partei betone, werde zwar "in absehbarer Zukunft die politische und soziale Stabilität in China sicherstellen" – zum Aufschwung der Wirtschaft aber kaum etwas beitragen.
Außenminister bleibt verschwunden
Ein Ausrufezeichen setzte die Mitteilung der Partei dann aber doch: Der frühere Außenminister Qin Gang, der seit vergangenem Sommer nicht mehr in der Öffentlichkeit zu sehen war, gehört nicht mehr der Führung der Kommunistischen Partei an. Das Zentralkomitee teilte mit, dass sein Rücktritt angenommen wurde. Nähere Angaben machte die KP nicht, nannte Qin Gang jedoch einen "Genossen", was nicht auf Verwerfungen hindeutet.
Das Rätsel um das Verschwinden des Politikers bleibt dennoch ungelöst. Im Sommer vergangenen Jahres war der damalige Außenminister plötzlich nicht mehr zu öffentlichen Terminen erschienen. Wochen später wurde der von Staats- und Parteichef Xi Jinping für das Amt ausgewählte Spitzenpolitiker schließlich nach nur etwa sieben Monaten von seinem Posten abgesetzt. Im Februar war er als Abgeordneter des Volkskongresses zurückgetreten.
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa und Reuters
- Kommuniqué der Kommunistischen Partei zum Dritten Plenum (chinesisch)
- nytimes.com: "China’s Leaders Offer High Hopes, but Few Details for Road to Recovery" (englisch, kostenpflichtig)
- wsj.com: "China’s Leaders Point to Economic Threats but Show No Sign of Changing Tack" (englisch, kostenpflichtig)
- asia.nikkei.com: "China plenum vows reforms, accepts Qin Gang resignation" (englisch)
- foreignpolicy.com: "China’s Third Plenum, Explained" (englisch, kostenpflichtig)
- spiegel.de: "China hat Angst vor dem Abstieg" (kostenpflichtig)