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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutsche EU-Ratspräsidentschaft Auf Merkel warten Europas sieben Baustellen
Deutschland übernimmt ab Juli die EU-Ratspräsidentschaft. Corona, Klimakrise, Brexit: So viele drängende Themen hat es wohl selten auf einmal gegeben. Der Druck auf die deutsche Politik ist riesig.
Schon vor der Corona-Pandemie war klar, dass die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ab 1. Juli pickepackevoll sein würde mit großen Themen: Brexit, Klimakrise, die Verhandlungen über die finanzielle Ausstattung der EU in den kommenden Jahren, das Verhältnis zu China, USA und Russland sowie die Migration nach Europa. All das wird jetzt von der Corona-Krise in den Schatten gestellt. Deutschland geht es vorrangig darum, den Schaden der Pandemie so klein wie möglich zu halten.
Zusammen mit Slowenien und Portugal bildet die Bundesregierung einen sogenannten Dreiervorsitz: Ab 1. Juli hat Deutschland zum ersten Mal seit 13 Jahren die Präsidentschaft inne, ab Januar folgt Slowenien und ein halbes Jahr später Portugal. Gleichzeitig wollen sich die Regierungen der drei Länder bis Ende 2021 eng absprechen und in Arbeitsgruppen gemeinsame Positionen erarbeiten. Die EU-Ratspräsidentschaft leitet die Treffen der Staats- und Regierungschefs und vertritt die Mitgliedsstaaten sowohl international als auch gegenüber den EU-Institutionen.
Für Kanzlerin Angela Merkel geht es in den sechs Monaten auch um ihr außenpolitisches Vermächtnis, bevor sie sich nach der Bundestagswahl 2021 zurückzieht. Aber die politischen Baustellen in Europa sind groß, eigentlich zu groß für ein halbes Jahr. Ein Überblick:
I. Corona-Krise
Um die europäische Wirtschaft wieder zum Laufen zu bekommen, hat die EU-Kommission einen 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds vorgeschlagen. Zwei Drittel davon sollen über Zuschüsse an stark von der Pandemie betroffene Länder wie Italien und Spanien fließen, die nicht zurückgezahlt werden müssten. 250 Milliarden Euro sollen als Kredite vergeben werden. Dagegen gibt es aber teilweise noch Widerstand, unter anderem von Österreich und den Niederlanden, die sich mit Schweden und Dänemark zu den selbst ernannten "Sparsamen Vier" zählen. Sie bevorzugen den Weg über Kredite.
Deutschland und Frankreich haben einen gemeinsamen Vorschlag präsentiert: Ein 500-Milliarden-Fonds soll die Wirtschaft wieder ankurbeln. Das Geld soll von der EU-Kommission als Kredite am Kapitalmarkt aufgenommen und anschließend über den EU-Haushalt ausbezahlt werden.
Gemeinsame EU-Kredite, das ist ein absolutes Novum. Dagegen hatte auch die deutsche Bundeskanzlerin sich lange gesträubt. Dass sie nun doch zugestimmt hat, liegt an der historischen Tragweite der Corona-Krise. Der deutsch-französische Schulterschluss zeigt aber auch: Hier wollen sich zwei Partner wieder enger miteinander abstimmen, sie könnten – wie in den frühen Tagen der Union – zum Motor der EU werden. Kommissionschefin Ursula von der Leyen befürwortet den Entwurf, er ähnelt dem Kommissionspapier. Zum 1. Januar 2021 soll der Fonds starten.
Die Einzelheiten des Pakets sind das eine. Wer das Geld überhaupt bekommen soll, ist das andere. Denn im Europäischen Parlament werden die Stimmen lauter, die schon lange fordern, Länder finanziell einzuschränken, die sich nicht an die rechtsstaatlichen Prinzipien der EU halten. Bereits in den Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen, der den EU-Haushalt von 2021 bis 2027 regelt und festlegt, wie viel Geld in der Kasse sein wird, haben viele Politiker einen sogenannten Rechtsstaatsmechanismus verlangt – wer nicht spurt, dem werden Gelder gekürzt oder gestrichen.
