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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Merkel im EU-Parlament Die Kanzlerin sucht das Gleichgewicht
Angela Merkel präsentiert ihren Plan für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft: Sie versucht, einen Mittelweg zu finden zwischen Europa-Euphorie und effektiver Politik. So will sie den Staatenbund in der Krise einen.
Um kurz nach halb Drei an diesem Mittwochnachmittag wirkt Angela Merkel, als wäre sie nicht mehr sie selbst: Die Kanzlerin, die sonst politische Phrasen im angelsächsisch-nüchternen Stil drechselt, erzählt offen wie selten von sich selbst und holt nebenbei mit großem Pathos aus.
Merkel spricht über Beethovens "Ode an die Freude", die Europahymne: "Bei jedem Hören entdecke ich etwas anderes in der Musik, das mich trifft und beeindruckt. So wie Europa auch: Es lässt sich immer wieder neu entdecken und es beeindruckt mich immer noch." Kurz darauf gibt es Standing Ovations von den Europaabgeordneten, und auch Ursula von der Leyen, die EU-Kommissionschefin, lächelt. Man erkennt es trotz Schutzmaske.
Merkel sprach heute im Europäischen Parlament, es ist die erste Auslandsreise für die Kanzlerin seit dem Beginn der Corona-Pandemie. Der Anlass war die Verkündung ihres Plans für die frisch angebrochene deutsche EU-Ratspräsidentschaft. In den nächsten sechs Monaten wird Deutschland den Staatenbund lenken, die EU stehe vor der größten wirtschaftlichen Herausforderung ihrer Geschichte, sagte Merkel vor wenigen Tagen.
Das Gleichgewicht zwischen den Polen finden
Die Corona-Krise hat den Kontinent schwer getroffen. An den Ländergrenzen wurden Kontrollen teilweise wieder eingeführt, besonders die südeuropäischen Länder sind betroffen mit hohen Todeszahlen, zudem leidet dort die Wirtschaft. Das ist die Lage, als Merkel am Mittwoch vor dem Europäischen Parlament fünf Säulen aufrichtet, die das Gerüst für ihre Ratspräsidentschaft bilden sollen. Merkel nennt sie: "Grundrechte", "Zusammenhalt", "Klimaschutz", "Digitalisierung" und "Europas Verantwortung in der Welt".
Und in ihrer Rede zeichnete sich bereits ab, wie sie in den nächsten Monaten wird abwägen müssen: Zwischen illusionsfreier Politik im Umgang mit einigen europäischen Staaten, dem Verschweißen des Zusammenhalts des Staatenbunds und welcher Preis dafür gezahlt werden soll. Merkel wirkt dabei wie eine Turnerin, die das Gleichgewicht zwischen diesen Polen gerade versucht zu finden – und es dann halten muss. Ein politischer Spagat.
Die Bundeskanzlerin fing damit gleich im ersten Punkt ihrer Rede an: Bei den Grundrechten wies Merkel darauf hin, dass man diese nicht "aushebeln" dürfe, und dafür eine Pandemie als Vorwand ins Feld zu führen. Es ist kein Zufall, dass Merkel das betont, in den letzten Wochen wurden ihre Spannungen zu den Regierungen von Ungarn und Polen deutlich.
"Wir dürfen keine Zeit verlieren"
Dort wurden verschiedene Grundrechte in der Pandemie extrem reduziert und Gesetze erlassen, die Menschenrechte grundlegend einschränkten. Merkels Redebeginn war also ein Warnschuss an Staatenlenker, die sich gern als Autokraten fühlen würden. Dennoch: Konkrete politische Konsequenzen, falls die Grundrechte nicht wieder eingeführt werden, kündigte Merkel nicht an.
Der größte Streitpunkt innerhalb der Europäischen Union ist dann Merkels zweiter Agendapunkt, von ihr mit dem Wort "Zusammenhalt" tituliert. Doch im Moment gibt es wenig Zusammenhalt, sondern reichlich Streit, denn es geht um viel Geld. Merkel und Macron hatten einen 500 Milliarden schweren Wiederaufbaufonds für Europa vorgestellt.
Damit sollen besonders die Staaten unterstützt werden, die sehr von der Krise betroffen sind. Merkel sagte dazu am Mittwoch: "Wir dürfen keine Zeit verlieren, darunter würden nur die Schwächsten leiden", ein solidarischer Satz, wieder ein Bekenntnis zu Europa.
