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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Krieg in der Ukraine "Putin will den Westen zugrunde richten"
Die Anzeichen verdichten sich: Die ukrainische Armee könnte schon bald ihre Gegenoffensive beginnen. Der Druck auf Russland und die Ukraine ist groß. Könnte Wladimir Putin nachgeben?
Die Anspannung in der Ukraine ist groß. Schon bald möchte die ukrainische Armee ihre Gegenoffensive beginnen, um weiteres Staatsgebiet von den russischen Invasoren zu befreien. Der Erfolgsdruck auf Kiew ist groß, denn die ukrainische Führung möchte nach den westlichen Waffenlieferungen beweisen, dass sie die modernen Systeme effektiv einsetzen kann. Aber wie groß sind die Aussichten auf Erfolg?
Kremlchef Wladimir Putin setzt darauf, dass er in dem Konflikt einen längeren Atem hat als der Westen und die Ukraine. Der Militär- und Russlandexperte Gustav Gressel nennt Gründe, warum der Westen einen Plan für die längerfristige militärische Unterstützung der Ukraine braucht und warum die russische Rüstungsproduktion nicht kollabieren wird.
t-online: Die Kämpfe im Ukraine-Krieg gehen weiter, trotzdem gibt es an den Fronten aktuell kaum Bewegung. Sind Sie nicht auch langsam kriegsmüde?
Gustav Gressel: Nein. Was sollen wir machen? Russland hat die Ukraine angegriffen, ein Kriegsende liegt nicht in meiner Hand.
Gustav Gressel
ist als Senior Policy Fellow bei der politischen Denkfabrik European Council on Foreign Relations (ECFR) tätig. Er beschäftigt sich in seiner Forschung schwerpunktmäßig mit den militärischen Strukturen in Osteuropa und insbesondere mit den russischen Streitkräften.
In den vergangenen Tagen gab es ukrainische Angriffe auch auf Ziele in Russland, aber die angekündigte Gegenoffensive hat noch nicht begonnen. Worauf wartet Kiew?
Die ukrainische Gegenoffensive ist in der Vorbereitungsphase. Es geht aktuell darum, die russischen Truppen an bestimmten Frontabschnitten zu binden und sie zur militärischen Verstärkung bestimmter Streifen zu zwingen. Die Ukraine möchte dafür sorgen, dass die russischen Reserven an falschen Stellen geparkt sind, bevor die Gegenoffensive beginnt. Aber vieles deutet darauf hin, dass es bald losgehen wird.
Zum Beispiel?
Zum Beispiel vermehrte Angriffe und größere Aktivitäten der Ukraine im Süden. Dass es Vorbereitungen gibt, ist eindeutig.
Die Ukraine profitierte bei ihrer Offensive im Spätsommer vom Überraschungseffekt. Warum hat Kiew seine Pläne dieses Mal öffentlich gemacht?
Im vergangenen Jahr wurde aber in den Medien vor allem die Offensive in Cherson durchgespielt und der ukrainische Angriff verlief dort weniger groß als erwartet. Wie erfolgreich die erwartete Gegenoffensive der Ukraine sein wird, hängt vor allem vom taktischen Geschick der ukrainischen Armee und auch vom Kriegsglück ab.
Das heißt?
Es lässt sich jetzt nur schwer vorhersagen, wie erfolgreich die Gegenoffensive sein wird. Die Ukraine hat auch das Problem, dass die Erwartungshaltung an den Angriff extrem hoch ist – im Westen und auch in der Ukraine selbst.
Kann sie dieser Erwartungshaltung gerecht werden?
Wahrscheinlich nicht. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Ukraine mit dieser Offensive ihr komplettes Staatsgebiet befreien kann. Aber sie könnte durch Geländegewinne die Front an einigen Stellen enorm verkürzen. Dann bräuchte die ukrainische Armee weniger Soldaten, die sie an der Front einsetzen muss, und das würde es ihr erleichtern, die gegenwärtige Kriegslast besser und länger zu tragen. Aber wir müssen abwarten, was passiert.
Aber bräuchte die Ukraine nun nicht auch größere Geländegewinne durch eine Offensive?
