Abgasskandal Dieselklagen: Spielen die Konzerne auf Zeit?
Die Mühlen der Justiz mahlen langsam. Diese Erfahrung machen auch viele Autofahrer, die den Hersteller ihres Diesels wegen zu hohen Abgasausstoßes verklagt haben. Die Konzerne wollen Ansprüche der Verbraucher abschmettern lassen.
Die Unsicherheit für Hunderttausende Dieselfahrer hält an: Mehr als vier Jahre nach dem Beginn der Abgaskrise gibt es in vielen Prozessen nach wie vor keine Klarheit, ob die Kunden Aussicht auf Schadenersatz haben. Ein Flickenteppich verschiedener Urteile und Einschätzungen einzelner Gerichte erschwert eine einheitliche Chancenbewertung für die Kläger. Auch beim ersten Musterverfahren zeichnet sich noch kein Ergebnis ab. Zudem herrschen unterschiedliche Auffassungen darüber, wann mögliche Ansprüche von Verbrauchern verjähren – und wie Fälle im Ausland einzustufen sind.
Musterfestellungsklage bislang ohne Vergleich: VW lehnte ab
Am Braunschweiger Oberlandesgericht (OLG) werden 444.000 gebündelte Klagen mit dem neuen Instrument der Musterfeststellungsklage verhandelt. Der Vorsitzende Richter Michael Neef warb schon für einen Vergleich zwischen VW und dem Bundesverband der Verbraucherzentralen. Bisher lehnt der Konzern dies wegen mangelnder Vergleichbarkeit der Einzelfälle offiziell als "kaum vorstellbar" ab. 2020 geht es weiter.
Sammelverfahren oder Einzelklagen?
Weil einige Anwälte die Chancen des Sammelverfahrens für nicht mehr so groß halten, versuchen sie, Mandanten für Einzelklagen abzuwerben: Am ersten Verhandlungstag in Braunschweig verteilten besonders geschäftstüchtige Dienstleister Visitenkarten und lobten "Prämien" für wechselwillige Kläger aus. Gleichzeitig läuft eine große Zahl von Verfahren an Amts-, Landes- und Oberlandesgerichten im ganzen Land.
Bislang räumt nur VW Fehlverhalten ein
Volkswagen meldet zum Jahreswechsel bundesweit rund 60.000 anhängige Klagen. Daneben gibt es mittlerweile 50.000 Urteile. Die Aufdeckung von Manipulationen der Abgas-Software hatte im September 2015 den Anfang von "Dieselgate" markiert; VW ist der einzige Autobauer, der – bezogen auf den US-Markt – Fehlverhalten einräumte. Weltweit betrifft die Affäre rund elf Millionen Konzernfahrzeuge.
Nach Firmenangaben fielen mehr als 210 Urteile auf OLG-Ebene "weit überwiegend" im Sinne von VW aus. In der Regel wurde den Kunden dann kein umfangreicher Schadenersatz oder neuer Wagen zugesprochen. Es gibt aber einige Fälle, in denen Richter Letzteres entschieden. Vom Musterverfahren meldeten sich laut VW 70.000 Kläger wieder ab.
In manchen Prozessen zeigte sich das Unternehmen kompromissbereit, wenn die Befassung einer hohen Instanz drohte – man möchte keine Grundsatzentscheidungen heraufbeschwören, die zum Maßstab für andere werden könnten. Etliche solcher Fälle wurden per Vergleich abgeräumt. Dennoch schafften es einige zum Bundesgerichtshof (BGH), hier steht die Verhandlung des ersten Falles am 5. Mai an. Das Landgericht Frankenthal in Rheinland-Pfalz hat den Europäischen Gerichtshof (EuGH) um die Einschätzung eines Falles bei Daimler gebeten.
