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Belarus: "Lukaschenko will Annexion um jeden Preis verhindern"


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Droht russische Übernahme?
"Lukaschenko will Annexion um jeden Preis verhindern"

InterviewVon Camilla Kohrs

Aktualisiert am 22.02.2023Lesedauer: 6 Min.
Der belarussische Machthaber Lukaschenko mit Kremlchef Putin: Ein nun bekannt gewordenes Strategiepapier entwirft ein Szenario, wie Russland sich das Nachbarland einverleiben könnte.Vergrößern des Bildes
Der belarussische Machthaber Lukaschenko mit Kremlchef Putin: Ein nun bekannt gewordenes Strategiepapier entwirft ein Szenario, wie Russland sich das Nachbarland einverleiben könnte. (Quelle: Vladimir Astapkovich/imago-images-bilder)

Plant Russland die heimliche Übernahme des Nachbarn Belarus? Das zeigt ein nun veröffentlichtes Strategiepapier aus dem Kreml. Osteuropa-Experte Boris Ginzburg warnt trotzdem davor, das Papier überzubewerten.

Russland will offenbar bis 2030 heimlich sein Nachbarland Belarus übernehmen. Das geht aus exklusiv veröffentlichten Dokumenten hervor, die aus der Moskauer Präsidialverwaltung stammen sollen und über die unter anderem die "Süddeutsche Zeitung" berichtete.

Das russische Ziel ist darin klar definiert: Schritt für Schritt will der Kreml demnach seinen Einfluss in Politik, Wirtschaft, Bildung und Kultur ausbauen, um das Land schließlich vollständig zu kontrollieren. Mehr dazu lesen Sie hier.

Osteuropa-Experte Boris Ginzburg warnt allerdings davor, dieses Papier überzubewerten. Warum und was sich der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko von einer solchen schleichenden Annexion hält, erklärt Ginzburg im Interview.

t-online: Herr Ginzburg, überrascht Sie, dass Russland solche Pläne schmiedet?

Boris Ginzburg: Das überrascht mich nicht. Die schleichende Annexion ist schon lange ein Thema und gerade seit der Invasion in die Ukraine ist viel deutlicher geworden, wie abhängig Belarus von Russland ist. Ich finde aber sehr interessant, dass das Dokument offenbar auf höchster Ebene entworfen worden wurde, und zwar unter Federführung von Alexej Filatow. Er ist der Leiter der Präsidialabteilung für grenzüberschreitende Kooperation und hat schon nach 2014 eine wichtige Rolle in den selbsternannten Volksrepubliken im Osten der Ukraine gespielt sowie in den seit 2008 abtrünnigen georgischen Regionen Abchasien und Südossetien. Er hat also Erfahrung darin, fremde Territorien zu verwalten. Allerdings warne ich auch davor, die Bedeutung dieses Plans zu überschätzen.

Weshalb?

Man kann sich die russische Außenpolitik so vorstellen: Das Außenministerium hat, einfach gesagt, für jedes Land eine Art Akte und darin liegen unterschiedliche Szenarien für alle denkbaren Entwicklungen in der Zukunft. Ich glaube, dass es sich bei dem Papier um eines der möglichen Szenarien handelt und nicht das eine Szenario für Belarus ist. Es könnte also nur ein kleiner Ausschnitt aus einem größeren Kontext sein. Zudem kann es auch gut sein, dass ein solches expansionistisches Strategiepapier lediglich von Einzelnen entwickelt worden ist, um sich bei Putin mit seinen imperialistischen Sichtweisen einzuschleimen. Es stammt mutmaßlich aus dem Sommer 2021, genau in der Zeit erschien auch Putins berüchtigter Aufsatz, in dem er der Ukraine die Staatlichkeit absprach. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass das Papier fast zwei Jahre alt ist. Seitdem hat sich viel verändert.

Sie meinen durch die Invasion in der Ukraine?

