Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Rotes Haar, mehr Schmerz Brauchen Rothaarige eine Extraportion Narkose?

Rothaarige brauchen angeblich mehr Betäubungsmittel – beim Zahnarzt und im OP. Aber stimmt das wirklich? Ein Fall für die Wissenschaft.
Rothaarige hatten es noch nie leicht. Früher wurde rotes Haar oft mit dem Teufel und übernatürlichen Kräften in Verbindung gebracht. In manchen Kulturen galt es traditionell als Zeichen von Unglück.
Und auch heute müssen sich Rothaarige mit allerlei Klischees herumschlagen. Es heißt, sie seien temperamentvoll, eigensinnig – und angeblich auch schwer zu betäuben. Beim Zahnarzt soll die Spritze nicht richtig wirken, in der Narkose wachen sie angeblich mitten in der OP auf.
Doch was ist dran an diesen Behauptungen? Ist es nur ein hartnäckiger Mythos oder steckt mehr dahinter? Müssen Rothaarige wirklich eine Extraportion Schmerzmittel bekommen? Die Wissenschaft hat sich der Frage angenommen – und das Ergebnis überrascht.
Höherer Anästhesiebedarf – Mythos oder Wissenschaft?
Lange Zeit wurde unter Ärzten auf der ganzen Welt gemunkelt: Rothaarige scheinen schwerer in Narkose zu legen zu sein. Insbesondere Ärzte aus dem operativen Bereich, der Anästhesie und Schmerztherapie neigten dazu, bei Menschen mit roten Haaren (insbesondere bei Frauen) Schwierigkeiten während der Therapie zu erwarten. Dann kam die Wissenschaft und bestätigte das – zumindest teilweise.
Eine Studie aus den USA zeigte, dass Rothaarige tatsächlich einen um 19 Prozent höheren Bedarf an Desfluran (einem Inhalationsnarkotikum) haben als Dunkelhaarige. Die Forscher testeten an freiwilligen Probandinnen, wie viel Narkosegas nötig war, um eine Schmerzreaktion zu unterdrücken. Und tatsächlich: Bei den Rothaarigen brauchte es mehr.
Auch eine weitere Untersuchung ergab, dass Lokalanästhetika wie Lidocain bei Rothaarigen weniger wirksam sind. Ein Zahnarztbesuch oder kleinere Operationen könnten also für sie unangenehmer sein – wenn nicht ausreichend nachdosiert wird.
Andere Schmerzmittel wie Opioide (zum Beispiel Morphin, Pentazocin) wirkten überraschenderweise bei Rothaarigen sogar stärker als bei Probanden mit dunklen Haaren. Besonders Pentazocin (ein spezielles Opioid) zeigt bei rothaarigen Frauen eine verstärkte analgetische, also schmerzstillende Wirkung.
Warum das so sein könnte: Die genetische Ursache
Der Schlüssel zum Rätsel wird im Melanocortin-1-Rezeptor (MC1R) vermutet. Dieses Gen ist verantwortlich für die Produktion des Pigments Phäomelanin, das Rothaarige von Natur aus haben. Gleichzeitig hat es aber auch einen Einfluss auf andere biologische Prozesse – darunter die Schmerz- und Stressverarbeitung.
Forscher vermuten, dass eine Mutation dieses Gens dazu führt, dass Schmerzreize anders verarbeitet werden. Das könnte erklären, warum manche Schmerzmittel schlechter wirken oder eine höhere Dosis notwendig ist. Aber nicht nur die Biologie spielt eine Rolle – auch die Psyche.
Psychologische Faktoren: Angst und Schmerzempfinden
Eine Studie zur Zahnarztangst brachte eine weitere interessante Entdeckung ans Licht: Rothaarige gehen seltener zum Zahnarzt als Dunkelhaarige. Warum? Weil sie laut den Untersuchungen mehr Angst vor Zahnschmerzen haben.