Rechtskosten, die VW verbucht, fließen überwiegend ins Ausland
Ein Großteil der Rechtskosten von über 30 Milliarden Euro, die VW verbucht oder mit Rücklagen abgesichert hat, fließt in internationale Verfahren. Der größte Batzen war in den USA fällig, wo man sich mit Regierung, Behörden, Kunden und Händlern nach einer Schuldanerkennung verglich. In Kanada klagte die Regierung Volkswagen im Dezember wegen Verstößen gegen Umwelt- und Importgesetze an, die Verbraucher erhielten mehr als zwei Milliarden kanadische Dollar (1,36 Mrd Euro). In Australien wurden Strafen von 125 Millionen australischen Dollar (77,5 Mio Euro) verhängt, hier hatte es auch Sammelklagen gegeben.
100.000 Menschen beteiligten sich in den Niederlanden an einer Klage gegen VW sowie die Töchter Audi, Seat und Skoda. In Großbritannien gibt es ebenfalls ein Sammelverfahren, auch hier sind es rund 100.000 Teilnehmer. In Österreich ging ein Musterprozess per Klageabweisung zu Ende, es laufen aber weitere Verfahren mit 16.500 Anmeldungen und 620 Einzelklagen. Die Stiftung für Konsumentenschutz in der Schweiz reichte 2017 Verbandsklage gegen VW ein, das Zürcher Handelsgericht wies diese ab. In Spanien betrifft eine Sammelklage 6.000 Fahrzeuge.
Wie sieht es bei den anderen Autobauern aus?
Auch Daimler muss sich mit Abgas-Vorwürfen auseinandersetzen. Ein zentraler Streitpunkt hier: sogenannte Temperaturfenster, innerhalb derer die Reinigung zur Schonung von Motorbauteilen heruntergefahren werden darf. Weil es dabei rechtliche Grauzonen gibt, klagen Kunden. Bisher gibt es nach Auskunft des Konzerns 25 OLG-Urteile, die allesamt zugunsten von Daimler ausfielen. Hinzu kommen auf der Ebene der Landgerichte 1046 Klageabweisungen. In 65 Fällen bekam der Kunde Recht – das Unternehmen geht in Berufung. Zur Gesamtsumme der Klagen macht Daimler keine Angaben, es dürften einige Tausend sein.
Gegen BMW zogen bisher 383 Dieselkunden vor Gericht. 148 Verfahren entschied der Autobauer nach eigenen Angaben für sich, in 21 Fällen bestätigte auch ein OLG das Urteil einer tieferen Instanz. Man habe bis heute keine einzige Klage verloren. Nach Ansicht von BMW sind die Verfahren "nicht erfolgversprechend", weil Vorwürfe aus Fällen gegen Wettbewerber oft pauschal übernommen würden. Opel und Ford sowie die VW-Töchter Audi und Porsche nannten keine eigenen Zahlen.
Verjährungsfrist ist umstritten
Umstritten bleibt in vielen Fällen, wie lange die Kläger überhaupt noch Schadenersatzansprüche geltend machen können. Eine Frist zur Verjährung für Besitzer von Dieseln mit dem VW-Motor EA 189 sollte ursprünglich zum 31. Dezember 2017 greifen, einige Gerichte hielten – je nach Fall – Ende 2018 oder 2019 für möglich. Beim Musterverfahren warfen Verbraucherschützer VW außerdem vor, dieses in die Länge zu ziehen, um den Restwert der oft schon alten Fahrzeuge zu drücken.
Juristisch dürfte die Aufarbeitung des Abgasskandals noch auf Jahre Gerichte in mehreren Ländern beschäftigen. Politisch bleibt das Thema ähnlich heikel. Fährt das Bundesverkehrsministerium einen Kuschelkurs gegenüber den Autobauern? Weitere Rückrufbescheide etwa an Daimler, VW oder Audi im abgelaufenen Jahr legen zumindest nahe, dass das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) inzwischen genauer hinzuschauen scheint.
Gemessen am Umwelt- und Gesundheitsschutz ist das Bild bestenfalls gemischt. Die Konzentration giftiger Stickoxide sinkt vielerorts. Andererseits betonte das Umweltbundesamt, dass auch einige Diesel der moderneren Euro-6-Schadstoffklassen im Betrieb auf der Straße durch "deutlich erhöhte Emissionen" auffallen. Wagen der neuesten Norm Euro-6d TEMP verhielten sich regelkonform – ein Fortschritt immerhin.
- Nachrichtenagentur dpa