Genau. Russland hielt seine Armee damals für unbesiegbar und auch im Westen gingen viele Beobachter davon aus, dass die Ukraine einen russischen Angriff nicht überstehen wird. Im Laufe des Kriegs in der Ukraine hat Russland aber deutlich an Macht eingebüßt. Für viele postsowjetische Länder war die Invasion ein Warnsignal: heute die Ukraine, morgen wahrscheinlich wir. Sie treten nun deutlich kritischer gegenüber Russland auf, wie der tadschikische Diktator Emomalij Rahmon. Er hat sich auf einem russisch-zentralasiatischen Regierungsforum öffentlich beschwert, dass Russland sein Land schlecht behandele. Man traut sich nun, offen Kritik zu äußern, alte Wunden anzusprechen.

Der belarussische Machthaber allerdings inszeniert sich gern mit Putin.

Man darf die Beziehung zwischen Russland und Belarus aber auch nicht überschätzen. Gerade Lukaschenko misstraut Putin sehr. Er versucht immer wieder, in beide Richtungen Kontakt zu halten: Er flirtet mit Russland, aber auch mit dem Westen. Wenn die Abhängigkeit von Russland zu groß wird, wendet er sich wieder dem Westen zu. Dann verbessern sich die Beziehungen, der Westen fordert politische Reformen für mehr Demokratie. Darauf will Lukaschenko nicht eingehen, dann ist Russland wieder der Gute. Das sieht man auch jetzt noch, trotz des Kriegs in der Ukraine.

Zum Beispiel?

Belarus hat der Ukraine erlaubt, Getreide über das eigene Staatsgebiet nach Litauen zu transportieren. Hinter den Kulissen finden also offenbar Gespräche statt. Der ungarische Außenminister reiste zudem vor ein paar Tagen als erster hochrangiger Politiker aus einem EU-Staat nach der gefälschten Präsidentschaftswahl in Belarus vom Sommer 2020 nach Minsk zu Gesprächen. Lukaschenko signalisiert dem Westen auch immer wieder, dass er bereit wäre zu vermitteln, was die Ukraine allerdings nie annehmen würde. Am ukrainischen Unabhängigkeitstag vergangenen Sommer hat er dem Präsidenten Wolodymyr Selenskyj eine Nachricht geschickt, ihm gratuliert und ihm einen "ruhigen Himmel" gewünscht. Das zeigt, dass er weiterhin auf eine multivektorale Außenpolitik setzt und versucht, die Abhängigkeit von Russland zu minimieren. Allerdings klappt es nicht mehr so gut wie früher, weil dieses Mal Belarus dabei geholfen hat, eine Invasion in die Ukraine zu starten.

(Quelle: privat)

Der Politikwissenschaftler Boris Ginzburg forscht an der Freien Universität Berlin im Arbeitsbereich Politik des Osteuropa-Instituts. Sein Fokus liegt auf autoritäre Politik im postsowjetischen Raum sowie der Erforschung politischer Auswirkungen von Sanktionen.

Die EU hat Lukaschenko bereits 2020 verärgert. Damals hatte es massive Wahlfälschungen gegeben, Proteste dagegen ließ er brutal niederschlagen, die EU verhängte Sanktionen. Hat er sich an dem Punkt zu abhängig von Russland gemacht?

Auf jeden Fall. Putin hat damals seine Bereitschaft signalisiert, im Notfall und auf Anfrage von Lukaschenko russische Polizeieinheiten in das Land zu schicken und damit Lukaschenkos Macht zu sichern. Die Frage war: Was hat Putin dafür verlangt? Ich war mir damals sehr sicher, dass Putin Zugriff auf die südliche Grenze von Belarus bekommen will – also die zur Ukraine. Eineinhalb Jahre später ist das dann tatsächlich geschehen, als russische Truppen von dort aus in die Ukraine einmarschierten. Ich vermute aber, dass Belarus nicht selbst Truppen in diesen Krieg schicken wird.

Was macht Sie da so sicher?

