Historischer Tag EU startet Beitrittsgespräche mit Ukraine und Moldau
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat unerwartete Dynamik in den Prozess der EU-Erweiterung gebracht. Jetzt steht für zwei Kandidatenländer ein großer Tag an.
Inhaltsverzeichnis
- Was bedeutet die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen?
- Gilt das gleiche auch für Moldau?
- Worum geht es in den Beitrittsverhandlungen?
- Wie lange werden die Beitrittsverhandlungen dauern?
- Wer könnte ein Veto einlegen?
- Hat Orbán da einen Punkt?
- Bräuchte es nur in der EU-Landwirtschaft Reformen?
- Was sieht die Bundesregierung die Beitrittsverhandlungen?
Wenn es um die Frage ging, welche Länder irgendwann einmal den Beitritt zu EU schaffen könnten, war jahrelang vor allem von Balkanstaaten wie Montenegro oder Serbien die Rede. Russlands Kriegspolitik hat dies grundlegend geändert.
Die Ukraine und ihr kleiner Nachbarstaat Moldau sind in kürzester Zeit zu EU-Beitrittskandidaten geworden und können heute auch noch den offiziellen Beginn von EU-Beitrittsverhandlungen feiern. Am Dienstag starteten offiziell die Beitrittsverhandlungen. Ist die EU schon bald größer als vor dem Brexit?
Was bedeutet die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen?
Relevant ist der Schritt vor allem psychologisch und symbolisch. Die EU zeigt den schätzungsweise mehr als 35 Millionen Menschen in der Ukraine und den 2,4 Millionen Menschen in Moldau, dass sie eine Perspektive haben, EU-Bürger zu werden. Er soll ein Zeichen sein, dass es sich lohnt, für Freiheit und Demokratie zu kämpfen.
Der CDU-Außenpolitiker Michael Gahler sagt zum Start des Verhandlungsprozesses, für die Menschen in der Ukraine sei die Europäische Union "der verheißungsvolle Fluchtort aus dem düsteren Kriegsalltag". Sie setzten große Hoffnungen auf die EU.
Gilt das gleiche auch für Moldau?
Da es in Moldau keinen Krieg gibt, ist die Lage dort etwas anders, die EU hat aber auch ein strategisches Interesse daran, die Bürger des ukrainischen Nachbarstaates auf EU-Kurs zu halten. "Die Republik Moldau wird wegen ihrer Solidarität mit der Ukraine und der proeuropäischen Orientierung, angeführt von Präsidentin Maia Sandu, vom Kreml offen ins Visier genommen", erklärt David McAllister (CDU), der zuletzt Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Europäischen Parlament war. Das zeige sich besonders vor den anstehenden Präsidentschaftswahlen im Oktober.
Worum geht es in den Beitrittsverhandlungen?
Grundsätzlich ist der Begriff Verhandlungen etwas irreführend. Letztendlich geht es nämlich darum, dass die EU den Kandidatenländern sagt, was sie noch zu tun haben, um in die Union aufgenommen zu werden. Dabei geht es vor allem darum, nationale Rechtsvorschriften an EU-Recht anzupassen und die Wirtschaft und die Verwaltung EU-tauglich zu machen.
Um den Prozess übersichtlicher zu gestalten, wurden die Voraussetzungen in 35 sogenannte Kapitel eingeteilt. Am Anfang geht es beispielsweise vor allem darum, dass das Land die grundlegenden Beitrittsvoraussetzungen erfüllt. Dazu geht es dann um Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Justiz.
Bei den Beitrittskonferenzen für die Ukraine und Moldau in Luxemburg wird es erst einmal darum gehen, den beiden Ländern die Leitlinien und Grundsätze für die Verhandlungen vorzustellen. Die ersten Verhandlungskapitel dürften nach Angaben von EU-Diplomaten im Verlauf der nächsten zwölf Monate eröffnet werden.
Bis dahin muss die EU-Kommission noch in einem sogenannten Screening für die Verhandlungskapitel prüfen, inwieweit das nationale Recht des Beitrittskandidaten noch vom EU-Recht abweicht.
Wie lange werden die Beitrittsverhandlungen dauern?
Das ist noch vollkommen unklar und hängt vor allem von den Reformfortschritten der Kandidatenländer ab. Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurden beispielsweise bereits 2005 gestartet – und heute liegen sie wegen Rückschritten bei der Rechtsstaatlichkeit komplett auf Eis.
Relevant ist auch, dass für das Öffnen und Schließen der 35 Verhandlungskapitel eine einstimmige Entscheidung aller EU-Staaten notwendig ist. Dies birgt Blockade-Risiken.
Wer könnte ein Veto einlegen?
Vor allem bei der Ukraine gilt Ungarn als Risikofaktor. So sagte Regierungschef Viktor Orbán den Zeitungen der Funke Mediengruppe zum Gesprächsstart, die Sache sei für ihn "ein rein politisch motivierter Prozess". Er halte es nicht für gut, Verhandlungen zu beginnen, ohne Klarheit in bestimmten Fragen zu haben.
Als Beispiele nannte er, dass man aus seiner Sicht erst prüfen müsse, was die Folgen wären, wenn man ein Land im Krieg aufnehme, dessen Grenzen in der Praxis nicht geklärt seien. Zudem müsse geprüft werden, was für Folgen der Beitritt des riesigen Landes für die Landwirtschaft der EU hätte.
Hat Orbán da einen Punkt?
Die riesige Landwirtschaft der Ukraine würde tatsächlich eine umfangreiche Reform der EU-Agrarförderungen notwendig machen. EU-Experten rechneten zuletzt aus, dass ohne Änderungen in einem Haushaltszeitraum von sieben Jahren EU-Mittel in Höhe von insgesamt 186 Milliarden Euro in die Ukraine fließen würden.
Beim Thema Grenzen gilt, dass die Ukraine vermutlich nicht EU-Mitglied werden kann, bevor nicht der Krieg mit Russland beendet wurde. Denn sonst könnte Kiew nach Artikel 42, Absatz 7 des EU-Vertrags militärischen Beistand von anderen EU-Staaten einfordern – und die EU wäre offiziell Kriegspartei.
Bräuchte es nur in der EU-Landwirtschaft Reformen?
Grundsätzlich sind viele in der EU der Ansicht, dass eine Aufnahme von großen Ländern wie der Ukraine nur dann zu einem Erfolg werden kann, wenn es zuvor eine umfangreiche EU-Reform gibt. Die Entscheidungsprozesse im Bereich der Außenpolitik sind beispielsweise schon heute teilweise sehr schwerfällig, weil in der Regel das Einstimmigkeitsprinzip gilt.
Was sieht die Bundesregierung die Beitrittsverhandlungen?
Europastaatsministerin Anna Lührmann (Grüne) sagt: "Heute ist ein historischer Tag für Europa." Sowohl die Ukraine als auch Moldau hätten trotz der russischen Bomben, der Desinformations-Kampagnen und der Destabilisierungsversuche bereits große Fortschritte erzielt. Auf dem Weg in die EU müssten noch viele Reformen folgen. Heute sei aber ein Tag zu feiern, morgen gehe die Arbeit weiter.
- Nachrichtenagentur dpa