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Ukraine-Krieg: "Russland hat sein Kriegsgerät weggespült"


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Heftige Kämpfe in der Ukraine
"Nun kann Putin gar nichts mehr machen"

InterviewVon Patrick Diekmann

Aktualisiert am 11.06.2023Lesedauer: 6 Min.
Ein Soldat der ukrainischen Armee mit Granate (Archivbild). Die EU will bald mehr Munition liefern.Vergrößern des Bildes
Ukraine: ein Soldat der ukrainischen Armee mit Granate. (Quelle: VIACHESLAV RATYNSKYI/reuters)

Die ukrainische Armee greift unter Verlusten russische Verteidigungslinien an, aber diese halten bislang. Kremlchef Wladimir Putin gibt sich selbstsicher. Kann Russland einen Durchbruch verhindern?

Die ukrainische Gegenoffensive hat begonnen, aber es ist noch immer unklar, mit welcher Intensität die Ukraine russische Stellungen angreift. Der Krieg befindet sich wahrscheinlich in einer Phase, in der Kiew versucht, Schwachstellen in den russischen Verteidigungslinien auszutesten – größere Angriffe stehen noch aus.

Russlands Präsident Wladimir Putin sprach am Freitag in Moskau darüber, dass die ukrainische Gegenoffensive begonnen habe. Dass der Kremlchef die Aufmerksamkeit auf die aktuellen Kämpfe lenkt, ist ein Zeichen dafür, dass die russische Verteidigung bisher hält. Fest steht aber nur: Bislang konnte Russland einen ähnlichen Zusammenbruch der Front wie im Spätsommer 2022 verhindern.

Es sind erbitterte Kämpfe. In jedem Fall ist der russische Angriffskrieg erneut in einer Phase mit hohen Verlusten auf beiden Seiten und großen Zerstörungen – nicht zuletzt auch durch den Bruch des Kachowka-Staudamms. Der Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) gibt einen Überblick über die aktuelle Lage im Ukraine-Krieg.

t-online: Herr Mölling, die ukrainische Gegenoffensive hat begonnen und die Kampfintensität hat in den vergangenen Tagen zugenommen. Wie läuft es für die ukrainische Armee bisher?

Christian Mölling: Das ist schwer zu sagen, die Meldungen von der Front widersprechen sich teilweise. Es scheint für die Ukraine langsame Fortschritte zu geben, aber zunächst testet sie an der Front aus, wo vielleicht ein Durchbruch durch die russischen Linien gelingen kann. Fest steht nur: Es wird große Verluste geben und eine bittere Materialschlacht.

Während die Ukraine in den vergangenen Wochen viel gescoutet hat und die russischen Nachschublinien angegriffen wurden, sehen wir nun ein direktes Abtasten der Front im direkten Gefecht?

Die ukrainische Gegenoffensive muss man sich als Prozess vorstellen, sie wird nicht in wenigen Wochen vorbei sein, das könnte nun Monate so weitergehen. Natürlich konnte die ukrainische Armee Aufklärung betreiben, aber sie werden nun erst wirklich erkennen, wie stark der russische Widerstand an bestimmten Frontabschnitten ist. Deswegen rennt die ukrainische Armee nicht blind los, das wäre unverantwortlich.

Christian Mölling ist stellvertretender Direktor des Forschungsinstituts der Denkfabrik Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung. Er studierte Politik-, Wirtschafts- und Geschichtswissenschaften an den Universitäten Duisburg und Warwick und promovierte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Dementsprechend gibt es wahrscheinlich keinen Masterplan für die Gegenoffensive?

Genau. Bei den ukrainischen Angriffsaktivitäten sehen wir aktuell drei bis vier Schwerpunkte – etwa um die Städte Bachmut, Marjinka oder Welyka Nowosilka in Donezk. Aber es kommt immer auf den russischen Widerstand an, und es kann sein, dass möglicherweise einige Stoßrichtungen wegfallen oder hinzukommen. Die Ukraine hat wahrscheinlich mehrere Pläne.

Ein Problem ist wahrscheinlich auch, dass sich viele Informationen von der Front nicht zweifelsfrei bestätigen lassen.