Das Verhältnis zwischen Lukaschenko und seiner Armee ist angespannt. Das kennen wir aus der Forschung: Gerade personalisierte Autokratien, wie zurzeit Belarus und Russland, sind anfällig für Militärputsche. Lukaschenko misstraut den Militärs und hat während seiner 29 Jahre dauernden Regentschaft versucht, das Militär möglichst kleinzuhalten und stattdessen einen starken Sicherheitsapparat aufgebaut. Für einen Einsatz also müsste Lukaschenko seine Armee zunächst modernisieren. Dadurch aber würde ihr Drohpotential gegenüber Lukaschenko selbst wachsen. Zudem will er nicht riskieren, dass die Einheiten in der Ukraine Kampferfahrung sammeln und somit wieder an Drohpotential zunehmen.

Mit Blick auf das mutmaßliche Strategiepapier kann man also festhalten: Lukaschenko ist zwar ein enger Verbündeter Putins, aber die Aufgabe der Souveränität dürfte kaum in seinem Sinne sein.

Lukaschenko will eine Annexion um jeden Preis verhindern. Es gibt ein schönes Sprichwort im Russischen: Ich bin lieber der erste in meinem Dorf, als der zweite in einer Stadt. Das passt auch für Lukaschenko: Er ist lieber Machthaber in Belarus, als – überspitzt gesagt – ein kleiner Gouverneur in einem "Großrussland".

Welche Asse hat er denn im Ärmel?

Unter anderem der Kanal zum Westen. Die Beziehungen sind zwar nicht gut, aber der Westen hat ein großes Interesse daran, das Land nicht zu destabilisieren. Man hat lieber einen Diktator in der Nachbarschaft, der noch eigenständig regiert, als einen, der vollkommen unter der Kontrolle des Kremls steht. Zumal Belarus an einer so für die NATO-Staaten sensiblen geopolitischen Stelle liegt wie der sogenannten Suwalki-Lücke (mehr dazu lesen Sie hier). Zudem betont er seit ein paar Jahren immer wieder, wie gut seine Beziehungen zu China sind. Da ist auch ein Blick auf die kleinen Gesten wichtig: Lukaschenkos Sohn etwa musste angeblich auf seinen Wunsch sogar Mandarin lernen.

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Bemerkenswert an dem Strategiepapier ist, dass es stark auf die Kultur abzielt: Die russische Sprache soll in Belarus dominant werden, man will prorussische Einflussgruppen schaffen und nationalistische und prowestliche Kräfte eingegrenzen. Das liest sich wie ein Angriff auf die eigenständige belarussische Identität.

Das ist wahrscheinlich der einzige Punkt in dem Papier, den Lukaschenko befürwortet. Er macht alles, um das belarussische kleinzuhalten, wie den Nationalstolz oder die Sprache. Die alte weiß-rot-weiße Flagge, die auch auf den Demonstrationen 2020 immer wieder gezeigt wurde, ist mittlerweile verboten. Allerdings sind die Motive andere. Lukaschenko unterdrückt die Kultur, um besser regieren zu können und Russland will die Kultur unterdrücken, um das Land besser einnehmen zu können. Allerdings muss man auch feststellen, dass Russland bislang mit seinen Bemühungen, die Bevölkerung zu beeinflussen, nicht allzu erfolgreich war.

Inwiefern?

Russland hat 2020 viele Medienexperten nach Belarus geschickt, die Lukaschenkos Machterhalt auf medialer Ebene flankieren sollten und gleichzeitig in eine prorussische Richtung lenken sollten. Der Grund lag darin, dass viele Mitarbeiter der belarussischen Staatsmedien sich während der Proteste 2020 mit den Demonstranten solidarisierten und ihre Arbeit niederlegten. Man kann sich sicher sein, dass einige dieser russischen Medienexperten noch immer da sind. Gerade die ältere Bevölkerung schaut noch die Staatsmedien, und somit auch diese Propaganda. Die jüngere aber sieht sich diese Medien nicht an und verlässt sich mehr auf unabhängige Quellen im Internet. Auch das zeigt: Man sollte die Versuche Russlands in Belarus nicht unterschätzen, aber eben auch nicht überschätzen.

Verwendete Quellen
  • Gespräch mit Boris Ginzburg am 21. Februar
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