Das betrifft vor allem Polen mit dem fragwürdigen Umbau seines Justizwesens sowie Ungarn, das Minderheiten diskriminiert, freie Medien angreift und ebenfalls das Justizsystem nach Belieben von Ministerpräsident Viktor Orban umkrempelt. Durch Corona geht es nun nicht mehr nur um den regulären EU-Haushalt, sondern auch um die Wirtschaftshilfen.
Dabei wird auch darüber gestritten, wofür die Sonderhilfen eingesetzt werden dürfen. Die EU will das Geld nur für innovative Projekte lockermachen, etwa Investitionen in klimafreundliche Neuwagen und Bahnstrecken. Die Mitgliedsstaaten dagegen wollen selbst entscheiden, wie sie die Konjunktur ankurbeln.
Im Bundesfinanzministerium hofft man wohl auf eine Einigung noch im Juli. Am 17. Juli kommen die Staats- und Regierungschefs zu dem Thema zusammen. Selbst wenn sie sich auf einen Kompromiss verständigen – danach müssen immer noch alle Parlamente der Mitgliedsstaaten zustimmen. Eile ist also geboten. Zumal bereits das nächste Problem wartet:
II. Brexit
Am 31. Dezember läuft eine Frist ab, vor der sich viele fürchten. Großbritannien wird die Europäische Union endgültig verlassen, ob mit oder ohne Abkommen. Erst vor Kurzem haben die Briten klargestellt, dass sie keine Verlängerung der Übergangsphase oder der Verhandlungen wünschen. Auch Brüssel lehnt das ab. Während sie sich auf der Insel unbekümmert geben und manche es fast auf einen "harten Brexit", also ohne jegliches Abkommen, anlegen, will die EU das unbedingt verhindern.
Deswegen drücken die Europäer jetzt aufs Tempo und wollen sich in kürzeren Abständen mit den britischen Verhandlern treffen. Schon Anfang des Jahres schien der Wust an Streitpunkten binnen elf Monaten unbezwingbar: Fischereirechte, Zugang zum EU-Binnenmarkt, Rechte von EU-Bürgern in Großbritannien. Außerdem wird über Gesundheits-, Verbraucher- und Umweltschutzstandards gestritten. Gleichzeitig hat Angela Merkel die Erwartungen an die Gespräche gedämpft. Die Regierung von Premierminister Boris Johnson wolle selbst festlegen, welche Stellung das Land zur EU haben wolle. "Sie muss dann natürlich auch mit den Folgen leben – also mit einer weniger eng verflochtenen Wirtschaft." Klar ist: Es dürfte ein heißer Brexit-Herbst werden.
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III. Migration
Die Bilder von Kindern in Schlauchbooten in der Ägäis sind unerträglich, ebenso wie die von den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln. Seit Jahren ändert sich nichts an den Missständen, und es kommen stetig mehr Menschen dort an als wieder gehen. Die Migranten sind seit dem EU-Türkei-Flüchtlingsdeal zum Druckmittel für den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan geworden – regelmäßig droht er, die Grenzen nach Europa zu öffnen. Gleichzeitig sind die Migranten auch eine innenpolitische Belastung für Erdogan, gerade in der Wirtschaftskrise.
Derzeit lautet die Devise der EU vor allem: Abschreckung. Die Grenzschutzbehörde Frontex geht mit Härte gegen Migranten vor. Es kursieren Bilder von Flüchtlingen, die von der griechischen Küstenwache auf einer Rettungsinsel im Meer ausgesetzt und sich selbst überlassen wurden. Dass es so nicht weitergehen kann und die Leitlinien der Migration nach Europa neu festgelegt werden müssen, leuchtet nicht nur Menschenrechtsorganisationen, sondern auch vielen Politikern ein.
