Stimmenfang in Brüssel Von der Leyen zwischen den Fronten
Am Dienstag entscheiden die Europa-Abgeordneten über die Zukunft Ursula von der Leyens. Der Weg dorthin ist mehr als steinig – und wird zum verzweifelten Balanceakt.
Unermüdlich kämpft Ursula von der Leyen dieser Tage in Brüssel. Fast täglich versucht die CDU-Politikerin, die Abgeordneten des Europaparlaments von sich zu überzeugen. Am Ende dieser Woche stehen dennoch zwei Absagen. Zwei weitere Fraktionen halten sich ihre Zustimmung offen. Folgt die Verteidigungsministerin am 1. November dem Luxemburger Jean-Claude Juncker an der Spitze der mächtigen EU-Kommission?
Die nötige Mehrheit im Europaparlament ist ihr längst nicht sicher. "Das kann ganz schön knapp werden", sagt der EU-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Nicolai von Ondarza. Dabei hat von der Leyen bereits bei fast allen Fraktionen für sich geworben. Sie hat Entgegenkommen beim Klimaschutz gezeigt und einen Mindestlohn in jedem EU-Staat in Aussicht gestellt. Sie hat mehr Demokratie in der EU versprochen und auf Geschlechter-Parität in der nächsten Kommission gepocht.
Und doch fällen gerade Linke und Grüne ein vernichtendes Urteil: "Es war ein schlechter Tag für ihre Kandidatur", sagt Sven Giegold von den Grünen. Die Linken-Politikerin Özlem Alev Demirel nennt den Auftritt "mehr als ernüchternd".
Mehrheitssuche zeigt Sinn des Spitzenkandidatenmodells
Aber ist es überhaupt realistisch, Abgeordnete vom ganz linken bis zum weit rechten Spektrum hinter sich zu versammeln? Von der Leyen hat versucht, auf Tuchfühlung mit den Parlamentariern zu gehen. Den Großteil der vergangenen Woche hat sie im Labyrinth des Brüsseler Parlamentsgebäudes verbracht. Und sie hat in den Fraktionen erstmals ein europapolitisches Programm skizziert.
Spätestens in diesen Anhörungen zeigte sich die Sinnhaftigkeit des Spitzenkandidaten-Modells, das das Parlament vor fünf Jahren ersonnen hat. Der CSU-Politiker Manfred Weber oder auch der niederländische Sozialdemokrat Frans Timmermans hatten ihre Parteienfamilien in den Wahlkampf geführt. Ihre Positionen zu Klimaschutz, Mindestlohn oder Migration sind bekannt. Allerdings konnten beide keine Mehrheit hinter sich versammeln – weder im Parlament, noch im Rat der Staats- und Regierungschefs. Deshalb schlug letzterer von der Leyen als Überraschungskandidatin vor. Allein: Wofür die Deutsche steht, wissen Italiener, Zyprioten, Bulgaren oder Schweden nicht. Doch von der Leyen ist auf ihre Stimmen angewiesen.
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"Die Fraktionen treten bislang mit Maximalforderungen an Frau von der Leyen heran und zeigen wenig Bereitschaft, auf Kompromissangebote einzugehen", sagt Politikwissenschaftler von Ondarza. "Wir sind an einem Punkt, an dem sie maximalen Druck ausüben wollen." Dabei habe von der Leyen sich mit ihren Angeboten zur CO2-Reduktion bis 2030 oder einem Mindestlohn in jedem EU-Land bereits deutlich von den Positionen ihrer christdemokratischen Parteienfamilie entfernt. Gleichzeitig darf sie ihre Parteikollegen nicht verprellen.
Hypothetische Fragen beantwortet von der Leyen nicht
Auch SPD-Europapolitikerin Katarina Barley, die die Wahl von der Leyens bisher strikt ablehnt, erkennt das an. Von der Leyen könne sich inhaltlich derzeit nicht allzuweit aus dem Fenster lehnen, sagt sie. "Sie muss irgendwo im Wagen bleiben." Wie gering ihr Spielraum ist, wurde bei einer Frage zur ungarischen Regierungspartei Fidesz deutlich. Ob sie dem Ausschluss der rechtsnationalen Partei aus ihrer Parteienfamilie EVP zustimmen würde? "Hypothetische Fragen beantworte ich grundsätzlich nicht", antwortete von der Leyen.
Nach dieser Woche des Balanceakts ist das Ergebnis offen. Für die Wahl braucht von der Leyen bei der geheimen Abstimmung am Dienstag die absolute Mehrheit der derzeit 747 Abgeordneten – also 374 Stimmen. Ihre eigene Parteienfamilie kommt auf 182 Sitze. Die Sozialdemokraten haben 153 Abgeordnete und die Liberalen 108. Zusammen sind das gut 440. "Das heißt, sie kann sich 70 Abweichler erlauben", sagt von Ondarza. Die 16 deutschen Sozialdemokraten halten von der Leyen für unwählbar. Auch andere Delegationen bei den Sozialdemokraten haben Vorbehalte. Selbst CSU-Politiker und EVP-Fraktionschef Weber ist sich der Mehrheit nicht sicher. Dem Handelsblatt sagte er lediglich, die Chancen stünden gut.
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Zumindest muss von der Leyen nach der Absage von Grünen und Linken nicht mehr versuchen, allen gerecht zu werden. "Sie weiß jetzt, auf wen sie sich konzentrieren muss", sagt von Ondarza. Dadurch bestehe jedoch auch das Risiko, auf die Stimmen der rechter EU-Gegner angewiesen zu sein. "Dann würde sie mit einer großen Hypothek ins Amt starten."
- Nachrichtenagentur dpa