Die EU-Kommssionschefin von der Leyen will sogar ein Finanzpaket von 750 Milliarden Euro. Doch schon jetzt regt sich Widerstand. Die "Sparsamen Vier" sind gegen solche hohen Investitionen: Österreich, Schweden, Dänemark und die Niederlande sind aktuell noch sehr skeptisch.
Nun stehen die Fragen im Raum: Was davon soll ein Zuschuss für die Länder sein, was ein Kredit, der zurückgezahlt werden muss? Um auch diese vermögenderen Länder zu versöhnen, sagte Merkel, dass man die finanzstärkeren Mitgliedsstaaten jedoch nicht überproportional belasten dürfe.
Merkel will aber nicht nur aus reiner Solidarität den anderen Europäern helfen. Hinter ihrem Aufruf für Zusammenarbeit steckt auch die Sorge, dass deutsche Exportmärkte in den anderen EU-Ländern wegbrechen, und die Wirtschaft der Bundesrepublik leiden wird.
Nachdem bei den ersten beiden Punkten von Merkel eher nüchterne Akzepte gesetzt wurden, ging es beim Klimaschutz wieder mit Europa-Euphorie weiter: Merkel erinnerte an den von Ursula von der Leyen vorgestellten "Green Deal", sie plädierte dafür "nachhaltig zu wirtschaften" – und verstehe dennoch auch die "Ängste, die das auslöse". Trotzdem sei der Umweltschutz wichtig.
Als sie auf ihre vierte Säule, die Digitalisierung zu sprechen kommt, brandet zum ersten Mal während ihrer Rede Applaus auf. Merkel erklärt, mit "Lüge und Desinformation" lasse sich die Pandemie nicht bekämpfen: "Dem faktenleugnenden Populismus werden seine Grenzen aufgezeigt."
Es könnte ein hässliches Ende der Briten in der EU werden
Den deutlichsten Akzent, der wenig mit europäischer Gemeinschaft zu tun hat, setzte Merkel in ihrem letzten Schwerpunkt. Beim Thema "Europas Verantwortung in der Welt“" sprach sie offen davon, dass man einen harten Brexit – also dass es kein Abkommen mit Großbritannien gibt – mit einkalkulieren müsse.
Ohne ein solches Abkommen, für das die Frist im Dezember 2020 ausläuft, drohen hohe Strafzölle und wohl eine extreme Unterbrechung der Lieferketten zwischen Großbritannien und der Europäischen Union. Dass Merkel das nicht nur für möglich hält, sondern auf solch großer Bühne anspricht, ist ein deutliches Signal. Es könnte ein hässliches Ende der Briten in der EU werden.
Zwei Jahre nach Beginn ihrer Kanzlerschaft war der erste, europäische Erfolg von Merkel
Es ist eine gewaltige Aufgabe, die Merkel da angetreten hat. Sie ist länger im Amt als die Staatschefs von Spanien, Italien, Frankreich und Polen zusammen, entsprechend hoch sind die Erwartungen. Und die Bundesrepublik ist der finanzstärkste und größte Mitgliedsstaat, für etliche EU-Bürger ruhen die Hoffnungen nun auf Deutschland.
Die letzte EU Ratspräsidentschaft absolvierte Merkel im Jahr 2007, als sie seit zwei Jahren Kanzlerin war. Damals war der geplante EU-Verfassungsvertrag gerade bei Volksabstimmungen in Frankreich und den Niederlanden durchgerasselt. Merkels erstes Projekt war dann, die wichtigsten Inhalte aus dem Vertrag in den Vertrag von Lissabon zu schreiben, der kurz darauf auch angenommen wurde. Es war ihr erster, europäischer Erfolg.
Nun hat sie die Chance, am Ende ihrer Kanzlerschaft erneut den Kontinent zu einen, die Aufgaben sind gewaltig. Die nächste wartet schon in neun Tagen: Am 17. Juli treffen sich die Staats- und Regierungschefs, es wird weiter über die finanziellen Hilfen verhandelt. Und bereits vorab wurde aus Brüssel bekannt, dass die Verhandlungen sich über den eigentlich geplanten Zeitrahmen hinaus ziehen könnten. Merkel gab sich in ihrer Rede dennoch optimistisch: "Ich bin überzeugt von Europa – nicht nur als Erbe der Vergangenheit – sondern als Hoffnung und Vision für die Zukunft."
- Eigene Recherche