Manfred Weber, der als Christdemokrat Vorsitzender der konservativen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament ist, räumte in der "Zeit" ein Scheitern der EU in der Flüchtlingspolitik ein: "Die Bilder, die uns erreichen, sind des Europas, das wir uns wünschen, nicht würdig."
Bundesinnenminister Horst Seehofer, Webers Parteifreund, rechnet in den kommenden Monaten mit einem erneuten Anstieg der Migrantenzahlen, wie er Ende Juni bei einer Pressekonferenz sagte. Die EU-Kommission will in den nächsten Wochen einen Vorschlag für ein neues europäisches Asyl- und Flüchtlingsrecht präsentieren – gestützt vom deutschen Innenminister, der das Thema ganz nach oben auf die Agenda hebt. Für alle, die in den Lagern an den europäischen Außengrenzen ausharren, wäre eine schnelle Neuregelung wichtig. Doch wer sich an die langwierigen Verhandlungen mit der Türkei und die Weigerung vieler europäischer Staaten, Flüchtlinge aufzunehmen, erinnert, dürfte wissen: Das wird dauern.
IV. Klimakrise
Werden die Politiker den Elan und die Entschlossenheit, die sie in der Corona-Krise an den Tag gelegt haben, nun auf eine ebenso große Herausforderung ummünzen? Die Klimakrise ist wegen Corona ein wenig in Vergessenheit geraten. Aber nichts von ihr ist gelöst. Ursula von der Leyen hat 2019 den europäischen "Green Deal" angeschoben, mit dem Ziel, dass die EU bis 2050 nicht mehr Treibhausgase ausstößt, als der Atmosphäre entzogen werden. Fossile Energieträger sollen teurer werden, Land- und Forstwirtschaft nachhaltiger. Verkehr, Handel und Industrie sollen sich mehr anstrengen, um die angepassten Klimaziele der jeweiligen Länder zu erreichen.
Brüssel will die 750 Milliarden Euro des Corona-Pakets nun auch nutzen, um Europa grüner zu machen, und macht dazu strenge Vorgaben. Corona und Klimakrise gehen jetzt Hand in Hand. Weil die Verteilung des Geldes zuerst in die deutsche EU-Ratspräsidentschaft fällt, sind die Erwartungen groß: Der Wiederaufbau der Wirtschaft müsse nachhaltig gestaltet werden, forderte etwa der Sozialdemokrat Frans Timmermans. Sonst verpasse man Chancen, die man nicht wieder bekomme.
Solche Sätze hört die Bundesregierung auch in Deutschland. So hat der Druck der Grünen auf die Bundesregierung nicht nachgelassen. In Umfragen liegen sie bei rund 20 Prozent, sie könnten der nächste Koalitionspartner der Union werden. Bei ihren klimapolitischen Forderungen bleiben die Grünen hart – und dürften sich genau anschauen, wie die Bundesregierung den "Green Deal" während der EU-Ratspräsidentschaft vorantreibt.
V. Außenpolitik I: Was ist mit China?
Die Beziehungen zu den USA sind seit der Amtszeit Donald Trumps merklich abgekühlt. Deswegen will die EU verstärkt China als Partner, aber auch als Rivalen in den Blick nehmen. Wirtschaftlich sind die Chinesen schon längst in Europa angekommen. Sie kontrollieren den griechischen Hafen Piräus, Ungarn baut mit chinesischer Hilfe eine Bahnstrecke von Belgrad bis nach Budapest. Für die europäischen Autobauer ist der chinesische Absatzmarkt essenziell.