Ja. Wir sehen es schon jetzt: Es gibt viele falsche Bilder und Desinformationen in den sozialen Medien. Wie über dem gesamten Konflikt hängt auch über der ukrainischen Gegenoffensive der Nebel des Krieges, minütlich wird auf russischen Trollfarmen Desinformation gestreut. Wir sollten immer vorsichtig sein, wenn wir die Lage an der Front bewerten. Viele Informationen sind gelogen oder längst Geschichte, wenn wir sie bekommen.

Das heißt?

Für ein einigermaßen korrektes Lagebild brauchen Sie eine Vogelperspektive – dann verzichtet man auf die Übernahme von Details, deren Wahrheitsgehalt aber ohnehin zweifelhaft ist und zumeist nicht wichtig für den Kriegsverlauf. Das Bild, gerade für die jeweils aktuellen Kämpfe, wird dann schemenhafter.

Welche Schemen vom aktuellen Frontgeschehen erkennen Sie denn aktuell?

Die Kampfaktivitäten haben in den vergangenen Tagen erheblich zugenommen. Darüber hinaus würde ich aktuell keine Rückschlüsse ziehen.

Aber es ist schon absehbar, dass die Ukraine versuchen wird, zum Asowschen Meer vorzustoßen?

Zumindest lässt sich erkennen, dass die ukrainische Armee mit ihren Angriffen geografische Stellen an der Front austestet, die sich für einen Vorstoß in Richtung Süden eignen. Aber der kürzeste und schnellste Weg ist nicht immer der beste. Die Russen können eine Landkarte lesen und wissen demnach genau, wo sie ihre Verteidigungslinien aufbauen mussten – und sie hatten vor allem auch viel Zeit dazu. Wir dürfen nicht davon ausgehen, dass Russland jetzt gar nichts mehr hinbekommt. Das wäre ein falsches Bild.

Erwartet die ukrainische Armee jetzt Grabenkämpfe?

Es kommt darauf an, ob die russischen Gräben bemannt sind. Es gibt erste Berichte, dass Teile der russischen Armee desertieren. Dann hilft Russland ein Schützengraben nichts.

Doch eine wirkliche Schwachstelle in der russischen Verteidigung ist noch nicht erkennbar.

Auch das müssen wir noch abwarten. Aber wenn die Ukraine den Eindruck gewinnt, dass sie an einer Stelle vergleichsweise gut durchkommt, dann wird sie viele Kräfte auf diesen Punkt konzentrieren. Ziel ist immer der Durchbruch. Diese Kämpfe sind aber sehr verlustreich.

Warum verlustreich?

Zunächst treffen die ukrainischen Angreifer direkt auf die ersten russischen Verteidigungslinien – intakte Minenfelder, Schützengräben. Die Angriffe sind deshalb anfangs mit einem sehr hohen Risiko verbunden. Es geht für die Ukraine darum, eine Bresche zu schlagen und diese dann offen zu halten. Aber das kann auch schiefgehen.

Wie?

Die russische Armee hat das zu Kriegsbeginn demonstriert, indem sie strategisch-wichtige Punkte erobern konnte. Die Ukraine muss bei ihrer Gegenoffensive die Flanken schützen, den Nachschub sicherstellen und gleichzeitig aufpassen, dass man nicht zu schnell vorrückt und die Speerspitze vom Rest der Truppen getrennt wird.

Auch auf russischem Staatsgebiet um die Stadt Belgorod wird gekämpft. Ist das ein Ablenkungsmanöver?

Dabei geht es auch darum, russische Truppen zu binden und die Nachschublinien zu unterbrechen. Die Frage ist nur, inwieweit die Ukraine in Russland mit westlichen Waffensystemen operieren darf. Da gibt es im Westen große Empfindlichkeiten.

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Wie erklärten Sie sich diese Empfindlichkeiten? Immerhin wäre es vom Völkerrecht gedeckt, wenn die Ukraine die russische Kriegsökonomie in Russland angreift.

