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Ukraine in die EU? So blockiert Viktor Orbán den Beitritt


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Konfrontation beim EU-Gipfel
Das wird Orbán nicht verhindern können


Aktualisiert am 14.12.2023Lesedauer: 5 Min.
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Der ungarische Regierungschef in Buenos Aires: Viktor Orbán will als einziger den EU-Beitritt der Ukraine blockieren. (Quelle: Fernando Gens)

Der ungarische Ministerpräsident will auf dem EU-Gipfel den Beitrittsprozess der Ukraine stoppen. Doch warum? Das steckt hinter Orbáns Blockadehaltung.

Mehr oder weniger zufällig trafen sie doch aufeinander: der ungarische Premierminister, Viktor Orbán, und der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskyj – am Rande der Amtseinführung des neu gewählten argentinischen Präsidenten Javier Milei am Sonntag in Buenos Aires.

Videos und Fotos belegen, dass die beiden Politiker miteinander sprachen. Worüber genau? Das ist nicht bekannt. Selenskyj sagte nach der Unterredung lediglich, er habe so "offen wie möglich" mit dem ungarischen Regierungschef gesprochen. In ukrainischen Medien wird berichtet, es sei ein "emotionales Gespräch" gewesen.

Die beiden werden ziemlich sicher über den angestrebten EU-Beitritt der Ukraine geredet haben, den Orbán beim EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag mit seinem Veto verhindern will. Schon mehrmals hat sich Orbán in den vergangenen Wochen gegen Beitrittsgespräche ausgesprochen.

Zwei Briefe hatte Orbán nach Brüssel geschickt. Seine Botschaft ist klar: Er droht mit einem "Scheitern" des Gipfels, sollte die EU nicht auf ihr Ziel verzichten, Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine zu eröffnen. "Der offensichtliche Mangel an Konsens würde unweigerlich zu einem Scheitern führen", schreibt Orbán.

Der EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag droht zu einem Fiasko zu werden, wenn sich die Staats- und Regierungschefs nicht einigen. Alle sind sich einig – ausgenommen nur der Bewohner des Karmeliterklosters, Amtssitz des ungarischen Ministerpräsidenten. Aber im Europäischen Rat braucht es Einstimmigkeit für die Entscheidung. Es droht Zerrissenheit nach innen, fehlende Unterstützung für die kriegsgebeutelte Ukraine nach außen.

Von einem drohenden Versagen der EU spricht die ukrainische Vizeregierungschefin Olha Stefanischyna.

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell sagte: "Ich hoffe, dass Europas Einheit nicht zerbricht."

Allen Beteiligten außer Orbán scheint klar zu sein, was auf dem Spiel steht. Doch was treibt den ungarischen Rechtspopulisten an? Orbán hat drei Motive, warum er den Beitritt blockieren will.

Motiv 1: Korruption in der Ukraine

Zuallererst hält der Rechtspopulist die Ukraine für ein ungeeignetes EU-Mitglied. "Die Ukraine ist eines der korruptesten Länder der Welt", sagte Orbán vergangene Woche der französischen Zeitschrift "Le Point", ein EU-Beitritt sei ausgeschlossen. Dabei hat die Ukraine laut EU-Kommission bereits bedeutende Reformen eingeleitet, die das Land demokratischer machen und den Rechtsstaat stärken sollen.

Selenskyj entlässt konsequent Vertraute in Regierung und Militär, sobald Korruptionsvorwürfe aufkommen. So entließ der Präsident im August sämtliche Leiter regionaler Rekrutierungsbüros, weil sie bestechlich gewesen sein sollen. 112 Verfahren wurden eingeleitet.

Allerdings ist das Problem größer: Die Nichtregierungsorganisation Transparency International, die sich weltweit gegen Korruption einsetzt, sieht die Ukraine auf Platz 116 von 180. Den Platz teilt sich die Ukraine mit den Philippinen und Sambia. Nur um einen Platz ist das Land im Ranking von 2021 auf 2022 gestiegen. Und das, obwohl der Anti-Korruptions-Wert auf dem besten Wert seit zehn Jahren ist. Transparency International misst die Bestechlichkeit von Politik und Verwaltung. Dafür befragen sie Experten und Führungskräfte.

EU-Beitritt muss sich für Ungarn "lohnen"

Vier von sieben Forderungen sind aus Brüsseler Sicht bereits erfüllt. Dazu zählen mehr Rechte für Minderheiten (insbesondere für die ungarische Minderheit im Westen der Ukraine), eine Reform des Justizsystems und die Bekämpfung von Geldwäsche. Nur wegen der Verbesserungen ist die Kommission bereit, Verhandlungen über einen Beitritt zu beginnen.

An den Reformen zweifelt die ungarische Regierung. "Die Analyse oder Einschätzung der Europäischen Kommission, dass die Ukraine bereits vier von sieben Vorbedingungen erfüllt habe, ist schlichtweg eine Lüge", sagte der ungarische Außenminister Péter Szijjártó am Montag nach dem Treffen der EU-Außenminister, darüber berichtete "Ungarn heute". Wie er zu der Aussage kommt, sagte Szijjártó allerdings nicht. Er forderte die EU-Kommission auf, nur dann den Beitritt der Ukraine zu forcieren, "wenn der Vorschlag bereits sicherstellt, dass es sich um einen für beide Seiten vorteilhaften Prozess handelt".