Doch nicht nur das: Wissenschaftler fanden heraus, dass Rothaarige empfindlicher auf Hitze- und Kältereize reagieren. Ihre Schmerzschwelle bei Kälte liegt deutlich höher als bei Dunkelhaarigen. Und auch Hitzeschmerz nehmen sie früher wahr.
Das bedeutet aber nicht zwangsläufig, dass sie insgesamt schmerzempfindlicher sind. Vielmehr zeigt es, dass ihr Körper Schmerz anders verarbeitet. Und das kann sich auch auf die Wirkung von Betäubungsmitteln auswirken.
Gibt es Kritik? Was sagen Fachärzte?
Die Annahme, dass Rothaarige grundsätzlich schwerer zu betäuben sind, ist nicht unumstritten. Eine australische Studie aus dem Jahr 2012, bei der 468 Patienten untersucht wurden, fand keine Unterschiede im Narkosebedarf zwischen Rothaarigen und anderen Haarfarben. Auch in Bezug auf Schmerzreaktionen oder Erholungszeiten nach der OP gab es keine signifikanten Abweichungen.
Zudem gibt es keine einheitliche Empfehlung für Ärzte, Rothaarige grundsätzlich anders zu behandeln. Experten raten daher zu einer individuellen Anpassung der Dosis, anstatt pauschal von einem erhöhten Risiko auszugehen.
Fazit: Brauchen Rothaarige wirklich mehr Schmerzmittel?
Die Antwort ist nicht schwarz oder weiß – sondern liegt irgendwo dazwischen.
- Ja, Rothaarige können eine höhere Dosis bei bestimmten Anästhesiemitteln benötigen – insbesondere bei Inhalationsnarkosen und Lokalanästhetika.
- Ja, ihr Schmerzempfinden ist in manchen Bereichen anders, besonders bei Kälte und Hitze.
- Nein, sie sind nicht generell schwieriger zu betäuben oder haben ein höheres Risiko für Komplikationen.
Für Forscher der Anästhesiologie und Intensivmediziner der GFO Kliniken Rhein-Berg ist die verallgemeinernde Warnung vor besonderen Risiken bei rothaarigen Patientinnen auf Basis einer dürftigen Datenlage nicht haltbar.
Es gebe keinen klaren Beweis dafür, dass rothaarige Menschen, besonders Frauen, bei Narkosen oder Schmerzbehandlungen anfälliger für Komplikationen seien. Neuere Studien legten nahe, dass es keinen direkten Zusammenhang zwischen roten Haaren und einem höheren medizinischen Risiko gebe, so die Forscher.
Was bedeutet das für den Alltag? Rothaarige müssen keine Angst haben, dass die Narkose nicht wirkt – aber es schadet nicht, den Arzt oder Zahnarzt darauf hinzuweisen. Und wer nach einer OP stärkere Schmerzmittel bekommt, könnte vielleicht mit einer etwas niedrigeren Dosis genauso gut zurechtkommen.
Rothaarige Menschen müssen mit vielen Mythen leben – manche schmeichelhaft, andere nervig oder schlichtweg Unsinn. In Wahrheit sind sie so vielfältig wie alle anderen auch – nur eben mit einer besonders seltenen Haarfarbe.
- National Center for Biotechnology Information: "Anesthetic Requirement is Increased in Redheads" (Englisch)
- Aus der Klinik für Anästhesiologie und Operative Intensivmedizin der Universität zu Köln von Agnes Elisabeth Ameis: "Stellen rothaarige Patienten ein besonderes Risiko in Anästhesie und Schmerztherapie dar"
- Meuser T, Ameis A, Lehmann KA: "Haben Patienten mit roten Haaren ein höheres Risiko für Komplikationen in Anästhesie und Schmerztherapie? Eine kritische Auswertung der Literatur"
- zahnaerzte-phoenixsee.de: "Zahnarzt für Rothaarige: doppelte Anästhesie? Mythen und Facts"