Die westliche Empfindlichkeit hat wenig mit dem Völkerrecht zu tun. Selbst wenn die Nato in diesen Konflikt eingreifen würde, wäre das völkerrechtlich legitimiert. Kein Thema: Sie dürfte dem Verteidiger zu Hilfe kommen und das auch auf russischem Boden. Doch das könnte zu einer atomaren Eskalation führen und da gibt es deshalb große politische Zurückhaltung im Westen.

Die eventuelle Sprengung des Kachowka-Staudamms in Cherson könnte dagegen ein russisches Manöver sein, um die ukrainische Gegenoffensive zu stören. War das eine gezielte Eskalation?

Nein, das glaube ich nicht. Auch die russische Armee hat bei der Sprengung Soldaten und Material verloren. Es spricht zumindest einiges dafür, dass das Ausmaß der Sprengung ein Unfall gewesen ist.

Aber Russland ist für den Dammbruch verantwortlich?

Ja. Ich glaube nicht, dass der Damm durch Materialermüdung gebrochen ist. Die Russen sind aber auf jeden Fall für die humanitäre Katastrophe verantwortlich, denn sie hatten den Damm unter ihrer Kontrolle. Da ist wahrscheinlich einiges schiefgelaufen: Den Zeitpunkt halte ich für verdächtig und ich kann mir gut vorstellen, dass bei der Vorbereitung der Sprengung durch russische Einheiten ein Unglück passierte und sie sich selbst in die Luft gejagt haben. Für eine russische Sprengung spricht auch, dass vorher Wasser aufgestaut wurde und dass somit ein Bruch des Dammes geplant war.

Video | "Dammbruch ist die Gelegenheit für eine Überraschung"
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Quelle: t-online

Aber hatte es auch einen militärischen Hintergrund? Immerhin kam der Dammbruch kurz nach dem Beginn der ukrainischen Angriffe.

Das ist wahrscheinlich kein Zufall. Wir wissen, dass ukrainische Spezialeinheiten schon auf der östlichen Dnipro-Seite einen Brückenkopf errichten konnten und dass westliche Nachrichtendienste einen Angriff in Cherson als eine Option ansahen. Das war für die russische Armee ein Risiko.

Und deswegen sprengt Russland einen Staudamm?

Zumindest gibt es die These, dass sie ein viel kleineres Loch in den Damm sprengen wollten, um den Pegel des Flusses dauerhaft zu erhöhen und es der Ukraine damit unmöglich zu machen, einen Brückenkopf auf der östlichen Flussseite zu errichten. So hat Russland teilweise sein eigenes Kriegsgerät weggespült. Totaler Wahnsinn.

Hat Wladimir Putin mit dieser Aktion gezeigt, dass er zu jeder Eskalation bereit ist?

Na ja. Es gibt einen deutlichen Unterschied zu einer möglichen nuklearen Eskalation. China hat deutlich gemacht, dass es nukleare Drohungen kritisch sieht, und seither ist es auch aus Moskau relativ ruhig geworden. Aber auch die Sprengung des Damms war aus russischer Perspektive nicht besonders klug, weil man nun nicht mehr damit drohen kann, ihn zu sprengen. Nun kann Putin gar nichts mehr machen. Dass die Russen nun weitere Dämme im Süden gesprengt haben sollen, könnte ein Zeichen dafür sein, dass sie glauben, den Süden der Ukraine nicht dauerhaft besetzen zu können und sich zurückziehen müssen.

Und deswegen sprengen sie Staudämme?

Ja, weil sie damit die ökonomische Lebensgrundlage der Ukraine auf Jahre zerstören. Dann haben sie vielleicht einen langfristigen Plan, indem sie in zehn Jahren oder so das Land wieder angreifen.

Eine Taktik der verbrannten Erde.

Genau. Russland hat eine ganze Region damit unwirtschaftlich gemacht. Das Wasser hat Infrastruktur, Gebäude, Hab und Gut und nicht zuletzt die Heimat der Ukrainer und Ukrainerinnen zerstört und nun schwimmt dort auch noch Sprengstoff herum. Das macht es unwirtlich. Das ist Rache, Terror und folgt keinem politischen Ziel. Es liegt alles in Schutt und Asche.

Herr Mölling, vielen Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Christian Mölling
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