Aus Budapester Sicht muss sich der EU-Beitritt also "lohnen", die Ukraine bekommt nichts geschenkt.

Motiv 2: Die EU-Milliarden

Der Vorwurf der Korruption ist heikel. Ungarn ist aus Brüsseler Sicht nämlich selbst korrupt. Orbán hat das mitteleuropäische Land zu einem feudalen Wirtschaftssystem umgebaut, in dem Freunde und Wegbereiter des Populisten Fördergelder bekommen.

Ein Beispiel: Orbáns Kindheitsfreund, der gelernte Gasinstallateur Lőrinc Mészáros, ist mittlerweile der reichste Mann Ungarns. Mészáros ist im Baugewerbe tätig, bekommt seit Jahren lukrative Aufträge. "Die Baufirmen von Mészáros, auf die öffentliche Aufträge zugeschnitten wurden, profitierten massiv von EU-Geldern beim Gebäude-, Straßen- und Eisenbahnbau", sagte Miklós Ligeti, juristischer Vorstand von Transparency International Ungarn, dem Sender n-tv. Das meiste Material für die Bauprojekte stammt übrigens von Orbáns Vater, dem Steinbrüche in dem Land gehören.

Im Anti-Korruptions-Index von Transparency steht Ungarn selbst auf Platz 77. Seit Jahren rutscht das Land immer weiter in die Korruption ab. Zum Vergleich: Deutschland liegt auf dem neunten Rang.

EU-Kommission gibt zehn Milliarden Euro frei

Die EU hat deshalb 22 Milliarden Euro, die über verschiedene Töpfe nach Budapest fließen sollen, gesperrt. Nun fürchten Experten, Orbán setze sein Veto als Druckmittel ein, getreu dem Motto: "Entweder ihr zahlt mir Geld oder ich blockiere den Ukraine-Beitritt". Mehr dazu lesen Sie hier.

Der Orbán'sche Erpressungsversuch scheint zu wirken. Am Mittwochabend gab die EU-Kommission zehn Milliarden Euro frei. Die Kommission begründet das mit einer Justizreform, die die Unabhängigkeit der ungarischen Richter sicherstellen soll.

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Kritik kommt aus dem Europaparlament. "Kein Cent europäischer Gelder darf an ein Land gehen, das die EU als Geisel hält", schrieb die liberale belgische Abgeordnete Hilde Vautmans auf X (vormals Twitter). Am Mittwoch schrieben die Fraktionsspitzen der vier größten Fraktionen im Europaparlament – EVP, Sozialdemokraten, Liberale und Grüne – einen Brief an von der Leyen, in dem sie die geplante Auszahlung an Ungarn kritisierten.

Die Milliardenauszahlung bezeichnet der Osteuropa-Historiker Martin Schulze Wessel im Gespräch mit t-online als Fehler. Die EU müsse Orbán mit aller Härte begegnen und ihre Interessen klar vertreten. "Er erpresst die Europäische Union, um Vorteile zu erlangen", sagt Schulze Wessel. "Mit seinem Konzept von illiberaler Demokratie steht er außerhalb der EU."

Martin Schulze Wessel: Der Forscher ist Experte für die Geschichte Osteuropas.
Martin Schulze Wessel: Der Forscher ist Experte für die Geschichte Osteuropas. (Quelle: privat)

Martin Schulze Wessel

ist seit 2003 Professor für die Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine Schwerpunkte sind Religionsgeschichte und die Geschichte der Imperien. Er ist unter anderem Autor eines Buchs über Russlands imperiale Vergangenheit.

Motiv 3: Nähe zu Putin

Orbán ist der einzige europäische Regierungschef, der noch Kontakte nach Moskau pflegt. Seinetwegen gab es keinen generellen Importstopp für Öl, Ungarn erhielt eine Ausnahme und bezieht weiter Öl über die Druschba-Pipeline. Im Frühjahr handelte Budapest neue Gas-Deals mit Russland aus, Rosatom baut in Ungarn ein neues Atomkraftwerk. "Orbán steht als illiberaler, nicht-demokratischer Politiker auf der Seite Putins in diesem Krieg", sagt Osteuropa-Experte Schulze Wessel. "Seine Politik leistet Putin Vorschub."

Im Oktober kam es sogar zum Aufeinandertreffen der beiden Machthaber: In Peking sprachen Putin und Orbán miteinander, für ein Foto schüttelten sie einander demonstrativ die Hände – das erste Treffen eines europäischen Regierungschefs mit dem Kreml-Machthaber seit Kriegsbeginn.

Putin sprach von einer "Genugtuung", dass es trotz der Spannungen mit dem Westen noch Länder in Europa gebe, die weiter Kontakt hielten. "Orbáns Anbiederung an den Kriegsverbrecher Putin ist eine Schande für die EU", sagte Katarina Barley, Vizepräsidentin des Europaparlaments, dem "Spiegel". Orbáns Konfrontationen "klingen so, als würde er Befehle aus dem Kreml befolgen", sagte der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund zu "Politico".

Am Donnerstag und Freitag liegt es nun an den übrigen Staats- und Regierungschefs, ihre Forderungen klarzumachen. Immerhin werde Orbán den Weg zum Ukraine-Beitritt nicht aufhalten können, ist sich Osteuropa-Historiker Schulze Wessel sicher: "Orbán wird den Termin hinauszögern, aber nicht verhindern können."

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