Die Ukraine will sich beweisen und zeigen, dass die westlichen Lieferungen von Kampf- und Schützenpanzern effektiv sind. Kiew möchte mit Blick auf die Zukunft weitere Unterstützung aus dem Westen rechtfertigen. Das erzeugt einen gewissen Erwartungsdruck. Aber die Streitkräfte stehen natürlich auch unter Druck, weil sie nach den Geschichten über Entführungen und Folterkeller der russischen Armee die eigene Bevölkerung in den besetzten Gebieten nicht im Stich lassen wollen.
Gleichzeitig muss die Ukraine auch im Blick behalten, dass sie ihre Waffensysteme nicht so schnell verschleißt. Sie bekam schließlich nicht viele Kampfpanzer aus dem Westen.
Genau. Es muss klar sein: Der Verschleiß von militärischem Gerät wird bei einer Gegenoffensive weiter steigen. Der Westen unterschätzt diesen Punkt ein wenig. Es gibt bei uns Bemühungen, auch Panzer für die Ukraine wieder flottzumachen, aber das kommt etwas spät. Doch besser spät als nie.
Wie stark ist die Ukraine denn aktuell?
Im Westen wird es oft so gesehen, dass wir mit den Panzerlieferungen die Kampfkraft der Ukraine gesteigert haben, aber es geht zunächst einmal darum, die ukrainischen Verluste und den Verschleiß zu kompensieren. Im Westen herrscht der Irrglaube vor, dass die ukrainische Armee durch die Lieferungen automatisch stärker werden würde. Dabei wird vergessen, dass der Nachschub an Panzern und Munition sowjetischer Bauart, die aus dem Westen kam, nahezu ausgetrocknet ist.
Hat der Westen denn einen Plan für langfristige Lieferungen von Panzern?
Gute Frage, ich hoffe es. Hinter den Kulissen scheint es so zu sein, dass Verteidigungsminister Boris Pistorius schon einiges in Gesprächen mit der Rüstungsindustrie anstößt. Aber in vielen Ländern und in vielen Hauptstädten gibt es leider keinen Plan.
Die Bundesregierung zieht bei den Waffenlieferungen für die Ukraine immer wieder rote Linien. Erst wollte man keine Waffen liefern, mit denen die ukrainische Armee Russland angreifen könnte, jetzt schließt man die Lieferung von Kampfjets aus. Ist das sinnvoll?
Nein. Ich habe diese roten Linien von Anfang an für falsch gehalten.
Warum?
Es ist keine gute Strategie, weil man Russland damit kommuniziert, wo es für die russische Armee sichere Zonen gibt. Außerdem gibt der Westen die Eskalationskontrolle ab, wenn er der Ukraine bestimmte Kapazitäten verwehrt.
Das müssen Sie erklären.
Wenn die Ukraine aus dem Westen Marschflugkörper mit größerer Reichweite bekommt, sichert Kiew zu, dass die Ukraine damit keine Ziele auf russischem Staatsgebiet angreift. Das ist die Bedingung. Aber gegenüber Russland könnte man deutlich machen, dass man diese Bedingung über Bord wirft, wenn die russische Armee bestimmte Dinge tut. Das ist ein Druckmittel gegenüber Putin. Diese Lieferungen würden also vielleicht Eskalationen verhindern, aber der Westen lässt sich hier aus Vorsicht in die falsche Richtung treiben.
Lassen Sie uns auf Russland blicken. Einige Militärökonomen prognostizierten, dass es bis Herbst durch den ausbleibenden Nachschub für Putins Armee eng werden könnte. Ist das realistisch?
Nein. Ich denke, dass die Russen wirtschaftlich noch zwei bis drei Jahre durchhalten könnten. Es ist aber schwer zu prognostizieren, weil sich andauernd etwas ändert.
Zum Beispiel?
Die russischen Raketenangriffe wurden zunächst weniger, weil durch die Sanktionen gegen Russland die Nachschubketten für die Produktion von Marschflugkörpern unterbrochen waren. Die russische Armee hatte ihre Lager leer geschossen und es wurde langsam weniger mit den Angriffen.
Und dann?
Die Engpässe konnten durch Substitutionen und durch Waffenschmuggel überwunden werden. So werden chinesische Komponenten verwendet. Die Russen sind dabei sehr kreativ und haben eine lange Tradition und viel Erfahrung darin, zum Beispiel mit Nordkorea oder dem Iran Sanktionen zu umgehen. Deswegen wäre ich immer vorsichtig mit Prognosen über die russischen Kapazitäten. Die Lage kann sich immer wieder ändern.
