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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Nach der Brexit-Lähmung Die EU steht vor einem grundsätzlichen Problem
2019 steckte die EU unverhältnismäßig viel Energie und Arbeitskraft in den Brexit. Das muss sich in diesem Jahr ändern. Es stehen andere wegweisende Entscheidungen an.
Am Freitag ist es endgültig soweit: Die Briten treten offiziell aus der EU aus. In nur elf Monaten will der britische Premierminister Boris Johnson nun die zukünftigen wirtschaftlichen Beziehungen mit der EU neu regeln. Kaum ein Experte – weder in Brüssel noch in London – glaubt ernsthaft daran, dass das in allen Details bis Ende 2020 möglich ist. Die Verhandlungen zum umfassenden Freihandelsabkommen der EU mit Kanada haben immerhin rund sieben Jahre gedauert.
Johnson jedoch hat mehrfach und sogar per Gesetz ausgeschlossen, dass die Übergangsfrist über 2020 hinaus verlängert wird. Kommt es zu keiner Einigung, droht am Ende doch ein harter Brexit ohne wirtschaftliche und politische Vereinbarungen und mit erheblichen Handelsbarrieren zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich.
Es stehen hochintensive Monate an, in denen beide Seiten versuchen werden, das Maximum für sich herauszuholen. Das ist problematisch für die EU, denn es ist außerordentlich, was sie sich – ab Juli unter deutschem Ratsvorsitz – für 2020 alles vorgenommen hat. Es stehen grundsätzliche Entscheidungen an, die die Zukunft des Staatenverbunds auf Jahre hinaus bestimmen werden und die von den Brexit-Verhandlungen nicht überdeckt werden dürfen.
Eine Auswahl:
- ein neuer EU-Haushalt für sieben Jahre soll erstellt werden
- das Klimaschutzprogramm "European Green Deal" muss konkretisiert werden
- das Demokratie-Versprechen "Aufbruch für Europa" muss erfüllt werden
- ein neuer Verteidigungsfonds soll beschlossen werden
- das Dauerproblem Migration muss bewältigt werden
- die angespannten Handelsbeziehungen zu den USA müssen verbessert werden
- Fragen der EU-Erweiterung – vor allem auf dem Westbalkan – müssen gelöst werden
Das sind die mehr oder weniger konkreten Aufgaben. Doch die EU steht vor einem umfassenderen und grundsätzlicheren Problem: Sie muss – im Zuge des Brexits – deutlich machen, warum sie unverzichtbar und für die verbleibenden Mitgliedsstaaten alternativlos und vor allem vorteilhaft ist. Sie muss sich fit für die Zukunft machen, um nicht von weltpolitischen Entwicklungen überrollt und ins Abseits gedrängt zu werden.
Was die EU dabei gar nicht gebrauchen kann: Ein endloses Finanzgefeilsche bei den Verhandlungen über den nächsten EU-Haushalt. Es geht dabei darum, wie viel Deutschland und die übrigen Staaten in die EU-Kasse einzahlen und was mit den Milliardensummen gefördert oder bezahlt wird. Das führte in der Vergangenheit regelmäßig zu teilweise erbittertem Streit und beschädigte das Ansehen der EU – nicht nur in Großbritannien.
Johnson darf die EU nicht vor sich hertreiben
In den Verhandlungen mit den Briten muss die EU eine gesunde Balance finden. Selbstverständlich soll das Vereinigte Königreich ein wichtiger Partner bleiben. Es ist auch nachvollziehbar, dass die Briten eine möglichst kurze Übergangsphase anstreben, denn sie müssen sich in dieser Zeit zwar an alle EU-Regeln halten und zahlen in den EU-Haushalt ein, dürfen in Brüssel aber nicht mehr mitreden. Sie haben keine Vertretung mehr in der EU-Kommission, bei Ministerräten, bei EU-Gipfeln oder im EU-Parlament.
Doch es darf nicht dazu kommen, dass Johnson und seine Minister die EU vor sich hertreiben. Egal, ob die Briten mit einem harten Brexit oder mit einem umfassenden Handelsabkommen mit den USA drohen: Die EU darf nicht aus Angst vor einem Ausstieg ohne Abkommen ihre Grundsätze über Bord werfen. Es ist schließlich nicht die EU, die den Zeitrahmen für die Verhandlungen so eng gesetzt hat, sondern Johnson.
Und – auch wenn die Briten das vielleicht anders sehen: Der Brexit ist gerade nicht der einzige und auch nicht der wichtigste Punkt auf der EU-Agenda 2020. Die Briten waren einer von 28 EU-Staaten – wenn auch ein wichtiger. Das bedeutet aber nicht, dass die EU ohne Großbritannien nicht existieren kann.
Nach der Übergangsphase darf Großbritannien den verbleibenden 27 Mitgliedsstaaten nicht in weiten Teilen gleichgestellt sein. Der EU-Austritt muss für die Briten spürbare Folgen haben und die Vorteile einer EU-Mitgliedschaft verdeutlichen – ansonsten macht sich die EU selber überflüssig.
- eigene Recherche
- mit Material der Nachrichtenagenturen dpa, Reuters