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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Parlamentswahl in Spanien Das nächste Land steht vor dem Rechtsruck
Pedro Sánchez' Bilanz als spanischer Regierungschef kann sich sehen lassen. Und doch wird der Sozialdemokrat die Parlamentswahl vermutlich verlieren. Wie kann das sein?
Alberto Núñez Feijóo ist sich seiner Sache wohl sehr sicher. Denn anders ist das, was am Mittwochabend im spanischen Fernsehen geschah, nur schwer zu erklären. An der letzten großen TV-Debatte vor dem Wahlsonntag nahmen drei Politiker teil: der amtierende Ministerpräsident der sozialdemokratischen PSOE, Pedro Sánchez, Yolanda Diaz von der neuen Linkspartei Sumar und Santiago Abascal von der rechtspopulistischen Vox.
Feijóo, Spitzenkandidat der konservativen PP und führend in den Umfragen, war bei der Debatte nicht erschienen – und ließ die Gründe für seine Abwesenheit offen. In Parteikreisen hieß es im Anschluss, Feijóo wollte seinen Sieg nicht gefährden. Offenbar war auf den letzten Metern jedes potenzielle Wortgefecht eines zu viel.
Es ist eine Episode, die sinnbildlich für den spanischen Wahlkampf steht: Denn Inhalte hatten dort selten eine Rolle gespielt. Stattdessen prägte Polemik die politische Auseinandersetzung zwischen dem rechten und linken Lager, die mittlerweile ein tiefer Graben trennt. "Der Grad der Polarisierung ist in Spanien extrem hoch", sagte Günther Maihold vom Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin im Gespräch mit t-online.
Konservative liegen vorne – trotz Erfolgen der Regierung
Feijóo wird diesen Kampf wohl am Ende für sich entscheiden: Nach entsprechenden Entwicklungen in Ländern wie Italien, Schweden oder Finnland könnte damit auch in Spanien die nächste linksgerichtete Regierung durch eine Mitte-Rechts-Bündnis abgelöst werden. Das Bemerkenswerte an dieser Entwicklung: Ministerpräsident Sánchez konnte durchaus politische Erfolge verbuchen, vor allem in seiner Arbeitsmarktpolitik.
Die Inflationsrate von 1,6 Prozent zählt zu den niedrigsten in ganz Europa. Die Arbeitslosenquote von rund 12 Prozent ist die niedrigste in Spanien seit mehr als zehn Jahren. Sánchez hob zudem den Mindestlohn an. In seiner Amtszeit stieg auch die Zahl der unbefristeten Arbeitsplätze. Für dieses Jahr ist ein Wirtschaftswachstum von 2,3 Prozent prognostiziert – während Deutschland auf 1,8 Prozent kommt.
Warum wollen die Wähler trotzdem einen Wechsel?
Laut den Umfragen könnten Feijóos Konservative die stärkste Kraft im Land werden. Sie stehen aktuell bei rund 34 Prozent, gefolgt von Sánchez Sozialdemokraten, die auf 28 Prozentpunkte kommen könnten. Nahezu gleichauf liegen dahinter Vox und Sumar bei rund 13 Prozent.
Bleibt es dabei, werden die Konservativen wohl mit Vox eine rechte Koalition bilden und Sánchez‘ Mitte-Links-Bündnis ablösen. Möglicherweise reicht es auch zur absoluten Mehrheit. Aktuell regieren die Sozialdemokraten gemeinsam mit der linken Unidas Podemos, die sich vor der Wahl für ein Listenbündnis mit Sumar entschieden hatte.
"Das wird Sie für immer verfolgen"
Doch die Erfolge der Mitte-Links-Regierung spielten im Wahlkampf kaum eine Rolle. Stattdessen wurde Sánchez von rechts vor allem für seine progressive Gesellschaftspolitik attackiert: So kann seit Februar jeder Bürger ab 16 Jahren mit einem Gang zum Amt sein Geschlecht ändern lassen. Aufsichtsräte müssen in größeren Unternehmen zu 40 Prozent mit Frauen besetzt sein. Das Elterngeld wird in Spanien paritätisch gezahlt, die Pille danach gibt es kostenfrei. Auch im Kampf gegen häusliche Gewalt nimmt das südeuropäische Land eine Vorreiterrolle ein.
Zudem setzte die Regierung eine Verschärfung des Sexualstrafrechts durch. Durch das sogenannte "Ja heißt Ja"-Gesetz wird Sex ohne ausdrückliche Zustimmung als Vergewaltigung betrachtet. Das Strafmaß wurde zudem hochgesetzt.