Auf politischer Ebene gibt es aber ein großes Hindernis: Die Chinesen pflegen eine Autokratie unter der Führung von Staatschef Xi Jinping. Demokratie, Menschenrechte, faire Gerichtsprozesse, Meinungsfreiheit – all das, wofür die EU stehen will und was sie von den eigenen Mitgliedsstaaten einfordert, sucht man in China vergeblich. Man denke nur an brutal niedergeschlagene Demonstranten oder die geheimen Gefangenenlager für die Minderheit der Uiguren. Zuletzt gab es Zweifel an der offiziellen Darstellung der Corona-Krise in China – und Ärger über die Unterstellung, der jüngste Ausbruch auf einem Großmarkt in Peking sei auf ein Coronavirus aus Europa zurückzuführen. Nun sucht Europa nach einem Weg, sich der Volksrepublik anzunähern, ohne die eigenen Werte zu verraten.
Bundeskanzlerin Merkel wünscht sich einen "offenen Dialog", bei dem ein Investitionsabkommen verhandelt sowie über den Klimaschutz und die "gemeinsame Rolle in Afrika" gesprochen werden soll. Hilfreich wäre eine einheitliche Linie Brüssels. Doch es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Mitgliedsländer nicht auf einen außenpolitischen Kurs einigen können.
VI. Außenpolitik II: Amerika, es ist kompliziert mit dir
Angela Merkel würde es niemals öffentlich so sagen, aber man kann sich denken, dass sie ihre Hoffnung bei den anstehenden US-Präsidentschaftswahlen im November auf Donald Trumps demokratischen Herausforderer Joe Biden setzt. Das europäisch-amerikanische Verhältnis hat sich in den vergangenen Jahren extrem verschlechtert. Trump beschwert sich über fehlenden (auch finanziellen) Einsatz der Europäer bei der Nato. Der Handelsstreit verhärtete die Fronten. Die Europäer wissen mit Trumps erratischen Tweets nichts anzufangen. Sein zunächst sorgloser Umgang mit der Corona-Krise hat für Kopfschütteln gesorgt, ebenso wie der Rückzug der USA aus der Weltgesundheitsorganisation. Jetzt will er einen Teil der US-Truppen aus Deutschland abziehen und eventuell nach Polen verlegen. Ob das nur eine weitere fixe Idee Trumps ist oder tatsächlich umgesetzt wird, ist offen. Fest steht wohl nur, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs in Washington im Moment nicht mehr den verlässlichen Partner sehen, der es einmal war.
VII. Deutschland, wohin willst du mit Europa?
Europa kämpft mit einer Richtungsentscheidung. Angela Merkel hat in ihrem Statement zur Ratspräsidentschaft Ende Mai angekündigt, Europa nach innen zu stärken, um nach außen als "solidarischer Stabilitätsanker" auftreten zu können. Der Kampf um inneren Zusammenhalt ist nicht neu, im Grunde begleitet er die EU seit ihrer Entstehung. Und trotzdem ist es seit der Corona-Krise anders. Die Pandemie hat viele Länder dazu gebracht, sich zunächst abzuschotten. Grenzen dicht, regional beim Bauern einkaufen, Kritik an empfindlichen globalen Lieferketten, Schuldzuweisungen im Umgang mit dem Virus, aggressiver Wettkampf um die letzten Masken und Desinfektionsmittel.
Doch gleichzeitig erlebt Europa eine neue Welle der Hilfsbereitschaft: Covid-19-Patienten werden aus Italien in deutsche Krankenhäuser geflogen. Die EU schafft einen gemeinsamen Vorrat an Beatmungsgeräten, Schutzmasken und Labormaterial an, der allen Mitgliedsstaaten zur Verfügung steht. Das gesamteuropäische Hilfspaket kommt. Wenn das Geld – auch unter dem Einfluss der Deutschen – jetzt klug verteilt wird, wenn Populisten in die Schranken gewiesen werden, dann könnte der Zusammenhalt Europas tatsächlich über die Corona-Krise hinaus gestärkt werden.
- Bundesregierung: Programm der Bundesregierung für die EU-Ratspräsidentschaft
- Mit Material von Reuters