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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Überraschende Scholz-Wandlung Plötzlich ein Riese
In Deutschland sinkt sein Stern, im Ausland wächst sein Einfluss: Auf dem Nato-Gipfel zeigt sich ein ganz anderer Olaf Scholz als daheim.
Abgesänge auf die Ampelregierung ertönen täglich. In der deutschen Medienlandschaft dürfte es keinen Politikkommentator geben, der die zerstrittene Dreierkoalition noch nicht heruntergeputzt hat. Neben dem Dauerhickhack zwischen Grünen und FDP gilt die Führungsschwäche des Kanzlers als Grund für das miserable Erscheinungsbild der selbsternannten Fortschrittskoalition: Olaf Scholz kommuniziere nicht nur schlecht, ihm gelinge es auch nicht, den Laden zusammenzuhalten, so lautet der Vorwurf. Bei der Bundestagswahl im Herbst kommenden Jahres werde er deshalb aus dem Kanzleramt gekegelt.
Wenn sich da viele mal nicht täuschen. Wer den Kanzler in diesen Tagen aus der Nähe beobachtet, erlebt einen Menschen, der mit sich im Reinen ist. Sogar gute Laune versprüht er, was bei einem Emotionssparfuchs wie Scholz fast eine eigene Meldung wert ist. Saloppe Bemerkungen, befreites Lachen, sogar Scherze sind zu hören.
Die gute Kanzlerlaune hat Gründe. Einer liegt auf der Hand, der andere erschließt sich erst im Ausland.
Darauf ist der Kanzler stolz
Zunächst das Offensichtliche: Nach 23 Treffen und 80 Stunden Verhandlungen mit den Ministern Lindner und Habeck ist es Scholz gelungen, einen Bundeshaushalt für 2025 aufzustellen, der tatsächlich nur einen einzigen Verlierer hervorgebracht hat: Verteidigungsminister und Parteifreund Boris Pistorius ist nun zwar sauer, weil er nicht noch mehr Geld für die Bundeswehr-Aufrüstung erhält. Zugleich ist er jedoch Parteisoldat genug, um die Kabinettsdisziplin zu wahren. Allerdings könnte ihn der Dämpfer von seinem Umfragethron stoßen; bei Militärexperten mischt sich unter die Lobgesänge auf den Minister plötzlich auch Kritik. Das muss den Kanzler, der Umfragewerte derzeit eher von unten betrachtet, gar nicht ärgern.
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Scholz ist stolz auf sein Etat-Kunststück, und wie zu hören ist, hat er zumindest einem seiner beiden Verhandlungspartner (oder sollte man eher sagen -gegner?) sehr deutlich die Pistole auf die Brust gesetzt. Anders wäre die Einigung womöglich nicht zustande gekommen. Kurzum: Er hat geführt.
Es gibt noch einen weiteren Grund, warum Scholz in diesen Tagen Aufwind verspürt, und der wird in Washington ersichtlich: In der amerikanischen Hauptstadt haben sich die 32 Staats- und Regierungschefs der Nato-Länder versammelt. Auffallend viele von ihnen sind angeschlagen (Biden, Macron), andere sind isoliert (Orbán, Erdoğan, ein bisschen auch Meloni), zwei sind neu in der Runde (Orpo aus Finnland, Kristersson aus Schweden), mehrere sind noch unerfahren (Starmer aus Großbritannien, Schoof aus den Niederlanden).
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Und mittendrin steht, spricht, führt der Bundeskanzler. Die Anerkennung, die dem Regierungschef aus Berlin von den anderen Chefs entgegengebracht wird, scheint über übliche Höflichkeitsfloskeln hinauszugehen. Immer wieder hört Scholz großen Dank für die deutsche Führungsstärke im schwierigen Umgang mit dem Krieg in der Ukraine.
Scholz: "We are serious about the 'Zeitenwende'"
Auch diese Entwicklung kommt nicht von ungefähr. Mit dem Sondervermögen für die Bundeswehr hat der Ampelchef das deutsche Zwei-Prozent-Versprechen endlich erfüllt: 2,19 Prozent investiert Deutschland gegenwärtig in sein Militär und hat anderen Staaten damit ein Vorbild gegeben, wie zu hören ist. Erreichten vor dem russischen Angriff 2022 nur 9 Nato-Länder die Quote, sind es nun 23. "We are serious about the 'Zeitenwende'", rühmt sich Scholz bei einem Gespräch mit Kongressabgeordneten im Kapitol in Washington.
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Auch bei der Organisation weiterer Patriot-Luftabwehrsysteme für die Ukraine war der Kanzler federführend: Monatelang erhöhte er den Druck auf andere EU-Regierungen, diskret flankiert vom Weißen Haus. Neben Deutschland und den USA beteiligen sich nun Rumänien und die Niederlande an den Lieferungen. Italien steuert eine vergleichbare Luftabwehr vom Typ SAMP/T bei. "Danke, Olaf, für die Luftverteidigung!", rief Präsident Selenskyj in Washington. Womöglich kann er bald mit noch mehr Waffen rechnen: "Aus meiner Sicht ist dieser Prozess nicht abgeschlossen", versprach ihm Scholz.
Auch bei der Verteidigung der Nato-Ostgrenze wächst Deutschlands Bedeutung. Die Biden-Administration scheint mittlerweile fast blind auf Scholz zu vertrauen, entsprechende Sätze des Präsidenten in vertraulicher Runde legen dies nahe. Der alte Mann mag körperlich und politisch angeschlagen sein, aber zwischen ihm und Scholz hat sich ein tiefes Vertrauen entwickelt. In seine Entscheidung, für eine weitere Amtszeit zu kandidieren, soll der Joe den Olaf früh eingeweiht haben. Bidens Pressesprecherin zitierte kürzlich vor der versammelten amerikanischen Hauptstadtpresse den deutschen Bundeskanzler, um zu beweisen, wie fit der US-Präsident sei. Im Weißen Haus hält man offenkundig große Stücke auf den Kanzler.
Nato-Chefs behandeln Scholz wie einen Anführer
Es bleibt nicht bei Worten. Am Rande des Nato-Gipfels kündigten die USA an, ab übernächstem Jahr wieder Marschflugkörper in Deutschland zu stationieren. Darunter sollen Tomahawk-Raketen und neu entwickelte Hyperschallwaffen sein – eine direkte Antwort auf die Bedrohung durch Putins Kinschal-Raketen.
Das neue Hauptquartier für Waffenlieferungen und die Ausbildung ukrainischer Soldaten entsteht in Wiesbaden. Gemeinsam mit acht weiteren Nato-Ländern will Deutschland Seeminen anschaffen, um in der Ostsee einen Sicherheitskordon gegen Russland zu legen. Die Nato baut eine Trutzburg gegen Putin, und der Bundeskanzler ist einer ihrer Architekten.
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Im Kreis der Nato-Chefs wird Olaf Scholz deshalb wie ein Anführer behandelt, ein Chef-Chef sozusagen. Legt man dieses Bild neben das Bild des obersten Ampelmanns in Berlin, ergibt sich eine krasse Diskrepanz. Fast wirkt es, als gäbe es zwei Olaf Scholz: daheim den unbeliebten Politikkrämer, im Ausland den führungsstarken Staatsmann.
Das gab es allerdings schon einmal: Auch Vorgängerin Angela Merkel erfreute sich im Ausland höchster Anerkennung, während ihr Stern zu Hause sank. Das war in der Spätphase ihrer Kanzlerschaft. Wenig später war sie weg vom Fenster.
- Eigene Beobachtungen und Gespräche
- AFP