Vox und PP kritisierten die Regelung als Umkehr der Unschuldsvermutung. In der ersten Fassung des Gesetzes führte zudem ein handwerklicher Fehler dazu, dass das Strafmaß für andere Sexualtatbestände herabgesetzt wurde. Dadurch wurden etwa einhundert verurteilte Täter vorzeitig freigelassen. Sánchez entschuldigte sich öffentlich für den Fehler und musste das Gesetz nachbessern. "Das wird Sie für immer verfolgen", sagte Feijóo bei der Fernsehdebatte mit Sánchez am Montag.
"Funktioniert wie ein Pendel"
"Seine Gegner werfen dem Regierungschef vor, er habe hauptsächlich eine Politik für Minderheiten gemacht", sagt Günther Maihold. PP und Vox hätten ihre Anhänger zudem mit zwei weiteren Themen mobilisieren können: die Migrationspolitik und die nationale Einheit Spaniens. Sánchez wird aus dem rechten Lager vorgeworfen, er paktiere mit baskischen und katalanischen Unabhängigkeitsparteien, da seine Minderheitsregierung verschiedene Gesetze mit deren Zustimmung durchbrachte.
Ansonsten suchte man vergeblich nach Inhalten im Wahlkampf: Das rechte Lager stilisierte die Regierungspolitik zum "Sánchismo" hoch, den es abzuschaffen gelte. Sánchez wetterte dagegen, dass jede Stimme für die Konservativen am Ende eine für die rechtsextreme Vox sei, die das Land zurück in die Ära der Militärdiktatur von Francisco Franco führe. "Die spanische Politik funktioniert wie ein Pendel. Einen Grundkonsens gibt es dadurch immer weniger", sagt Politikwissenschaftler Maihold.
In Deutschland würde ein Pakt zwischen Konservativen und der extremen Rechten auf Bundesebene für einen Aufschrei sorgen. Ein Bündnis zwischen PP und Vox wäre auch in Spanien eine Premiere, allerdings keine, die wohl vergleichbares Aufsehen erregen würde. Denn eine Brandmauer nach Rechtsaußen existiert in dem Land nicht.
"Vox hatte es relativ einfach"
"Vox hatte es relativ einfach, eine wählbare Partei zu werden", sagt Maihold. Gründe dafür gibt es einige: Der Weg zwischen Vox und PP ist allein schon deshalb kurz, da die rechtspopulistische Vox von Santiago Abascal 2013 als Abspaltungspartei der Konservativen entstanden war.
Nach den Regional- und Kommunalwahlen im vergangenen Mai sind zudem schon an vielen Orten Koalitionen zwischen den beiden Parteien entstanden. Auch gebe sich Vox laut Maihold nicht mehr so EU-skeptisch wie in den Anfangsjahren, was im generell europafreundlichen Spanien besser ankomme.
Der Wahlkampf von Vox-Chef Abascal wird zudem stark auf sozialen Netzwerken geführt, was viele junge Wähler anspricht. Doch Vox kann auch in anderen Schichten punkten: Etwa unter streng Gläubigen, enttäuschten Konservativen, Protestwählern, die sich zuvor für die Linke Podemos entschieden hatten, oder rechtsextremen Franco-Anhängern.
Auf die EU kommt ein Problem zu
Mit einer neuen Regierung könnten dann möglicherweise viele Vorhaben der Sánchez-Jahre zurückgedreht werden. Vox hat nicht nur angekündigt, gegen den Minderheitenschutz vorzugehen, sondern auch Vorgaben in den Bereichen Umwelt, Soziales oder in der Aufarbeitung der Militärdiktatur einzukassieren.
"Die Logik der politischen Akteure ist, alles zurückzudrehen, was die Vorgängerregierung durchgesetzt hat", so Politikwissenschaftler Maihold. Das könnte auch für die EU zum Problem werden. Denn seit Juni hat Spanien auch den Vorsitz im Rat der EU inne. Vox-Chef Abascal hat bereits angekündigt, geplante Klima- und Umweltprojekte aus Brüssel zu blockieren.
- Interview mit Günther Maihold
- Mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, AFP und Reuters
- politico.eu: "Spain — 2023 general election" (englisch)
- politico.eu: "Spain’s Sánchez and Núñez Feijóo clash in fierce pre-election debate" (englisch)
- spiegel.de: "Warum Spanien so progressiv ist – und wieso das nun auf dem Spiel steht" (kostenpflichtig)
- tagesschau.de: "Rolle rückwärts mit Vox?"
- sz.de: "Wie die rechtsextreme Vox die Jugend verführt"
- ycharts.com: "Spain Unemployment Rate" (englisch)
- ec.europa.eu: "Jährliche Inflationsrate im Euroraum auf 5,5% gesunken"
- faz.net: "Spanien verschärft Sexualstrafrecht"
- sachverstaendigenrat-wirtschaft.de: "Konjunkturprognose für 2022 und 2023"