Nun schießt Russland auch wieder Iskander-Raketen auf ukrainische Städte. Einige Medien sahen es als ein Zeichen der Schwäche, dass nun diese strategisch wichtigen Raketen verwendet werden. Sehen Sie das ähnlich?
Nein. Russland hat schon zu Kriegsbeginn diese Raketen verschossen, aber die Bestände waren irgendwann leer. Doch jetzt hat man offenbar wieder Munition und die Produktionsengpässe anscheinend teilweise überwunden. Aber diese Raketen haben die höchste Priorität bei der russischen Rüstungsbeschaffung, und man kann sicherlich nicht von der Iskander- auf die Panzer-Produktion schließen. Die Ukraine und der Westen sollten allerdings erwarten, dass auch die Engpässe bei der Produktion von Kampf- und Schützenpanzern und bei der Beschaffung von Lenkwaffen überwunden werden. Auch da gibt es ähnliche Engpässe in Russland wie bei den Raketen.
Putin hält an seinen Kriegszielen fest, weil er davon ausgeht, dass Russland am Ende den längeren Atem haben wird. Geht sein Plan auf?
Leider besteht diese Möglichkeit. Putin hofft sicherlich auf Donald Trump und seinen möglichen Sieg bei der US-Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr. Auch beim Nachschub an Waffen und Munition scheint er zu glauben, dass Russland auf lange Sicht mehr produzieren kann als der Westen.
Kann Russland das?
Rheinmetall produziert zum Beispiel 24 Leopard-2-Panzer pro Jahr, die russische Kriegsproduktion soll jährlich 250 Kampfpanzer ausspucken können. Aktuell läuft diese Produktion durch die Lieferengpässe nicht, aber bis Anfang nächsten Jahres könnte Russland diese Probleme in den Griff bekommen. Ähnlich sieht das Missverhältnis bei der Produktion von Schützenpanzern und Artilleriemunition aus. Das steckt hinter Putins Kalkulation, und das wird ein bitteres Ringen für den Westen.
Putin wird nicht kriegsmüde?
Das sollte man nicht unterschätzen: Putin will den Westen zugrunde richten, da spricht der Sowjet in ihm. Er rechnet damit, dass der Kapitalismus an seinen inneren Widersprüchen zugrunde geht und dass der Westen in diesem Konflikt irgendwann das Handtuch werfen wird.
Aber innerhalb des russischen Machtzirkels gibt es Unstimmigkeiten, zum Beispiel durch die Beschimpfungen von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin gegen die Militärführung. Wie hoch ist gegenwärtig der politische Druck auf Putin?
Prigoschin hat seit einem Jahr nicht mehr mit Putin gesprochen und fühlt sich zunehmend an den Rand gedrängt. Mit derartigen Aussagen versucht er sich wieder in den Vordergrund zu drängen.
Prigoschin spricht öffentlich von einer Revolution, und immerhin soll er 80.000 Kämpfer in seiner Söldnertruppe befehligen. Er scheint demnach schon Einfluss zu haben.
Ich frage mich auch, warum Prigoschin noch nicht aus einem Fenster gefallen ist. Aber es gibt in Russland einen Raum für Akteure aus dem national-patriotischen Lager, um die Armeeführung und Teile der Regierung zu kritisieren. Prigoschin greift Putin nie direkt an, er kritisiert die Eliten, die Beamten und stellt sich vor den einfachen Soldaten. Er wandelt auf einem schmalen Grat, den russischen Präsidenten nicht anzugehen, aber den Rest des Systems anzugreifen. Putin lässt diesen Streit zu, solange er darüberstehen kann.
Schaden diese Streitereien nicht der Kampfmoral und dem Vertrauen der russischen Soldaten in ihre Führung?
Die Soldaten an der Front verfolgen solche Nachrichten wahrscheinlich nicht. Sie haben mit anderen Problemen zu kämpfen, der unmittelbaren Lebenserhaltung zum Beispiel. Sie sehen die Missstände in ihrer Armee, aber das ist für sie nichts Neues.
Also sitzt Putin politisch immer noch fest im Sattel?
Aus Moskau bekommt man momentan keine Informationen, aber ich würde nicht vom Gegenteil ausgehen.
Vielen Dank für das Gespräch, Herr Gressel.
- Gespräch mit Gustav Gressel